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Epidemiologie: Auf den Spuren des Geldes

Krankheitserreger kennen keine Grenzen. Durch die wachsende Mobilität der Menschheit breiten sich moderne Seuchen immer schneller weltweit aus. Um das Risiko verheerender Pandemien besser abzuschätzen, setzten Max-Planck-Forscher - auf den schnöden Mammon.
Auf den Spuren des Geldes
Unsere globalisierte Welt mit intensivem internationalen Handel, wachsender Mobilität und hoher Verkehrsintensität zeigt eine Schattenseite: Seuchen, die als weltweite Pandemien verheerende gesundheitliche und ökonomische Konsequenzen nach sich ziehen. Nicht grundlos sorgten die Vogelgrippe, die Entstehung eines neuartigen menschlichen Grippe-"Supervirus" und eine potenziell mögliche Grippe-Pandemie in den letzten Wochen und Monaten für Schlagzeilen.

Als Ursache für die geografische Ausbreitung zahlreicher infektiöser Krankheiten gilt die Bewegung infizierter Individuen von Ort zu Ort. Historische Pandemien, wie die Pest im 14. Jahrhundert, sind nur langsam als Wellenfront über weite geografische Gebiete vorgedrungen, da die Menschen im Mittelalter typischerweise nur einige Kilometer pro Tag reisen konnten und damit die Ausbreitungsgeschwindigkeit von Seuchen begrenzten. Die Pest brauchte damals etwa drei Jahre, um den europäischen Kontinent von Süden nach Norden mit einer mittleren Geschwindigkeit von etwa zwei Kilometer pro Tag zu durchqueren.

Heute jedoch legen Menschen in kurzen Zeiträumen auch große Entfernungen zurück. Viele Wissenschaftler befürchten daher, dass sich kommende Pandemien nach anderen Gesetzen und sehr viel schneller ausbreiten, wie bereits das Beispiel von Sars (severe acute respiratory syndrome) gezeigt hat.

Um die Ausbreitung moderner Seuchen in mathematischen Modellen zu beschreiben und Vorhersagekonzepte zu entwickeln, brauchen die Forscher eine genaue Kenntnis des Reiseverhaltens auf allen Entfernungsskalen. Leider ist es bisher jedoch nicht gelungen, die charakteristischen Eigenschaften dieser Bewegungsströme zu quantifizieren. Das ist auch nicht weiter verwunderlich, da heutzutage Menschen die verschiedensten Verkehrsmittel verwenden können: Kurze bis mittlere Entfernungen werden mit Fahrrad, Auto und Bahn zurückgelegt, lange Reisen typischerweise per Flugzeug unternommen. Um umfassende Bewegungsdaten zu erheben, müssten all diese Verkehrsströme landesweit und international über längere Zeiträume gemessen und zusammengefasst werden. Das erscheint kaum möglich.

Geldbewegung | Die Bewegung von Geldnoten in den USA: Jede Linie symbolisiert die geografische Reise eines einzelnen Geldscheins zwischen Anfangsort (Seattle: blau; New York: gelb) und verschiedenen Zielorten. Jede Banknote war weniger als eine Woche unterwegs.
Die theoretischen Physiker Dirk Brockmann, Lars Hufnagel und Theo Geisel versuchten nun, diese Schwierigkeiten zu umgehen: Statt der Bewegung einzelner Menschen untersuchten die Forscher die geografische Zirkulation von Geldscheinen, die Reisende von Ort zu Ort transportieren. Dazu analysierten die Physiker Daten eines amerikanischen Bill-Tracking Internetspiels.

Die Idee dieses Spiels ist denkbar einfach: Eine große Anzahl von Geldnoten wird markiert und in Umlauf gebracht. Bekommt man eine markierte Banknote, so kann man sich online registrieren, in einem Bericht seinen momentanen Aufenthaltsort angeben und die Dollarnote wieder in Umlauf bringen. Diese Internetseite ist mittlerweile so populär, dass schon etwa 50 Millionen individuelle Geldscheine registriert sind.

"Wir haben erkannt, dass wir durch die enorme Datenfülle und die hohe geografische und zeitliche Auflösung des Bill-Trackings genaue Rückschlüsse auf die statistischen Eigenschaften des Reiseverhaltens ziehen können – und zwar unabhängig von den benutzten Verkehrsmitteln", erklärt Dirk Brockmann vom Göttinger Max-Planck-Instituts für Dynamik und Selbstorganisation. "Wir hofften auf diesem Weg indirekt und mit hoher Präzision die typischen Eigenschaften des Reiseverhaltens zu ermitteln."

Diese Hoffnung hat sich mehr als bestätigt. Die Wissenschaftler entdeckten in den Bewegungsdaten universelle Skalierungsgesetze, die dem menschlichen Reiseverhalten zugrunde liegen. Ähnliche Skalierungsgesetze kannten die Forscher bereits aus anderen physikalischen und biologischen Systemen, wie turbulenten Strömungen und chaotischen Systemen. "Das Besondere an diesen Skalierungsgesetzen ist die Tatsache, dass sie durch nur zwei universelle Parameter festgelegt sind. Dieses Ergebnis hat uns alle überrascht", ergänzt Lars Hufnagel von der Universität von Kalifornien in Santa Barbara.

Bis heute basieren zahlreiche Modelle zur Ausbreitung von Seuchen auf der Annahme, dass sich Krankheitserreger geografisch diffusiv verteilen, ähnlich feinster Staubpartikel auf einer Wasseroberfläche. Diese Standardmodelle konnten zwar sehr erfolgreich die wellenförmige Ausbreitung historischer Pandemien beschreiben. Die Untersuchungen der Göttinger Wissenschaftler belegen nun, dass diese Standardmodelle für moderne Seuchen nicht mehr anwendbar sind. "Die Konsequenz unserer Untersuchungen ist, dass zur Beschreibung der geografischen Ausbreitung moderner Seuchen neuartige theoretische Konzepte entwickelt werden müssen", folgert Brockmann.

Auf der Basis dieser Analyse konnten die Physiker eine mathematische Theorie des menschlichen Reiseverhaltens aufstellen, deren Vorhersagen mit den gemessen Skalierungsgesetzen in einem Entfernungsbereich von einigen Kilometern bis einigen tausend Kilometern genau übereinstimmt. Da für viele Krankheitserreger die Mechanismen der Ansteckung von Mensch zu Mensch bereits gut verstanden sind, können nun nach Ansicht der Forscher konkrete Modelle untersucht werden, mit denen sich die globale Seuchenausbreitung realistisch berechnen und beschreiben lässt.

"Wir sind optimistisch", so hofft Theo Geisel, "dass dies die Vorhersage der geografischen Ausbreitung von Epidemien entscheidend verbessern wird."

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