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Ovid: Aus für die Liebeskunst

Während Augustus das Sexleben seiner Römer reglementierte, feierte ein Dichter die Kunst kaum gezügelter Liebe. Das konnte nicht gutgehen. Und es ging auch nicht gut.
Mars und Venus mit Amor im Hintergrund

Tomis, am Schwarzen Meer, Anfang des Jahres 15 n. Chr.: Der Himmel ist grau und wolkenverhangen. Vom Meer her pfeift ein eisiger Nordostwind über die Gestade jenes Meeres, das schon die alten Griechen als äußerst »ungastlich« empfanden (die spätere Bezeichnung »Pontos Euxeinos«, gastliches Meer, ist eine euphemistische Umschreibung).

Seit fast sieben Jahren befindet er sich nunmehr in dieser quälenden Einöde. Hier, wo niemand lateinisch spricht, hier, am Ende der Welt, fernab jeder Zivilisation. Für ihn, Publius Ovidius Naso, kurz: Für Ovid, der das mondäne Leben Roms einst in vollen Zügen genoss, ist das Exil, Hunderte von Kilometer östlich der Tibermetropole, als ob er gesellschaftlich auf dem Abstellgleis steht.

Immer und immer wieder stellt er sich die gleiche Frage: Was in Jupiters Namen hatte seinen kaiserlichen Herrn Augustus bewogen, ihn, Roms Dichter der Lebenslust, in diese gottverlassene Gegend zu verbannen? Viel ist über die Gründe für die Exilierung Ovids gerätselt worden. Warum genau Augustus ihn ans Ende der Welt schickte, weiß heute niemand mehr. Und auch damals, im Jahr 8 n. Chr., dürften nur wenige den wahren Grund gekannt haben.

Ovid selbst äußerte sich dazu nur sehr vage. Es sei »ein Versehen, nicht ein Verbrechen« (errorem [...] non scelus) gewesen, mit dem er den »Zorn des beleidigten Herrschers erregte« (laesi principis ira). Womit er seinen kaiserlichen Herrn erzürnt haben könnte, schiebt er andeutungsweise hinterher: Es sei ein »Gedicht« (carmen) gewesen. Damit ist zweifelsohne die »Liebeskunst« (»Ars amatoria«) gemeint, ein für die damalige Zeit sehr freizügiges Werk, das in Rom für gewaltiges Aufsehen sorgte. Mehr hat man am »Versehen« herumgerätselt. Auch hier gibt sich Ovid sehr zugeknöpft: Er habe etwas gesehen, was er nicht hätte sehen dürfen, und büße nun dafür.

Auch wenn die genauen Gründe für immer im Dunkel der Geschichte verborgen bleiben, eines lässt sich mit Gewissheit sagen: Ovids Schicksal war eng mit der Erneuerungspolitik des Kaisers verbunden. Nach Beendigung der Bürgerkriege (87-31 v. Chr.) etablierte Augustus in Rom eine neue politische Ordnung im Gewand der alten, einen politischen Systemwechsel, der in den Geschichtsbüchern als Übergang von der Republik zur Kaiserzeit firmiert.

Spross einer neuen Zeit

Publius Ovidius Naso war ein Kind dieses Übergangs. 43 v. Chr. – ein Jahr nach der Ermordung Cäsars – in Sulmo, einem kleinen Abruzzendorf rund 150 Kilometer östlich von Rom als Sohn eines römischen Ritters geboren, hatte Ovid nie erfahren, was es heißt, in einer freien Republik zu leben. Und er hatte auch keine persönliche Erfahrung mit den Schrecken, die Generationen vor ihm in jahrzehntelangen zermürbenden und blutigen Bürgerkriegen durchmachen mussten: auf fremder Erde gegen Mitbürger zu kämpfen; Felder, die schon lange im Familienbesitz waren, an Fremde zu verlieren; zuzusehen, wie Städte niederbrannten. Ovid gehörte einer neuen Generation an, die in friedlichen Zeiten aufwuchs und die Segnungen der von Augustus garantierten Pax Romana in vollen Zügen genoss.

