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Meeresökologie: Ausgemischt

Süd- statt nordwärts gerichtete Winde, warmes überlagert kaltes Wasser, Nährstoffarmut, wo sonst das Leben blüht: Das Jahr 2005 bescherte dem Pazifik vor Oregons Küste ungekannte Bedingungen - und beeinträchtigte das Ökosystem auf breiter Front. Vom winzigen Plankton bis zum ausgewachsenen Seevogel litten viele Arten.
Entenmuscheln
Im Frühjahr 2005 machten Freiwillige, die als Daten sammelnde Amateurwissenschaftler an den Küsten Washingtons, Oregons und Kaliforniens patrouillierten, eine höchst unerfreuliche Entdeckung: Zehntausende toter Seevögel waren an die Strände geschwemmt worden, an manchen Stellen fanden die Helfer mehr als achtzig verendete Tiere pro Meile. Ein großer Teil davon war vollkommen ausgemergelt und schlicht verhungert. Befürchtungen kamen auf, dass große Teile der lokalen Kormoran- und Lummenpopulation ausgelöscht werden könnte, da Eltern und Nachwuchs mitten während der Brutzeit die Nahrung ausblieb und die Vögel diese mangels Konstitution auch nicht auf der hohen See suchen konnten.

Aleutenalk | Der Aleutenalk (Ptychoramphus aleuticus) verhungerte im Sommer 2005 in großer Zahl, weil ihm die Nahrung an Oregons Küste ausging.
Zur gleichen Zeit bekamen die seewärts strebenden Lachse der amerikanischen Westküste ein Futterproblem, da ihre Beute in Form kleinerer Fische ebenfalls ausblieb – auch hier folgte ein Massensterben. Ein drittes derartiges Ereignis notierte die Öffentlichkeit im Winter 2006, als wiederum Tausende von Seevögeln an die Küste geschwemmt wurden; diesmal waren es nach Norden ziehende Alken und Sturmvögel, die vor Alaska brüten und jagen. Und im Sommer des letzten Jahres schließlich entdeckten Wissenschaftler ein Massengrab am Meeresboden, wo unzählige tote Krabben, Seesterne oder Würmer den Boden bedeckten. Zwei Wochen später war dieser Friedhof schließlich noch von einem weißen Leichentuch aus abgestorbenen Bakterien bedeckt – die ökologische Katastrophe war perfekt.

Kleine Ursache, große Kettenreaktion

Pazifikküste in Oregon | Der Pazifik vor Oregons Küste erlebte im Sommer 2006 die größten Todeszonen, die jemals dort registriert wurde. In manchen Regionen war überhaupt kein Sauerstoff mehr im Wasser gelöst.
Alle diese Vorgänge hingen wohl eng zusammen, wie nun übereinstimmend Jack Barth und Jane Lubchenco von der Oregon State University zusammen mit Kollegen berichten – und sie lassen für die Zukunft wohl noch einiges befürchten. Normalerweise lösen sich zwischen der Nordküste Kaliforniens und den Gestaden Washingtons wärmeres Oberflächenwasser und kälteres Auftriebswasser aus tieferen Meereslagen im Jahresverlauf ab, was wiederum mit wechselnden Windsystemen zusammenhängt. So dominieren im Winter und Frühling bis Mai nordwestliche Windrichtungen, die relativ wärmeres Pazifikwasser gegen die Küste drücken. Während des Sommers und Herbsts bis in den Oktober herrschen dagegen eher südöstliche Strömungen vor, die den Ozean zumindest oberflächlich vom Land wegschieben und damit kühlerem Nass aus der Tiefe den Aufstieg ermöglichen. Letzteres ist allerdings deutlich nährstoffreicher. Vermischt es sich mit dem sauerstoffreicheren Oberflächenwasser, kurbelt es die Produktivität im Meer während dieser Zeit an und versorgt eine komplette Nährstoffkette vom Plankton über Muscheln und Fische bis hin zu Seevögeln und Walen.

In den 1990er Jahren begann sich dieser Zyklus jedoch zu verändern: Der küstennahe Auftrieb schwächte sich ab, wärmeres Wasser dominierte häufiger und über längere Zeiten. Das Ganze gipfelte schließlich mit dem Rekord-El-Niño von 1997/98, als sich die Wetterverhältnisse im und rund um den Pazifik veränderten und das Meer vor der US-amerikanischen Westküste sich nochmals deutlich aufheizte, die Nährstoffe zurückgingen und die Vitalität des kompletten Ökosystems in Mitleidenschaft gezogen wurde – vom Zooplankton bis zum Lachs nahmen die Bestände ab oder verschwanden völlig, weil die Arten starben oder abwanderten.

