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Vermutungen: Aufräumen unter den Primzahlen

Wie viele Primzahlen gibt es, und welche Regelmäßigkeiten stecken in ihnen? In den letzten Jahren publizierten Mathematiker einige bahnbrechende Erkenntnisse. Und vielleicht knacken sie bald auch die riemannsche Vermutung.
Zufällig ausgewählte Zahlen

Christian Goldbach hatte Recht – zumindest zum Teil. Der Sekretär der Petersburger Akademie der Wissenschaften und Professor für Mathematik hatte am 7. Juni 1742 an seinen Kollegen und Freund Leonard Euler geschrieben: »Es scheint wenigstens, dass eine jede Zahl, die größer ist als 1, ein aggregatum trium numerorum primorum sey.« Modern ausgedrückt: Jede Zahl soll als Summe von drei Primzahlen darstellbar sein. Euler erinnerte wenige Wochen später Goldbach daran, er habe doch schon mal vermutet, gerade Zahlen könne man aus zwei Primzahlen zusammensetzen: »[Das] halte ich für ein ganz gewisses theorema, ungeachtet ich dasselbe nicht demonstriren kann.«

Heute wird als starke Goldbachvermutung gehandelt, dass alle geraden Zahlen größer als 2 Summe von zwei Primzahlen seien. Für ungerade Zahlen ist diese Aussage offensichtlich falsch: Wenn zwei Primzahlen in der Summe eine ungerade Zahl ergeben sollen, dann muss genau eine der beiden Primzahlen gerade sein, was nur auf die 2 zutrifft. Schon bei der Zahl 11 funktioniert dies nicht mehr, denn sie ist die Summe aus 2 und 9 – Letztere ist aber keine Primzahl. Die schwache Goldbachvermutung lautet dagegen: Alle ungeraden Zahlen größer als 5 seien die Summe von drei Primzahlen, weswegen man sie auch als »ternäre« Goldbachvermutung bezeichnet. Insgesamt kann man folgern, dass die schwache aus der starken Vermutung folgt. Und inzwischen wurden sie wohl auch bewiesen: Am 13. Mai 2013 veröffentlichte Harald Andrés Helfgott, ein Zahlentheoretiker ersten Ranges an der Pariser École Normale Supérieure, seine Antwort an Goldbach: »Die vorliegende Arbeit beweist die ternäre Goldbachvermutung.« Helfgotts Ergebnis kam für die Fachwelt nicht überraschend: Seit Jahren gilt er als ausgewiesener Experte für die Mathematik rund um die Goldbachvermutung.

3-D-Darstellung der Ulam-Spirale | Diese Darstellung visualisiert die Ulam-Spirale in 3-D: Die goldenen Blöcke repräsentieren Primzahlen, die anderen Blöcke sind keine Primzahlen und liegen umso tiefer, je mehr Primteiler sie besitzen.

Doch Helfgotts Ergebnis war nicht der einzige Grund für Zahlentheoretiker, in diesen Wochen das Sektglas zu heben. Am selben Tag, als Helfgott seine letzten Beweise im Internet hochlud, hielt ein eher unbekannter Kollege von ihm einen Vortrag an der Harvard University. Yitang Zhang von der University of New Hampshire in Durham soll einige Jahre als Bedienung in Fastfood-Restaurants gearbeitet haben, um sich zu finanzieren. Nun aber behauptete er, bei einer Frage bedeutend weitergekommen zu sein, die mindestens genauso alt ist wie die Goldbachvermutung: Wie viele Paare von Primzahlen gibt es, die einen Abstand von 2 haben, so wie 17 und 19? Zhangs Antwort: Keine Ahnung – aber es existieren jedenfalls unendlich viele Primzahlpaare, die einen Abstand von nicht mehr als 70 Millionen haben. Auf den ersten Blick klingt das Ergebnis unspektakulär, doch Zahlentheoretiker sind begeistert: Zhangs Resultat ist seit Jahrzehnten die erste wesentliche Aussage über die Anzahl von Primzahlpärchen.

Das inspirierte den Fields-Medaillisten Terence Tao dazu, ein kooperatives Projekt zu starten, um Zhangs Ergebnis weiter zu verbessern. So gelang es Mathematikern inzwischen zu zeigen, dass es unendlich viele Primzahlpaare mit einem Abstand von weniger als 246 gibt.

Eine Flut an Ergebnissen

Wie kommt es, dass in den letzten Jahren in der Zahlentheorie anscheinend ein großes Problem nach dem anderen geknackt wird? Schließlich stehen die Ergebnisse von Helfgott und Zhang nicht allein da: Im August 2012 hat Shinichi Mochizuki, Zahlentheoretiker an der Universität Kyoto, eine Reihe von Arbeiten online gestellt, die vielleicht die Lösung für die so genannte ABC-Vermutung enthalten. In der vereinfachten Version lautet diese Vermutung: Wenn zwei Zahlen a und b in Summe eine Zahl c ergeben und a und b keine gemeinsamen Primfaktoren enthalten, dann hat auch c nicht allzu viele Primfaktoren. Mochizuki zeigte in einem 1000-seitigen Beweis – der passagenweise sogar fast an Poesie erinnert –, dass diese Vermutung stimmt. Allerdings muss sein Ergebnis noch mit Vorsicht betrachtet werden: Zwei führende Mathematiker haben erste Zweifel an der Richtigkeit seiner Argumente geäußert. Schon 2004 haben die beiden Zahlentheoretiker Terence Tao und Ben Green bewiesen, dass es in den Primzahlen beliebig lange Teilfolgen gibt, deren Elemente feste Abstände voneinander haben – so genannte arithmetische Folgen. Und ebenfalls Tao gelang es 2012, eine weiter abgeschwächte Version der Goldbachvermutung zu beweisen: Jede ungerade Zahl größer 1 ist die Summe von höchstens fünf Primzahlen.