»Die Sitten der Väter sind nichts für mich«
Ovid

In die Tibermetropole kam er im Alter von 17 Jahren. Die Ämterlaufbahn, welche sein ehrgeiziger Vater für ihn arrangiert hatte, passte ihm überhaupt nicht – und schon gar nicht militärischer Drill. »Zu groß war jene Last für meine Kräfte. Weder war der Körper in der Lage noch der Geist geeignet, Mühen zu ertragen, und ich begab mich auf die Flucht vor dem in Unruhe versetzenden Ehrgeiz«, resümiert er rückblickend aus dem Exil. Zur Poesie berufen, entdeckte er schnell sein schriftstellerisches Talent, griff statt nach dem Schwert zur Feder und avancierte bald zu einem der meistgelesenen, aber auch unangepasstesten Dichter Roms.

Anders als Vergil oder Horaz, die sich mit ihrem literarischen Schaffen in den Dienst der augusteischen Erneuerungspolitik stellen, huldigt Ovid dem Grundsatz des L'art pour l'art. Er produziert Kunst um der Kunst willen, seine Dichtung ist uneigennützig und nicht »welthaltig«, wie es der Münchner klassische Philologe Niklas Holzberg formuliert.

Ovid ist in der Tat anders als viele seiner zeitgenössischen Dichterkollegen: Das Bejubeln martialischer Tugenden und die Verklärung der Vergangenheit Roms sind ihm ein Graus. Er, der sich weder um Frömmigkeit noch um Moral schert, möchte sich weder vor irgendeines Karren spannen noch sich in ein von oben verordnetes Normenkorsett pressen lassen. »Möge die Vergangenheit andere erfreuen, ich preise mich glücklich, jetzt erst zu leben, denn diese Zeit passt zu meiner Art«, schreibt Ovid. Denn, so der frivol-lebenslustige Literat einige Zeilen später: »Die Sitten der Väter sind nichts für mich.«

Ovid war sehr belesen, rhetorisch vorzüglich gebildet, besaß eine leichte Hand und erstaunliche Produktionskraft. Er widmet sich einem Genre, das um die Zeitenwende sehr beliebt war – der Liebeselegie. Dabei erwies sich der weltgewandte Poet als feiner Psychologe und glänzender Erzähler. Gleich mit seinem Erstlingswerk macht er sich einen Namen: Die »Amores« (»Liebeserfahrungen«, erschienen um 15 v. Chr.), die um die Liebesabenteuer eines jungen Dichters der römischen Boheme kreisen, handeln vorrangig von einer aufreizenden Dame namens Corinna, in die Ovid unsterblich verliebt war. Auch seine »Remedia amoris« (»Heilmittel gegen die Liebe«), eine Art Lehrbuch über Herz- und Seelenschmerz, oder sein »Gedicht über die Gesichtspflege«, ein Kosmetikratgeber für Roms Damenwelt, werden schnell zu Bestsellern.

Leichtigkeit, funkelnder Witz und augenzwinkernde Frivolität zeichnen diese Werke aus. Aber schon die respektlose Munterkeit, mit der er in den »Metamorphosen«, einer umfassenden Darstellung des griechisch-römischen Mythos, die Liebesabenteuer des Göttervaters Zeus/Jupiter schilderte oder die Geschichte des dreisten Spanners Aktäon erzählt, der die nackte Jagdgöttin Diana beim Baden begafft, ließen die staatlichen Zensurbehörden aufhorchen. Das genüssliche Zelebrieren von Liebesdingen passte so gar nicht ins Konzept des neuen starken Mannes in Rom: Octavian, der Adoptivsohn Cäsars und spätere Kaiser Augustus.

