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Sexualaufklärung: Mit Kindern über Sex reden - aber wie?

Bienchen und Blümchen, das war einmal. Heute wollen Eltern offen mit ihren Kindern über Sexualität sprechen. Doch viele tun sich schwer, den richtigen Zeitpunkt und die richtigen Worte zu finden.
Mutter und kleine Tochter auf der Veranda im Gespräch.

»Mama, kann man Sex auch mit dem Ohr machen?« Das kleine Mädchen schaut hoch zu seiner Mutter, die beiden stehen an der Bushaltestelle. Während die Mutter nun mit sich ringt, wartet die Tochter gespannt auf die Aufklärung, genauso wie eine Hand voll Fremder, die mit ihnen auf den Bus warten.

Dem eigenen Kind Fragen rund um das Thema Sexualität zu beantworten, fällt vielen Eltern schwer. Es bedeutet immer auch, sich mit der eigenen Sexualität auseinanderzusetzen. Dazu kommt die Unsicherheit: Wann ist der richtige Zeitpunkt, mit den Kindern darüber zu sprechen? Und die Frage nach den richtigen Begriffen. Wie bezeichnet man als Mutter oder Vater die Geschlechtsteile? Medizinisch korrekt, verniedlichend oder umgangssprachlich?

Mit der Frage nach der Herkunft der kleinen Geschwister beginnt oft das Interesse der Kinder am Thema Sexualität. »Das ist ein guter Zeitpunkt, eine gemütliche Atmosphäre zu schaffen und mit Feingefühl auf die Frage einzugehen«, rät Fabienne Becker-Stoll, Direktorin des Staatsinstituts für Frühpädagogik in München. Hilfreich bei der Aufklärung sind Kinderbücher, die Bildmaterial zum Thema liefern. »Eine wichtige Botschaft an die Kinder ist: Deine Fragen sind berechtigt und kein Tabu«, sagt die Psychologin. Mit den Eltern über Sexualität und den eigenen Körper sprechen zu können, schaffe eine Vertrauensbasis, die sich auf die weitere Entwicklung des Kindes positiv auswirkt.

»Genauso selbstverständlich wie Arme, Beine und Füße sollten die Eltern auch die Begriffe für Penis, Hoden und Vagina benutzen«Fabienne Becker-Stoll, Psychologin und Direktorin am Staatsinstitut für Frühpädagogik

Die Benennung der Geschlechtsteile sollte laut Fabienne Becker-Stoll von Anfang an Teil der Kommunikation mit den Kindern sein. Wenn die Eltern ihre Säuglinge an- und ausziehen, waschen und eincremen, beschreiben sie dem Kind in der Regel, was sie tun. »Genauso selbstverständlich wie Arme, Beine und Füße sollten die Eltern auch die Begriffe für Penis und Hoden, Scheide oder Vagina benutzen«, erläutert Becker-Stoll.

Wenn Eltern mit ihren Kindern über Sexualität sprechen, ist es vor allem wichtig, dass sie sich mit den Begriffen wohlfühlen. »Innerhalb einer Familie können auch Kosenamen für die Geschlechtsteile verwendet werden«, sagt Becker-Stoll. Das sei legitim, solange die Kinder die offiziellen, medizinischen Begriffe auch kennen würden. So wie klar ist, dass der Wauwau offiziell als Hund bezeichnet wird, können Eltern ihren Kindern vermitteln: »Wir sagen Mumu, die Erwachsenen sagen aber auch Vagina.«

Aufklärung bis ins Detail

Ab etwa dem dritten Lebensjahr beginnen Kinder, Geschlechter zu unterscheiden, und werden sich damit auch ihrer eigenen Geschlechtszugehörigkeit bewusst. In Kinderbüchern über den eigenen Körper sollte der Genitalbereich dementsprechend vorkommen. »Sonst entsteht kein stimmiges Körpergefühl, und es ist schwieriger eine Identität aufzubauen«, sagt der Sexualtherapeut und Sozialpädagoge Carsten Müller.

Er hat ein Kinder-Bilderbuch zum Thema Sexualität geschrieben. Es ist eines der wenigen auf dem Markt, das Geschlechtsteile wie die Vulva mit den Vulvalippen und der Klitoris zeigt und benennt. Müller plädiert, dass auch kleine Kinder die detaillierte Bezeichnung der Geschlechtsteile kennen sollten. »Genauso wie wir eine Hand beschreiben mit Daumen, Zeigefinger, Fingernagel und Fingerkuppen, sollten wir auch alle Teile der Vulva beziehungsweise des Penis benennen«, empfiehlt Carsten Müller.

