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News: Auswanderer

Manche Gene führen ein unstetes Leben. Sie begnügen sich nicht mit ihrer eigentlichen Aufgabe als Bauanweisung für Eiweiße, sondern kopieren sich selbst, um woanders im Erbgut eine neue Heimstatt zu finden. Insbesondere das X-Chromosom zeigt sich exportfreudig - und zeugt damit von einer Massenflucht männlicher Gene.
Chromosomen
Sie war bereits 81 Jahre alt, als ihre Arbeit endlich gewürdigt wurde. Im Jahr 1983 erhielt die amerikanische Botanikerin und Genetikerin Barbara McClintock den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin – über 30 Jahre nach ihrer Entdeckung mobiler genetischer Elemente. In den fünfziger Jahren hatte sie eine damals kaum vorstellbare Erklärung entwickelt, warum gelegentlich Maiskörner mit anderen Farben auftauchen: In die für die Kornfärbung zuständigen Gene musste etwas hineingesprungen sein.

McClintocks Entdeckung wurde zunächst wenig beachtet, doch heute wissen Genetiker, dass bei vermutlich allen Organismen DNA-Abschnitte vorkommen, die sich äußerst mobil zeigen. Über die Hälfte des Maisgenoms und etwa zehn Prozent des menschlichen Erbguts bestehen aus solchen transponierbaren genetischen Elementen – kurz Transposons genannt. Häufig werden die unsteten DNA-Stücke auch als "springende Gene" bezeichnet, wobei sie in den seltensten Fällen wirklich springen, also ihren angestammten Ort im Erbgut verlassen. Meist bleibt das Ursprungsgen an Ort und Stelle zurück, produziert aber einer mobile Kopie seiner selbst. Dabei erfolgt die Verdopplung in der Regel über eine RNA-Zwischenstufe, die dann in eine DNA-Kopie zurückübersetzt wird, um sich als Retrotransposon an einer anderen Stelle des Erbguts einzunisten.

Transposons scheinen also gang und gäbe zu sein und sollten im gesamten Erbgut etwa gleich häufig verteilt auftauchen. Doch "das ist einfach nicht wahr", ist Manyuan Long überzeugt. Die Arbeitsgruppe des Ökologen und Evolutionsforschers von der Universität Chicago hatte sich die Verteilung der Retrotransposons im menschlichen Erbgut etwas genauer angeschaut. Dabei zeigte sich eines der 23 Chromosomen als besonders austauschfreudig: das X-Chromosom. Das Geschlechtschromosom hat viermal so viele Gene exportiert wie ein normales Autosom und über dreimal so viele importiert.

Die Wissenschafter untersuchten daraufhin, welche Gene des X-Chromosoms sich einst auf Wanderschaft begeben hatten. Und hier zeigte sich ein interessanter Zusammenhang: 77 Prozent der Gene, die das X-Chromosom als Kopie verlassen hatten, haben etwas mit der männlichen Keimzell- und Hodenentwicklung zu tun. Das X-Chromosom hatte also in der Evolution hauptsächlich seine männlichen Anteile exportiert, wurde aber im Gegenzug nicht weiblicher. Nur wenige der importierten Gene stehen im Zusammenhang mit dem weiblichen Geschlecht. "Die alte Idee, dass das X-Chromosom hauptsächlich an Geschlechtsgenen beteiligt ist, ist also ebenfalls nicht wahr", meint Long.

Doch warum dieser Exodus männlicher Gene? Dies hängt mit der besonderen Rolle des X-Chromosoms zusammen, vermuten die Forscher. Bekanntermaßen verfügen Frauen über zwei X-Chromosomen, während bei Männern eines durch das eher kümmerliche Y-Chromosom ersetzt ist. Dadurch steigt die Wahrscheinlichkeit für ein X-chromosomales Gen, dass es sich zufällig in einem weiblichen Körper wiederfindet – bei Männern wird es dagegen häufiger unter den Tisch fallen. Gene, die für das männliche Geschlecht wichtig sind, sollten daher tunlichst dafür sorgen, sich in den sicheren Autosomen niederzulassen.

Diese Flucht männlicher Gene aus dem X-Chromosom muss in der Evolution schon vor langer Zeit stattgefunden haben. Denn auch bei der Maus fanden die Wissenschaftler eine ähnlich hohe Auswanderrate. Sie begann demnach bereits bei den gemeinsamen Vorfahren von Mensch und Maus vor mehr als 80 Millionen Jahren und dauert – davon sind die Forscher überzeugt – immer noch an.

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