Der schöne Schein der Republik

Dieser schickte sich nach dem Sieg über seinen innenpolitischen Rivalen Mark Anton (31 v. Chr.) an, den durch Bürgerkrieg zerrütteten Staat neu zu ordnen. Nahezu 500 Jahre lang war das römische Gemeinwesen, die res publica Romana, von einem aristokratischen Herrschaftskollektiv regiert worden, das sich mittels jährlich wechselnder Beamter in einer Art Rotationsprinzip die Macht teilte. Augustus beendete dieses auf Konsens und Herrschaftsteilung basierende politische System von jeweils Gleichen, indem er eine Art monarchische Herrschaft schuf, in der er, als erster Mann im Staat (princeps), das alleinige Sagen hatte. Er war klug genug, dies nicht offen kundzutun, wie sein Adoptivvater Cäsar, sondern etablierte aus Rücksicht auf die traditionsbewussten Römer die neue politische Ordnung im Gewand der alten – als wiederhergestellte römische Republik (res publica restituta).

»Ich habe gesehen, was ich nicht hätte sehen dürfen« | Aktäon, der die Göttin Diana beim Baden überrascht, wird von ihr in einen Hirsch verwandelt und von seinen eigenen Hunden zerfleischt. Das Gemälde von Giuseppe Cesari, genannt Cavalier d'Arpino, ist von Ovids »Metamorphosen« inspiriert.

»Mit diesem politischen Systemwechsel«, so die britische Althistorikerin Mary Beard, »ist Augustus etwas in der Geschichte Einmaliges gelungen, nämlich eine Art Monarchie zu errichten und sie als Republik auszugeben.« Doch die Idee vom Prinzipat als Manifestation republikanischer Kontinuität musste legitimiert werden. Was lag da näher als ein Rückgriff auf die traditionellen Sitten und Gebräuchen der Vorfahren (mores maiorum), die seit alters her das Wertegerüst der Größe Roms und seiner herrschenden Klasse bildeten.

Drei-Kind-Politik

Altrömische Tugenden, wie pietas (Frömmigkeit) und religio (Ehrerbietung gegenüber den Göttern), wurden wieder aus der historischen Mottenkiste hervorgekramt. Augustus war fest entschlossen, Sitte und Anstand in Rom wiederherzustellen und die in den Bürgerkriegen eingerissene laxe Moral zu bekämpfen. Vor allem um die Ehe, jene altehrwürdige Institution, die das Fundament der römischen Gesellschaft bildete, machte sich der Kaiser Sorgen. Denn wenn es eine Ursache für den Sittenverfall in Rom gab, dann war es die »Pestilenz des Ehebruchs, die das anständige Heim durch Unzucht besudelt«, so Horaz.

»Vorehelichen Geschlechtsverkehr und Ehebruch unmittelbar nach dem größten Sexskandal Roms zu thematisieren, ja dazu zu animieren, dazu gehörte schon sehr viel Mut«
Caroline Vout

Im Jahr 18 v. Chr. wurden Nägel mit Köpfen gemacht, durch ein Gesetz, das darauf abzielte, die »ungezügelte Freizügigkeit« einzudämmen und das eheliche Verhalten der Römer zu reglementieren. Die Absicht, die dahintersteckte, war eindeutig: Die heroischen frühen Tage Roms, als Männer nur tugendhafte Matronen geheiratet und mit ihnen zum Wohl der Republik wehrhafte Bürger gezeugt hatten, sollten durch legislative Maßnahmen wiederbelebt werden. Mit dem Gesetz wurde die Ehepflicht für alle römischen Bürgerinnen und Bürger (Männer zwischen 25 und 60, Frauen zwischen 20 und 50 Jahren) eingeführt. Aus jeder Familie sollten mindestens drei Kinder hervorgehen.