Serie »Die Entdeckung der Lust«

Doktorspiele im Kindergarten, der erste Sex frühestens mit 18: So stellen sich viele Eltern das Liebesleben ihrer Kinder vor. Doch tatsächlich beginnt die Lust am eigenen Körper schon früher. Was Erwachsene über die Sexualentwicklung wissen sollten und wie sie mit ihren Kindern darüber sprechen können, erklärt »Spektrum.de« in den folgenden Beiträgen.

  1. Selbstbefriedigung: Wie Kinder ihren Körper erkunden
  2. Sexualaufklärung: Mit Kindern über Sex reden – aber wie?
  3. Sex in der Pubertät: Wie Jugendliche ihr erstes Mal erleben

    Auch Katharina von der Gathen hat ein Bilderbuch geschrieben, »Klär mich auf«. Darin beantwortet sie Kinderfragen rund um Sex und Sexualorgane, zum Beispiel warum die Scheide auch »Muschi« genannt wird. Seit mehr als zehn Jahren geht die Sonderschul- und Sexualpädagogin an Grundschulen und macht dort sexualpädagogische Projekte. Sie selbst benutzt im Unterricht Begriffe wie Vulva, Penis und »Sex haben«. Aber nicht jede Formulierung sei geeignet; mit manchen würden die Erwachsenen ihre Kinder eher verwirren. »Miteinander schlafen, zum Beispiel. Was sagt einem Kind das schon? Im Schlaf passiert ja meist nicht so viel«, erklärt von der Gathen.

    »Wenn ein Kind alt genug ist, eine bestimmte Frage zu stellen, dann ist es in der Regel auch reif genug, die Antwort zu hören«Katharina von der Gathen, Sexualpädagogin

    Katharina von der Gathen hat beobachtet, dass Eltern häufig Angst haben, ihre Kinder mit zu vielen Details zu überfordern. Die Sexualpädagogin sagt: »Eltern haben in der Regel ein gutes Gefühl dafür, was kindgerecht und altersgemäß ist.« Generell gelte: Wenn ein Kind alt genug ist, eine bestimmte Frage zu stellen, dann ist es in der Regel auch reif genug, eine Antwort darauf zu hören. Entscheidend sei aber eben, dass das Kind auf die Bereitschaft und das Angebot der Erwachsenen trifft, über dieses Thema wie über jedes andere auch zu sprechen. »Gerade bei kleinen Kindern gilt es, die Fragen abzuwarten«, rät Katharina von der Gathen. »Das ist wichtig für die Selbstbestimmung des Kindes.« Die Fragen werden kommen; Kinder sind in diesem Alter ziemlich neugierig.

    Das berüchtigte Aufklärungsgespräch am Küchentisch ist also nicht nötig, solange die Eltern die Fragen der Kinder ernst nehmen, sie nicht mit »Dafür bist du noch zu jung« abspeisen und sich mit den Antworten Mühe geben. Doch was, wenn den Eltern das Thema selbst unangenehm ist?

    Carsten Müller empfiehlt: üben. Wie bei einer Fremdsprache können Eltern die Vokabeln und deren Aussprache lernen. Zunächst sollten sie sich untereinander auf Begriffe einigen und auf natürliche Weise über das Thema sprechen. Wenn sie eine gemeinsame Sprache gefunden haben, wird es auch leichter, Sexualität zu thematisieren. So verlieren sie nach und nach die Scheu vor den Begriffen.

    Bei alledem ist es wichtig, dass Eltern sich ihrer eigenen Grenzen bewusst werden. Etwa bei der eingangs geschilderten Frage an der Bushaltestelle: »In einer solchen Situation ist es als Elternteil legitim zu sagen: Du, diese Frage beantworte ich dir gleich, wenn wir zu Hause sind«, sagt von der Gathen. Wichtig sei jedoch, dieses Versprechen nicht über den Nachhauseweg einfach zu »vergessen«, um sich vor der Herausforderung zu drücken. Und Carsten Müller rät Eltern, offen zuzugeben, wenn Sexualität kein einfaches Thema ist. »Man kann beispielsweise sagen: Ich beantworte dir deine Frage jetzt, so gut ich kann, aber du kannst gern noch mal in der Schule nachfragen, wenn dir meine Antwort nicht reicht.«

    Die erste Aufklärung kommt oft nicht von den Eltern

    Zu Katharina von der Gathens Arbeit an den Grundschulen gehört auch ein Elternabend. »Häufig erlebe ich eine große Erleichterung, dass jemand mit Erfahrung in die Schule kommt und den Eltern das Thema abnimmt«, berichtet von der Gathen. Hin und wieder schlägt ihr allerdings auch große Skepsis entgegen. Die Eltern wären der Meinung, ihre Kinder seien noch zu jung für dieses Thema.

