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News: Auslöschen oder nicht auslöschen?

Eigentlich herrscht weltweite Einigkeit darüber, daß die genetische Vielfalt auf der Erde bewahrt werden muß. Aber gilt dieser Grundsatz auch dann, wenn die Chance besteht, ein tödliches Virus vollständig auszurotten? Bereits 1986 hatte die Weltgesundheitsorganisation WHO empfohlen, das Pockenvirus in allen Laboratorien der Welt zu vernichten, nachdem es durch eine Impfkampagne auf allen bewohnten Kontinenten ausgemerzt worden war. Doch der endgültige Stichtag wurde immer wieder verschoben, zuletzt Ende Mai 1999 auf einem Treffen in Genf. Dort wurde abermals ein Aufschub um drei Jahre beschlossen. Doch es ist mehr als fraglich, ob Rußland und die USA dann bereit sind, ihre Bestände an Pockenviren wirklich zu vernichten.
Im Jahre 1980 erklärte die World Health Organization (WHO) die Welt für Pocken-frei. Vorausgegangen war eine weltweite Impfaktion, mit deren Beginn 1967 den Pockenviren der Kampf angesagt worden war. Noch Ende des letzten Jahrhunderts starben trotz bereits wirksamer Impfungen in Deutschland 250 000 Menschen pro Jahr an der Seuche. Nach Anlaufen der WHO-Aktion forderte die Krankheit 1972 ihr letztes Opfer in Deutschland, und 1978 erlag in Somalia der offiziell letzte Erkrankte seinen Leiden. Die wahrscheinlich wirklich letzte Pockentote war die britische Fotografin Janet Parker, die sich in der Medical School der University of Birmingham ansteckte, als sie dort Bilder von denForschungsarbeiten machte. Heute existiert das Virus nur noch tiefgefroren in zwei Laboratorien, dem Center for Disease Control and Prevention in Atlanta und dem Institute for Viral Preparations in Moskau.

Das gesamte Genom des für Menschen tödlichen Variolapockenvirus und eines zweiten Virusstammes ist bekannt, von fünf weiteren Stämmen sind große Teile der Erbsubstanz sequenziert. Die beiden oben genannten Institute in den USA und Rußland arbeiten zusammen an der Entschlüsselung der DNA eines anderen Pockenvirus. Außerdem sollen nach dem Plan der WHO in verschiedenen Hochsicherheitslabors Stücke der Pocken-DNA als Bestandteil kleiner DNA-Ringe – sogenannter Plasmide – aufbewahrt werden. Mit der Vernichtung der letzten Virenbestände wäre deren genetische Information somit nicht verloren. Aber Wolfgang Joklik von der Duke University meint: "Um die Pathogenese der Pocken zu studieren, ist ein komplettes Virus notwendig, nicht nur Plasmidclone und die Sequenz."

Die wissenschaftlichen Gegner der geplanten Ausrottung warnen auch vor möglichen neuen Epidemien. Sie verweisen darauf, daß durchaus noch Viren in Laboratorien gelagert sein könnten, von denen die WHO nichts weiß. Außerdem befürchten sie, daß die Pocken in Rußland wieder ausbrechen könnten, wenn Erreger von Leichen überspringen, die im Dauerfrostboden begraben wurden. Und schließlich könnte im Prinzip ein Affenpockenvirus seinen Wirt wechseln. Die aktuellen Impfstoffe haben mitunter schwere Nebenwirkungen. Daher müsse an neuen Mitteln geforscht werden.

Dem halten Befürworter entgegen, daß die Szenarien allesamt recht unwahrscheinlich sind. Für den Fall der Fälle hält die WHO aber stets 500 000 Impfdosen bereit und kann bei Bedarf innerhalb von Wochen weitere produzieren. Sie sehen die große Gefahr vor allem in der nicht garantierbaren politischen Stabilität, vor allem Rußlands. Nach Frank Fenner von der WHO würden "viele Länder sich viel sicherer fühlen, wenn da nicht diese etwa 600 Virenstämme in den Tiefkühlbehältern wären".

Am 21. Mai 1999 beschlossen die Vertreter der 191 Mitgliedsstaaten der WHO in Genf, die Vernichtung der Pockenviren um weitere drei Jahre aufzuschieben. Während dieses Zeitraums soll durch die WHO kontrollierte Forschung zu medizinischen und wissenschaftlichen Zwecken erlaubt sein. Ob im Jahre 2002 wirklich die letzten Viren zerstört werden, wird sich wohl erst dann herausstellen.

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