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Auswilderung: Die Tiger kehren zurück nach Kasachstan

Der Kaspische Tiger ist in Kasachstan seit rund 70 Jahren ausgestorben. Nun soll der Sibirische Tiger seine Lücke füllen und dort ausgewildert werden. Ein Projekt mit vielen Tücken – von harschen Winterbedingungen bis hin zu potenziellen Konflikten mit der lokalen Bevölkerung.
Ein Tiger liegt entspannt auf einem schneebedeckten Baumstamm in einer winterlichen Landschaft. Der Tiger schaut direkt in die Kamera.
Sibirische Tiger sind die größten lebenden Katzen der Welt und müssen pro Tag etwa zehn Kilogramm Fleisch zu sich nehmen. Sie benötigen diese Energiereserven, um auch in kalten Regionen zu überleben. Mit ihrem dicken, langen Fell halten sie auch Temperaturen von minus 10 oder minus 20 Grad Celsius aus (Symbolfoto).

Auf Bodhana und Kuma ruhen große Hoffnungen. Im September 2024 haben die beiden ehemaligen Bewohner des Tierparks Hoenderdaell in den Niederlanden eine weite, abenteuerliche Reise angetreten: Per Flugzeug und Hubschrauber ging es für die beiden Tiger in den Osten Kasachstans. Dort sollen die Tiere in einem großen Gehege für Nachwuchs sorgen – und damit die Rückkehr ihrer Art in das zentralasiatische Land einläuten.

Die kasachische Regierung und die Naturschutzorganisation WWF planen, die neue Generation der Großkatzen im Schutzgebiet Ili Balchasch auszuwildern. Falls das klappt, könnten die einst ausgerotteten Tiere dort erstmals seit Jahrzehnten wieder auf die Jagd nach Wildschweinen und Bucharahirschen gehen. »Das wäre wirklich ein Riesenerfolg, der auch zum Vorbild für andere Länder werden könnte«, meint Volker Homes vom Verband der Zoologischen Gärten (VdZ) in Berlin. Kasachstan wäre damit das erste Land, in dem Tiger nach ihrer kompletten Vernichtung eine neue Chance bekämen.

Die brauchen die Großkatzen auch dringend. Denn durch intensive Bejagung und die Zerstörung ihrer Lebensräume ist die Art vor allem im 20. Jahrhundert weltweit stark unter Druck geraten. Sie ist aus mehr als 90 Prozent ihres einst riesigen Verbreitungsgebiets zwischen Sibirien und der Türkei verschwunden. Doch das muss nach Einschätzung von Naturschutzfachleuten nicht so bleiben.

Der 2022 erschienene WWF-Report »Restoring Asia's Roar« hat ausgelotet, wie groß die Chancen auf ein Comeback in verschiedenen Ländern sind. Demnach gibt es in 15 asiatischen Staaten noch geeignete Lebensräume, in denen die Tiere derzeit nicht mehr vorkommen. Insgesamt handelt es sich um mehr als 1,7 Millionen Quadratkilometer ungenutztes Tigerhabitat – eine Fläche so groß wie Deutschland, Frankreich, Spanien und Italien zusammen. Würden Tiger dorthin zurückkehren, könnte sich ihr derzeitiges Verbreitungsgebiet mehr als verdoppeln.

Etwa die Hälfte der theoretisch geeigneten Flächen liegen weniger als 100 Kilometer von bestehenden Tigerpopulationen entfernt. Das sind Strecken, die diese Tiere problemlos auf eigenen Pfoten zurücklegen können. Wie mobil sie auf der Suche nach einer neuen Bleibe sind, zeigen Aufnahmen aus Nepal. Im Distrikt Ilam haben Kameras einen Tiger in einer Höhe von 3165 Metern aufgenommen – 250 Kilometer östlich der nächsten bekannten Population. Doch in manchen Regionen sind Tiger großflächig ausgestorben. Dorthin können sie nur über Wiederansiedlungsprogramme zurückkehren.

In Kasachstan gibt es schon seit 1948 keine frei lebenden Tiger mehr. Die Chancen auf eine Rückkehr stehen dort allerdings besser als in vielen anderen Regionen Asiens. Das Land ist fast achtmal so groß wie Deutschland, aber mit rund 20 Millionen Einwohnern nur dünn besiedelt. Das verringert das Konfliktpotenzial zwischen Mensch und Tier. Zudem unterstützt die Politik die Rückkehr der großen Katzen: Schon 2010 hatte die damalige Regierung ihre Bereitschaft erklärt, das aufwändige Projekt in Angriff zu nehmen.

Sieben Jahre später hatten Fachleute aus Kasachstan, Russland und anderen Ländern ein Wiederansiedlungsprogramm entwickelt, das nun vom Ministerium für Ökologie und Natürliche Ressourcen zusammen mit dem WWF und dem UN-Entwicklungsprogramm UNDP umgesetzt wird. Langfristig soll es eine Population von bis zu 50 Tigern aufbauen.

Erst die Beute, dann die Jäger

Als geeignete Region dafür haben Fachleute um Igor Chestin vom inzwischen aufgelösten WWF Russland das große Delta des Flusses Ili und das angrenzende Südufer des Balchaschsees identifiziert. Dort gibt es noch die so genannten Tugais – Mosaike aus Röhrichten, Gebüschen und Auwäldern voller Euphrat-Pappeln, die früher viele zentralasiatische Flusslandschaften prägten. Diese Lebensräume boten den Tigern reichlich Beute, bis sie vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts großflächig abgeholzt und für die Landwirtschaft genutzt wurden.