Nebenbei werden laufend neue größte bekannte Primzahlen gefunden, zum Beispiel in der Great Internet Mersenne Prime Search, einem privaten Forschungsprojekt, in das derzeit weltweit fast 800 000 private, Universitäts- und Firmenrechner eingebunden sind. Es hat zum Ziel, Primzahlen der Form 2p-1 zu suchen, die nach dem französischen Mönch und Mathematiker Marin Mersenne (1588-1648) benannt sind. Die derzeit größte bekannte Mersenne-Primzahl vom Dezember 2018 hat über 24 Millionen Ziffern: die Zahl 282589933-1.

Dem Internet sei Dank

Es scheint also, als seien in den letzten 10 Jahren goldene Zeiten angebrochen in der Primzahlforschung. Tatsächlich beschleunigt das Internet den Fortschritt, glaubt zum Beispiel der Berliner Zahlentheoretiker Jürg Kramer. »Dass in letzter Zeit so viele Probleme gelöst werden, liegt zum einen an der enorm gewachsenen Zahl an Publikationen und Wissenschaftlern. Zum anderen sind deren Ergebnisse mit dem Internet heute sehr schnell verfügbar«, so Kramer. Und Mathematiker, oft als introvertiert und kommunikationsfeindlich verschrien, gelten als Vorreiter des offenen Zugangs zu Arbeiten: »Es ist Sitte, aktuelle Forschungsergebnisse im Internet verfügbar zu machen und zur Diskussion zu stellen, auf Universitätswebseiten oder offenen Servern«, so Kramer. So explodiere derzeit die Zahl der Arbeiten in der Mathematik im Allgemeinen und in der Zahlentheorie im Besonderen. Die aktuellen Ergebnisse in der analytischen Zahlentheorie sind nur die Spitze des Eisbergs.

Doch die Werkzeuge, deren sich Tao und Green, Zhang, Helfgott oder Mochizuki bedienen, sind höchst unterschiedlich. Helfgotts Arbeit zur Goldbachvermutung basiert wesentlich auf cleveren Verbesserungen eines klassischen Verfahrens aus den 1920er Jahren, der so genannten Kreismethode der britischen Zahlentheoretiker Godfrey Harold Hardy und John Edensor Littlewood, angereichert mit gehöriger Computerunterstützung, um eine Liste von Spezialfällen zu prüfen. Die Methode besteht im Wesentlichen darin, für jede ungerade Zahl die Anzahl der Möglichkeiten, sie als Summe dreier Primzahlen auszudrücken, als ein Integral darzustellen. So wie Tao und Green in ihrem Beweis der arithmetischen Folgen in den Primzahlen – an dem übrigens Helfgott auch beratend mitgearbeitet hat – hat auch der französische Mathematiker einige raffinierte Abschätzungen neu konstruiert.

Zhangs Arbeit dagegen – inzwischen in den renommierten »Annals of Mathematics« veröffentlicht – ist die Verfeinerung einer Arbeit von Mathematikern um Dan Goldston von der San José State University aus dem Jahr 2009. Die Kollegen hatten herausgefunden, dass, gleich wie weit man voranschreitet, immer wieder aufeinander folgende Primzahlen mit kleinen Abständen vorkommen müssen: Die kleinen Abstände werden dabei nicht beliebig groß. Dieses Ergebnis kreuzte Yitang Zhang mit einer Arbeit aus den 1960er Jahren, mit deren Hilfe man Fehler bei der Betrachtung der Abstände schätzen kann; Zhang verfeinerte diese Abschätzung beträchtlich. Mochizuki hingegen hat sogar etwas völlig Neues produziert: eine Theorie, die offenbar nicht nur die ABC-Vermutung knackt, sondern sich ganz allgemein zu einem riesigen Werkzeugkoffer für die Zahlentheorie entwickeln könnte. Das Ergebnis hätte konkrete Konsequenzen für die Erforschung algebraischer Kurven.

Inwieweit die neuen Vorschläge zum Beweis der Königin der Primzahlrätsel – der riemannschen Vermutung – beitragen, ist allerdings noch nicht klar. »Aber wie dem auch sei, ich werde es noch erleben, dass die Riemann-Vermutung gelöst wird«, vermutet jedenfalls der 56-jährige Zahlentheoretiker Jürg Kramer. Auch die Riemann-Vermutung steht in direktem Zusammenhang zu Primzahlen: Wäre sie bewiesen, dann wäre man einen großen Schritt weiter auf dem Weg zur Abschätzung, wie viele Primzahlen es bis zu einer gewissen Grenze gibt. Und es wären auf einen Schlag Hunderte weiterer Arbeiten komplett, die von der Riemann-Vermutung abhängen. Das wäre dann wirklich ein gewaltiger Grund zum Feiern.

(aktualisiert)

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