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Genetik: Aufbauender Bruch

Nicht immer läuft alles glatt, wenn bei der Zellteilung die Chromosomen schön gleichmäßig verteilt werden: Chromosomenbrüche gehören zu den verheerendsten Mutationen mit meist tödlichem Ausgang. Doch sie treten längst nicht so wahllos auf wie bisher vermutet und scheinen bei der Evolution der Säugetiere durchaus förderlich gewesen sein.
Evolution Highway
46 Chromosomen sitzen bekanntlich in (fast) jeder menschlichen Zelle. Teilt sich die Zelle, dann gilt es, diese Erbfäden zunächst zu verdoppeln und anschließend beide Hälften gerecht auf die Tochterzellen zu verteilen. Meist geht das gut – doch mitunter läuft auch etwas schief.

Karyogramm des Menschen | Auf 46 Chromosomen liegt das Erbgut des Menschen; 23 stammen vom Vater und 23 von der Mutter.
Denn es kann durchaus schon mal vorkommen, dass bei dem Prozedere ein Stückchen eines Chromosoms abbricht. Dem Bruchstück fehlt in der Regel das Zentromer, also die Ansatzstelle, an der die beiden Chromosomenhälften auseinander gezogen werden. Es bleibt daher liegen und geht schließlich verloren. Diese Deletion und die dadurch verursachte Einbuße wertvoller Gene überleben nur die wenigsten Zellen.

Mitunter werden die Bruchstücke auch wieder eingefangen und umgekehrt oder verdoppelt wieder eingebaut. Solche Inversionen und Duplikationen haben ebenfalls fast immer fatale Konsequenzen. Auch eine Translokation, bei der sich das Bruchstück an ein anderes Chromosom heftet, endet häufig tödlich.

Chromosomenmutationen gehören somit zum Schicksal des Lebens, die Krankheit und Tod verursachen. So gilt als sicher, dass viele Krebsleiden auf Chromosomenbrüche zurückzuführen sind. Zufällige Ereignisse, wie radioaktive Strahlung oder mutagene Chemikalien, lösen die fatalen Brüche aus, und so sollte man annehmen, dass die Bruchstellen genauso zufällig verteilt auftreten.

Säugetiere | Vier der acht Säugerarten, deren Erbgut den Forschern zur Verfügung stand: Wanderrate (Rattus norvegicus), Hausrind (Bos taurus), Hauskatze (Felis catus) und Haushund (Canis familiaris)
Doch tun sie das wirklich? Die Aufklärung des Erbguts von Mensch, Maus und Co gibt die Gelegenheit, hier etwas genauer hinzuschauen. Diese Chance ließen sich die Forscher um William Murphy von der texanischen A&M-Universität und Harris Lewin von der Universität von Illinois in Urbana nicht entgehen. In einer wahren Fleißarbeit durchforsteten sie die Genkarten von Pferd, Rind, Schwein, Hund, Katze, Maus und Ratte nach häufigen Bruchstellen und verglichen sie mit dem bekannten menschlichen Erbgut.

Dabei zeigte sich, dass die Chromosomenbrüche durchaus nicht so wahllos auftreten wie angenommen: Insgesamt 1159 Bruchstellen konnten die Forscher aufspüren, die beim Menschen und bei fast allen untersuchten Tierarten in ähnlichen Regionen zu finden waren. Mittels Computeranalysen konnten die Forscher abschätzen, wann diese Sollbruchstellen vermutlich aufgetreten sind.

Ein Teil dieser Brüche, und zwar 492 Stück, könnten bei der Evolution der Säugetiere eine wichtige Rolle gespielt haben. Denn die Neudurchmischung des Erbguts öffnet – neben den fast immer schädlichen Auswirkungen – auch neue Chancen, um sich an veränderte Umweltbedingungen anzupassen. So vermuten die Genetiker, dass 40 Brüche, die sie nur beim Menschen nachweisen konnten, vor etwa 85 Millionen Jahren enstanden sind, als sich Primaten von den Nagetieren trennten.

Eine regelrechte Bruchexplosion muss vor 65 Millionen Jahren aufgetreten sein: Während zuvor nach Schätzungen der Forscher etwa 0,1 bis 0,4 Chromosomenbrüche pro Million Jahre auftraten, verdoppelte bis vervierfachte sich plötzlich die Rate, bei den Nagern verfünffachte sie sich sogar.

Was war geschehen? Vermutlich stattete damals ein Asteroid der Erde einen kurzen, aber heftigen Besuch ab und setzte der Herrschaft der Dinosaurier ein dramatisches Ende. Die Kreidezeit und damit das Erdmittelalter trat ab, mit dem Tertiär begann die Erdneuzeit – die Zeit der Säuger. Die zuvor im verborgenen dahinvegetierenden Säugetiere nutzten die frei werdenden Nischen, sodass sich explosionsartig neue Arten etablierten. Neue Chromosomenarrangements – ausgelöst durch einen Bruch hie und da – mögen hier eine helfende Hand im Spiel gehabt haben.

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