Soziale Anreize sollten die Bürger dazu ermuntern, das staatliche Plansoll zu erfüllen. Im Idealfall winkten Privilegien: Wer drei Kinder in die Welt setzte, konnte sich vorzeitig auf einen Staatsposten bewerben, genoss Steuervorteile und durfte sich über einen Platz in der VIP-Lounge im Circus freuen. Als dies alles jedoch nicht so recht fruchtete, zog der Staat die Zügel an. Bald wurde ein weiteres Gesetz verabschiedet, das repressive Maßnahmen sanktionierte. Ehebruch wurde fortan mit schweren Strafen belegt, betrogene Ehemänner per Gesetz gezwungen, sich von ihren untreuen Ehefrauen zu trennen. Kinderlose Ehen sollen vorzeitig aufgelöst werden. Und wer Junggeselle blieb, durfte kein Erbe antreten. Damit hatte sich der römische Staat massiv in die Privatsphäre seiner Untertanen eingemischt. Ovid zeichnete das Bild von Augustus als einer Sonne, der nichts entging und deren Strahlen noch bis in die dunkelsten Schlafzimmer vordrangen, um selbst die vorsichtigsten Ehebrecher und ihre Geheimnisse zu durchleuchten. Big Brother is watching you.

Mochte Augustus seine Nase auch noch so tief in die Angelegenheiten seiner Mitbürger stecken, das sittsame Verhalten der Römer ließ sich weder mit Verboten noch mit Anreizen erzwingen. »Augustus' Ziel, mit seiner Sittengesetzgebung die Lufthoheit über den Ehebetten Roms zu gewinnen, war gescheitert«, konstatiert die amerikanische Althistorikerin Karen Klaiber Hersch.

Verbotene Früchte

Das sah zweifelsohne auch Ovid so, der den staatlichen Reglementierungen ohnehin nichts abgewinnen konnte. »Man kann einem Menschen noch so viele Einschränkungen auferlegen – der Geist bleibt rebellisch«, urteilt der »Lehrmeister in Liebesdingen« fast trotzig. Und schickte hinterher: Lust lässt sich nicht maßregeln.«

Ovid, der aus seiner freizügigen Einstellung zur Sexualität keinen Hehl machte, hatte ein sichtliches Vergnügen daran, die Prüderie seiner Landsleute aufs Korn zu nehmen. Mit genüsslicher Schadenfreude machte er sich über deren antiquierte Moralvorstellungen lustig. »Was müssen das für Landeier sein, die sich aufregen, wenn sie von ihrer Frau betrogen werden«, stellte der aufsässige Poet, immer mit dem Finger am Puls der High Society, mit versierter Lässigkeit fest. Die diversen Verbote und Risiken, denen man im Rahmen der Ehe- und Sittengesetze des Augustus begegnete, wirkten auf den Experten erotischer Vergnügungen weniger abschreckend als reizvoll und machten das Vergnügen nur noch prickelnder. »Wir streben immer zum Verbotenen und begehren, was uns untersagt ist.« Damit brachte Ovid eine ironische Wahrheit auf den Punkt. Am süßesten schmecken die verbotenen Früchte. »Glaubt mir, Verbote tun nichts weiter, als zu schlechtem Benehmen zu ermuntern.«

Dass bei all den Sticheleien dann auch Augustus selbst ins Visier des Spötters geriet, machte die Sache zum Politikum. Der erste Mann im Staat war ein notorischer Fremdgänger, zahlreiche Liebesaffären wurden ihm nachgesagt, sogar solche mit Ehefrauen von Freunden wie Maecenas. Insofern wäre Augustus selbst nach dem eigenen Gesetz straffällig geworden. Ganz abgesehen davon, dass er seine Ehe mit Livia, aus der keine Kinder hervorgingen, den eigenen Vorschriften nach hätte lösen müssen.

Tochter auf Abwegen

Doch so richtig peinlich wurde es für den Princeps, als ihn seine eigene Tochter Julia, sein einziges Kind aus der Verbindung mit seiner zweiten Frau Scribonia, durch ihre sexuellen Eskapaden vor aller Öffentlichkeit bloßstellte. Sie, deren Leben ganz wesentlich von den politischen Notwendigkeiten ihres Vaters bestimmt war – nämlich die dynastische Erbfolge zu sichern –, hatte sich ganz ungeniert mit mehreren Männern vergnügt.