    Tatsächlich gaben Eltern in einer Befragung jedoch an, dass Kinder im Schnitt ab dem vierten Lebensjahr Fragen zum Thema Geburt und Zeugung stellen. Wie die Studie aus dem Jahr 2004 unter Kindern zwischen zwei und sechs Jahren zeigte, wusste die große Mehrheit der Kinder in diesem Alter nichts darüber, wie Babys gezeugt werden.

    Dies ändert sich anscheinend, wenn die Kinder in die Schule kommen. Befragungen unter Grundschülerinnen und Grundschülern zeigen, dass diese schon recht viel über Sexualität wissen. Dabei nennen sie als Wissensquelle die Schule und Medien – noch vor dem Elternhaus.

    Doch häufig bringt das Kind nicht nur Sachwissen mit nach Hause. Wie sollten Eltern damit umgehen, wenn das Kind plötzlich Ausdrücke wie Schlappschwanz oder Fotze benutzt? »Kleine Kinder finden Wörter ganz besonders interessant, wenn sie in ihrem Umfeld etwas auslösen«, sagt Fabienne Becker-Stoll vom Staatsinstitut für frühkindliche Pädagogik. Wenn Kinder merken, dass sie ihre Eltern schocken können oder dass ein Wort besonders interessant klingt, dann hätten sie einen riesigen Spaß daran.

    »Wenn die Kinder in Bezug auf ihre Genitalien, auf ihre Sexualität, sprachlos groß werden, dann können sie auch nicht erzählen, wenn unangenehme Dinge damit passieren«Carsten Müller, Sexualtherapeut

    Die Psychologin empfiehlt, die Kinder zunächst zu fragen, ob sie wüssten, was das Wort bedeutet. »Dann ist es wichtig, den Kindern zu erklären, was eine Fotze ist, und auch klarzumachen, warum das Wort beleidigen kann«, sagt Becker-Stoll. Im nächsten Schritt könnten sich Kinder und Eltern dann gemeinsam auf Begriffe einigen. »Was wollen wir hier zu Hause sagen und was nicht? Damit kann eine Familie ein gemeinsames Vorgehen beschließen«, sagt Becker-Stoll.

    Carsten Müller hält es für eine vertane Chance, dass Eltern bei der Aufklärung verglichen mit Schule und Medien eine eher untergeordnete Rolle spielen. »Wenn ich als Vater die Fragen meiner Kinder beantworte, dann habe ich einen Einfluss auf deren Vorstellung von Partnerschaft, Liebe und Sexualität«, sagt Müller. Und damit die Möglichkeit, das Thema positiv zu besetzen, die eigenen Werte zu vermitteln, die Kinder auf eine gute Weise zu prägen. »Wenn ich die Frage meines Kindes nicht beantworte, dann ist sie ja nicht einfach weg. Dann wird diese Frage jemand anderes beantworten, und darauf habe ich dann keinen Einfluss mehr«, sagt Müller.

    Sexualkunde beugt vielen Übeln vor

    Lange drehte sich die Forschung zur sexuellen Aufklärung vor allem darum, ob sich damit Teenager-Schwangerschaften und sexuell übertragbaren Krankheiten vorbeugen lässt. Eine Übersichtsarbeit, die 80 wissenschaftliche Arbeiten zu den Folgen von Sexualkundeunterricht in der Schule analysierte, fand weitere positive Auswirkungen. Laut der Studie minderte sexuelle Aufklärung Homophobie und homophobes Mobbing, förderte das Verständnis von Gender-Diversität sowie die Voraussetzungen für gesunde Beziehungen. Die Aufklärung trug außerdem dazu bei, sexuellem Kindesmissbrauch vorzubeugen und Gewalt in Beziehungen zu vermeiden.

    Carsten Müller betont in diesem Zusammenhang nochmals die Bedeutung der Sprache. »Gerade für die Prävention von sexueller Gewalt ist es wichtig, dass die Kinder über ihren Körper sprechen können«, sagt der Sexualtherapeut. »Wenn die Kinder in Bezug auf ihre Genitalien, auf ihre Sexualität, sprachlos groß werden, dann können sie auch nicht erzählen, wenn unangenehme Dinge damit passieren«, sagt Müller. Berührt eine fremde Person ihre Genitalien, können sie einer Vertrauensperson leichter davon berichten, wenn die Wörter Penis und Vulva für sie kein Tabu sind, sondern so normal wie Hand und Fuß.

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