Seepocken | Während der Algenblüte 2005 ging der Bestand an Seepocken um zwei Drittel zurück.
Auf El Niño folgte La Niña und mit ihr ein neuerlicher dramatischer und abrupter Wechsel: Das gesamte Strömungssystem trat nun in eine vierjährige Phase mit sehr kalten Bedingungen ein. Der Auftrieb verstärkte sich wieder, die Biomasse des Zooplanktons verdoppelte sich, und sein Artenspektrum verschob sich hin zu sehr fetthaltigen Gruppen, die vor allem die sich erholenden Lachsbestände begünstigten. Doch nur vier Jahre später fand diese Hausse ebenfalls bereits wieder ihr Ende, kurz nachdem ein starker Einstrom subantarktischen Wassers in die Region im Sommer 2002 stattgefunden hatte. Wegen der gleichfalls zugeführten Nährstoffe, blühten die vorhandenen Algen in Massen auf. Als sie danach abstarben und auf den Meeresgrund sanken, zehrten sie den im Wasser gelösten Sauerstoff auf, sodass dessen Gehalt drastisch abnahm und sich in der Folge wieder lebensfeindliche Zonen im Ozean bildeten.

Immer neue Höhepunkte

Nun kehrten die Bedingungen wieder zurück zu jenen mit wärmerem Wasser, die Anfang der 1990er erstmals nachgewiesen wurden. Weiterhin stellten sich jährlich die so genannten Todeszonen vor der Küste ein, in denen der Gehalt an gelöstem Sauerstoff unterhalb von 1,4 Milliliter pro Liter Meerwasser lag – zehn- bis dreißigmal so niedrig wie vorher und ein tödlicher Wert für viele Organismen. Was zuvor ein einmaliges Ereignis schien, wurde zur Regel. Allerdings wechselten sich im Jahresverlauf immer noch warme und kühlere Wassermassen ab, wenngleich sich ihr Temperaturunterschied abschwächte.

Lummen in Brutkolonie | Zu den Opfern der veränderten Meeresumwelt im Nordwesten der USA zählen auch die Lummen, die in manchen Jahren keinen Fisch mehr für ihre Jungen finden.
Im späten Frühling 2005 überraschte dann jedoch eine neue Facette der Natur die Forscher. Denn der Auftrieb aus der Tiefe verzögerte sich um einen ganzen Monat, da die ursächlichen Winde unerwartet aussetzten und von Westwinden überlagert wurden. In Küstennähe heizte sich sich der Pazifik um zwei bis sechs Grad Celsius über den langjährigen Durchschnitt auf, im Brandungsbereich fiel der Planktongehalt um die Hälfte, und die Nährstoffe nahmen auf ein Drittel der normalen Menge ab. Die Populationen von Mies- und Entenmuscheln brachen um 83 beziehungsweise 66 Prozent ein, und die Bevölkerung bemerkte das Massensterben der Vögel.

Erst im Juli normalisierte sich die Situation – und kippte in das nächste Extrem. In nur zwei Monaten trieb eine Menge an Tiefenwasser auf, wie sie eigentlich während eines halben Jahres zu erwarten gewesen wäre. Das Leben an der Basis der Nahrungskette blühte im wahrsten Sinne auf, Plankton, Zooplankton, Wirbellose und kleine Fische profitierten, doch für größere Raubfische, Seevögel oder Wale kam dieser Wandel zu spät – und im Jahr darauf wiederum deutlich zu früh. Statt erst ab Juni den Pazifik verstärkt aufzumischen, bliesen die südöstlichen Winde bereits im Frühling so heftig, dass sich der küstennahe Auftrieb im Vergleich zu früheren Jahren verdoppelte. Neuerlich blühten die Algen in Massen, sodass richtiggehende grün-braune Teppiche vor der Küste im Wasser schwebten, als die verantwortlichen Winde im Mai plötzlich wieder abebbten: ein Phänomen, dass die Wissenschaftler in all den Jahrzehnten ihrer Wetteraufzeichnungen noch nie registriert hatten.

Was ist schuld?

Entenmuscheln | Und auch die Zahl der Entenmuscheln ging drastisch zurück – mit fatalen Konsequenzen für die gesamte Nahrungskette.
Gerade als die Seevögel zu brüten begannen und die Junglachse aus den Flüssen seewärts strebten, entwickelte sich auf mehr als 3000 Quadratkilometern – und damit größer als jemals bekannt war – im fünften Jahr in Folge eine submarine Todeszone. Sie war viermal so groß wie jedes andere bekannte Ereignis in der Region, dauerte viermal so lang, dehnte sich weiter nach Norden aus und reichte näher an die Küste heran als in all den vergangenen Jahren. Stellenweise mangelte es dem Ökosystem sogar völlig an Sauerstoff, so stark war sein Verbrauch. Erst Mitte Oktober, als mit den auf Nord drehenden Winden wieder sauerstoffreiches Wasser einströmte, besserten sich die Lebensbedingungen vor Oregon und Washington wieder.

Womöglich, so Ko-Autor Bruce Menge, geht der Pazifik vor Nordamerika einer neuen Ära entgegen: Anstelle der bisherigen zwanzig- bis dreißigjährigen Periodenwechsel, könnte seit Beginn der 1990er Jahre ein prononcierter Wandel alle vier Jahre eingesetzt haben. Ob dies aber nur eine Momentaufnahme oder tatsächlich dauerhaft ist, darüber zerbrechen sich die Wissenschaftler noch ebenso den Kopf wie über die Ursachen. Eventuell ist wieder einmal der Klimawandel zumindest mitschuldig. Schließlich prognostizieren alle entsprechenden Modelle wechselhaftere Windsysteme in den nördlichen Breiten: Das – immerhin – wäre zumindest ein plausibler Lösungsansatz.

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