War dies Ausdruck eines inneren Protests einer selbstbewussten Frau? Begehrte sie dagegen auf, wider ihr Naturell die ehrbare Mutterfigur zu spielen? »Gut möglich«, meint der Berner Althistoriker Stefan Rebenich: »Julia wurde zum Spielball von Augustus' dynastischen Plänen, in denen für persönliche Gefühle kein Platz war.« Zuerst mit Augustus' Neffen Marcellus verheiratet, dann, nach dessen Tod (23 v. Chr.), mit seinem wichtigsten Helfer Agrippa und nach dessen Ableben (12 v. Chr.) wiederum mit Tiberius, war Julia jahrelang dazu angehalten, als »Augustus' Gebärmaschine« für kaiserlichen Nachwuchs zu sorgen.

Dass sie es am Ende mit der ehelichen Treue nicht mehr so ernst nahm, ja mit ihrer Untreue geradezu kokettierte, könnte deshalb als Reaktion darauf verstanden werden, dass die lebenslustige Kaisertochter nicht mehr länger gewillt war, die ihr vom Vater zugedachte Rolle zu spielen.

Damit aber überschritt Julia eine rote Linie. Statt den Skandal unter den Teppich zu kehren, zerrte Augustus die schmutzige Affäre an die Öffentlichkeit. Julia galt als Ehebrecherin und zahlte den Preis, den ihr Vater per Gesetz festgelegt hatte: Verbannung auf eine Insel. Dort war Julia, »die unangefochtene Königin der römischen Schickeria«, bis an ihr Lebensende gezwungen, in einem Wirklichkeit gewordenen Albtraum der Enthaltsamkeit und Langeweile zu leben.

Augustus statuierte an seiner eigenen Tochter ein Exempel und offenbarte damit unmissverständlich, wie ernst es ihm mit der Einhaltung eines sittsamen Lebenswandels war: Wer sich seinen moralischen Vorgaben nicht unterordnen wollte, erfuhr unnachsichtige Ausgrenzung oder Bestrafung.

Antiker Erotikführer

Just in der Zeit von Julias Verbannung (2 v. Chr.) arbeitete der damals 40-Jährige an einem Projekt, das provokanter hätte nicht sein können – einem Ratgeber zur Liebeskunst (»Ars amatoria«). Darin werden jedoch nicht etwa Anleitungen für jungvermählte Paare zur Erfüllung ihrer ehelichen Pflichten vermittelt, sondern im Gegenteil, allerlei Tricks und Kniffe zum Besten gegeben, wie man eine ehrbare Matrone am geschicktesten zum Ehebruch verführen konnte.

Ovid plaudert freizügig über die erogenen Zonen der Frau und erteilt Ratschläge, wie das weibliche Geschlecht die Männerwelt zu betören weiß: »Lasst das Licht nicht durch die ganzen Fenster in das Schlafzimmer strömen, es ist viel anziehender, dass an euren Körpern manches verborgen bleibe.« Auch die verschiedenen Stellungen beim Sex spricht der Poet ungeniert an. Frauen mit etwas mehr Speck an Hüften und Bauch, so sein Tipp, sollten sich am besten von hinten beglücken lassen.

Bei aller Freizügigkeit und Laszivität, Ovid war kein Pornograf. Ein großer Teil seiner Liebeskunst befasst sich mit Psychologie und Körperpflege. Beispielsweise warnt er »vor dem widrigen Bocksgeruch in den Achselhöhlen« oder notiert: »Auch im Schreiten liegt ein beträchtlicher Reiz, es lockt fremde Männer oder stößt sie ab.« Lust, die nicht aus freien Stücken bereitet wird, lehnt er ab. Auch sei es unschicklich, Frauen nach ihrem Alter zu fragen. Und er betont, dass Schönheit und körperliche Reize allein ohne Geist und gute Umgangsformen wertlos seien, um erotische Stimmung zu erzeugen.

Derart offen über Dinge zu sprechen, über die man im puritanischen Rom gemeinhin nur tuschelte, war ungewöhnlich – und auch nicht ungefährlich. »Vorehelichen Geschlechtsverkehr und Ehebruch unmittelbar nach dem größten Sexskandal Roms zu thematisieren, ja dazu zu animieren, dazu gehörte schon sehr viel Mut«, sagt die an der Cambridge University lehrende klassische Philologin Caroline Vout. Ovid war deshalb stets darauf bedacht, seine erotischen Ausführungen im Rahmen des gerade noch Erlaubten zu halten: »Nur soweit das Gesetz es gestattet, treib' ich dieses Spiel«, erklärt der »Lehrmeister in Liebesdingen«. Doch als zehn Jahre nach dem Skandal der Julia in Rom erneut ein Mitglied des Kaiserhauses wegen moralischer Verfehlungen in die Schlagzeilen geriet, wurde es auch für den Dichter düster.

Eine verhängnisvolle Affäre

Im Jahr 8 n. Chr. wurde auch Julias gleichnamige Tochter, die wie ihre verbannte Mutter einen freizügigen Lebenswandel führte, des Ehebruchs überführt. Und, wie schon zehn Jahre zuvor bei ihrer Mutter, machten Umsturzgerüchte die Runde. Es sei eine Verschwörung im Gange, im Zuge deren die ältere Julia aus dem Exil hätte befreit und Augustus im Senatsgebäude ermordet werden sollen. Zwar ließ sich nicht klären, wie zutreffend die einzelnen Details der Verschwörung waren, doch irgendetwas bleibt bekanntlich immer hängen, zumal in der brodelnden Gerüchteküche Roms.

Und vielleicht ist es kein Zufall, dass nun auch Ovid, der schon eine ganze Weile den Princeps mit seinen Sticheleien provoziert hatte, einen fast ebenso verheerenden Schlag hinnehmen musste. Hatte der rebellische Poet die Geduld des Kaisers mehr als einmal strapaziert, so war diese in dem Moment aufgebraucht, als der Skandal um Augustus' Enkeltochter Julia Furore machte und ausgerechnet der Liebesdichter selbst in den Verdacht geriet, ein ehebrecherisches Verhältnis mit der Kaiserenkelin unterhalten zu haben. Julia war nicht die Einzige, die in diesem schicksalsschweren Jahr 8 n. Chr. aus Rom verbannt wurde.

Das Unheil holte Ovid auf der Mittelmeerinsel Elba ein. Dort kam ihm zu Ohren, dass er auf Befehl des Kaisers binnen 14 Tagen sein Haus in Rom zu räumen und sich in die Verbannung zu begeben habe. Dabei hatte der inkriminierte Poet noch Glück im Unglück, da der Kaiser die milde Form des Exils, die so genannte relegatio verhängte, bei der der Bestrafte Vermögen und Bürgerrecht behielt. Für den Lebemann Ovid war diese allerdings nur ein schwacher Trost, da Verbannung für ihn gleichbedeutend war mit sozialer Isolation. Im fernen Tomis, der heutigen rumänischen Stadt Constanța, trennten ihn Welten von der römischen Metropole mit ihrer urbanen Atmosphäre und den literarischen Zirkeln.

Am Ende der Welt

Jäh bricht die Schaffensperiode der großen erzählenden Dichtungen ab. Von nun an ertönen nur noch Lieder der Klage, der Sehnsucht, der Bitte, Verteidigung und Rechtfertigung. Schon auf der Reise nach Tomis begann Ovid mit der Niederschrift von Klage-Elegien. Die fünf Bücher dieser »Tristia« enthalten unter anderem die bewegende Schilderung des Abschieds von Rom, von der Gattin und der vertrauten Umgebung – ja der Abschied von der zivilisierten Welt.

Statue in Constanța, Rumänien | Für seinen trostlosen Verbannungsort im heutigen Rumänien hatte Ovid kein gutes Wort übrig. Die Stadt hat ihm dennoch ein Denkmal gesetzt.

Tomis, das damals noch nicht zum Römischen Reich gehörte, sondern allenfalls römisches Einfluss- und Interessengebiet war, ist für Ovid ein Gefängnis ohne Mauern. In ihm gibt es weder Kunst noch Kultur, sondern nur geistige Leere, in der er die lateinische Sprache, Medium seiner Dichtung und Zentrum seiner Identität, zu verlernen droht.

In einem Wechselbad von Verzweiflung und Hoffnung schreibt er sich den Kummer von der Seele, schreibt gegen das Vergessenwerden an, zur Bewahrung seines Ruhms als Dichter, spricht mit trotzigem Stolz von seinen Erfolgen und prophezeit die Unsterblichkeit seiner Werke. »Struppig, wie mit verworrenem Haar«, schreibt Ovid in der Vorrede der »Tristia«, möge das Buch in Rom erscheinen, ruhig mit Flecken auf den Seiten, damit man sehe, »dass ich beim Schreiben geweint habe«.

Dann wieder verfällt der Verbannte in quälendes Lamento, beklagt sein Los in dieser »gottverlassenen Gegend mit ihren trüben Tagen des Stumpfsinns«, die ihn, den Dandy der römischen Jeunesse dorée, zu zermürben drohen. Aus Langeweile verfasst er die »Halieutica«, ein Lehrgedicht über die Fischarten des Schwarzen Meeres, und erlernt die Sprache der Barbaren.

Ovids Grabinschrift

Hic ego qui iaceo tenerorum lusor amorum
Ingenio perii, Naso poeta, meo.
At tibi qui transis, ne sit grave quisquis amasti
Dicere: Nasonis molliter ossa cubent.

»Ich, der ich hier liege, Naso, der Dichter, Spieler zärtlicher Liebesgeschichten, bin an meinem eigenen Talent zu Grunde gegangen.
Aber dir, der du vorbeigehst, soll es, wenn du je geliebt hast, nicht schwerfallen zu sagen: Mögen Nasos Gebeine weich ruhen!«

Da die Hoffnung bekanntlich zuletzt stirbt, ließ Ovid nichts unversucht, um seinem Verbannungsort zu entfliehen. In einem längeren Brief wendet er sich demütig an Augustus, rechtfertigt sein Verhalten und bittet um Gnade. Auch ersucht er seine Gattin, sich für ihn bei der First Lady Livia zu verwenden. Genutzt hat das alles nichts. Ovid verfällt in Schwermut, beginnt allmählich zu resignieren. Es ist die Zeit (12-16 n. Chr.), in der er die »Briefe vom Schwarzen Meer« (»Epistulae ex Ponto«) verfasst. Die meist klagenden, oft in Selbstmitleid sich erschöpfenden Briefe sind an Freunde, die Mehrzahl aber an seine Gattin gerichtet. Quälendes Heimweh treibt ihn um, vor allem aber die Sorge, in fremder Erde begraben zu werden. Ovid trifft Vorkehrungen für die Zeit nach dem Tod. Hierzu gibt er seiner Frau genaue Anweisungen für die Überführung seiner Asche nach Rom und diktiert ihr gleich die Grabinschrift dazu.

Dann, ein kurzer Hoffnungsschimmer: Im fernen Rom ist seit August 14 n. Chr. Tiberius neuer Herrscher im Purpur. Ovid unternimmt einen letzten Versuch. In einem schmeichlerischen und anbiedernden Brief wendet er sich an den neuen Kaiser. Doch auch er lässt sich nicht erweichen.

Irgendwann im Jahr 17 n. Chr. bricht die Korrespondenz ab. Aus Tomis, wo Roms großer Dichter die letzten Jahre seines Lebens verbracht hat, gelangen keine Briefe mehr in die Metropole des Imperiums. Es ist davon auszugehen, dass Ovid noch in diesem oder Anfang des nächsten Jahres in Tomis gestorben ist. Seine Werke waren inzwischen zwar aus allen öffentlichen Bibliotheken entfernt worden. Ihre Unsterblichkeit konnte das allerdings nicht verhindern.

Was genau ihm zum Verhängnis wurde – dieses Geheimnis nahm Ovid mit ins Grab. Den wahren Grund für seine Verbannung wird die Nachwelt niemals erfahren. Aus seinen vagen Andeutungen lassen sich zwar gewisse Rückschlüsse ziehen. Ein möglicher Grund dürften seine provokanten und – aus Sicht des Augustus – moralzersetzenden Schriften gewesen sein, mit denen der »Freund aller Freuden« ein ums andere Mal Geduld und Duldsamkeit des Herrschers auf eine harte Probe stellte. Doch so richtig überzeugend ist diese Vermutung nicht. Denn warum, fragen Gelehrte zu Recht, hätte Augustus dann zehn Jahre mit der Verurteilung des Skandaldichters warten sollen? Für die südafrikanische Althistorikerin Joe-Marie Claassen, steht deshalb fest: »Ovids Verbannung lässt sich nur politisch sinnvoll erklären.«

Somit rückt der zweite von Ovid angegebene Grund in den Fokus der Betrachtung: »Warum ward ich schuldig durch Blicke? Weshalb war ich der Tor, der die Verfehlung erkannt«, fragte ungläubig der exilierte Poet und sah an seiner Person das Schicksal Aktäons auf tragische Weise wiederholt. Wie der mythische Jäger in seinen »Metamorphosen« die nackte Diana beim Baden betrachtet hatte, könnte Ovid Zeuge von unsittlichen Handlungen im Kaiserhaus geworden, dabei ertappt und nach Tomis geschickt worden sein, damit er in Rom nichts ausplaudern konnte. Nicht auszuschließen ist auch, dass der freizügige Dichter gar Mitwisser einer Hofintrige gewesen war, wie der Oldenburger Althistoriker Michael Sommer vermutet.

Was auch immer Ovid anno 8 n. Chr. beobachtet haben mag, er hatte damit »den verdienten Zorn des Augustus« auf sich geladen. In dem angespannten, mit Skandalen gespickten Kontext jenes verhängnisvollen Jahres gab es nur eine einzige Erklärung für die Reaktion des Kaisers. Ob Ovids Verfehlung nun ein Zufall war oder das Ergebnis seines Leichtsinns – feststeht, dass der poeta laureatus in den Sog der tödlichsten Rivalität geraten war, die Rom je gesehen hatte, in den Kampf um die Nachfolge Augustus' – und damit die Herrschaft der Welt. Er war zur falschen Zeit am falschen Ort.

Seinem Nachruf jedenfalls tat die Verbannung keinen Abbruch – im Gegenteil. Erst kürzlich hat der Stadtrat von Rom auf Antrag der mehrheitsführenden populistischen Movimento 5 Stelle, zu Deutsch: Fünf-Sterne-Bewegung, »notwendige Maßnahmen« gefordert, um die Verbannung des berühmten Landessohnes rückgängig zu machen. Ein Appell, den Roms stellvertretender Bürgermeister Luca Bergamo als ein wichtiges Symbol der Wiedergutmachung für erlittenes Unrecht würdigte. Denn es sei »ein fundamentales Grundrecht von Künstlern, ihre Meinung frei zu äußern, in einer Welt, in der die Freiheit des Wortes zunehmend eingeschränkt« werde. Und so widerfährt Roms prominentem Dichter, über dessen mysteriöse Verbannung sich bis heute hartnäckig der Schleier der Geschichte legt, doch noch späte Gerechtigkeit.

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