Das Naturreservat Ili Balchasch | 2018 wurde das Ili-Balchasch-Naturreservat in Kasachstan als Schutzgebiet ausgewiesen, um die Wiederansiedlung von Tigern vorzubereiten. Seitdem laufen zahlreiche Maßnahmen zur Wiederherstellung des Lebensraums, darunter die Aufforstung und die Auswilderung von Beutetieren.

Im Ili-Delta und am Balchaschsee aber sind noch mehr als 7000 Quadratkilometer solcher Landschaften erhalten geblieben. Zwar ist ein Viertel davon durch Brände und Beweidung in keinem allzu guten Zustand, doch das ließe sich wohl durch gezieltes Management beheben. Ein Team um Mikhail Paltsyn vom College of Environmental Science and Forestry der State University of New York hat mit Computermodellen ausgerechnet, welches Potenzial in diesen Lebensräumen für Tiger und ihre Beute steckt. Demnach könnten im Ili-Delta 80 bis 84 der Raubkatzen leben, mit Feuerbekämpfung und Weidevorschriften ließe sich die Zahl sogar auf 90 bis 94 erhöhen.

»Ein einzelnes ausgewachsenes Exemplar muss im Schnitt im Jahr etwa 50 Hirsche erlegen, um satt zu werden«Markus Radday, Tiger-Experte

Klar ist allerdings auch: Ohne sorgfältige Vorbereitung lassen sich solche viel versprechenden Simulationen nicht in die Realität umsetzen. Deshalb begann das Projektteam im Jahr 2018, den Lebensraum für die Rückkehr der gestreiften Jäger bereit zu machen. Rund 4000 Quadratkilometer Land wurden als Schutzgebiet ausgewiesen, Auwälder wieder aufgeforstet. Beutetiere wie die seit mindestens 100 Jahren aus der Region verschwundenen Bucharahirsche sind dank spezieller Wiederansiedlungsprogramme zurückgekehrt. Und die Zahl der Wildschweine hat sich seit der Einführung eines Jagdverbots vervierfacht.

Von der geplanten Renaissance der Tiger profitieren also auch andere Arten. »Diese Maßnahmen waren wie Balsam für das angeschlagene Ökosystem in der Region«, sagt Markus vom WWF Deutschland. Das Projektteam vor Ort habe so gleichzeitig eine Grundlage für die Rückkehr der großen Katzen geschaffen. »Denn ein einzelnes ausgewachsenes Exemplar muss im Schnitt im Jahr etwa 50 Hirsche erlegen, um satt zu werden.«

Kaspischer Tiger | Mit dem Sibirischen Tiger und dem Bengal-Tiger gehörte der Kaspische Tiger zu den größten lebenden Katzen. Die Großkatzen bewohnten Wälder und Flusstäler westlich und östlich des Kaspischen Meers und starben vermutlich um die 1990er Jahre aus. Das Bild zeigt ein Exemplar 1899 in seinem Gehege im Zoologischen Garten in Berlin.

Für ein Comeback des Kaspischen Tigers, der einst in der Region zu Hause war, ist es allerdings zu spät: Diese Unterart gilt seit den 1970er Jahren weltweit als ausgestorben. Stattdessen setzt das Wiederansiedlungsprojekt auf den Sibirischen Tiger, auch bekannt als Amur-Tiger, der im Grenzgebiet zwischen dem Fernen Osten Russlands und dem Nordosten Chinas lebt. Laut einer genetischen Studie ist er eng mit dem Kaspischen Tiger verwandt. Und dank seines dicken Winterfells ist er als einzige heute noch lebende Unterart für Schnee und klirrenden Frost gerüstet. Im Schutzgebiet Ili Balchasch können die Temperaturen im Winter auf minus 10 bis minus 20 Grad Celsius sinken. Das wäre den meisten anderen Tigern deutlich zu kalt.

Die Sibirischen Tiger Bodhana und Kuma, die mittlerweile in zwei großen, getrennten Gehegen leben, scheinen tatsächlich gut zurechtzukommen. »Anfang Dezember begann es in der Region zu schneien, und sie haben ihr Winterfell bekommen«, berichtet der Biologe Gert Polet vom WWF Niederlande, der seit etwa zehn Jahren im Projekt mitarbeitet. Da die ehemaligen Zootiere nicht an strenge Winter gewöhnt seien, könnten die tiefen Temperaturen für sie zwar durchaus zur Herausforderung werden. Bisher gehe es ihnen aber gut. »Sie haben sofort angefangen, ihre Umgebung zu erkunden«, sagt der Naturschützer. »Und sie wirken entspannt.«

Wenn das Weibchen paarungsbereit ist, dürfen die beiden Projekt-Pioniere zusammenleben. »Falls es schon bald so weit ist, könnten die Jungen irgendwann Mitte des Jahres geboren werden«, sagt Gert Polet. »Dann sollten sie zwei oder drei Jahre später bereit für ihre Freilassung im Schutzgebiet sein.«

Erste Schritte in Kasachstan | Das Tigerpaar Bodhana und Kuma kommt ursprünglich aus einem niederländischen Zoo. Ende September 2024 landeten sie zunächst in der kasachischen Großstadt Almaty. Von da ging es per Helikopter weiter nach Ili Balchasch, einem rund 4000 Quadratkilometer großen Schutzgebiet im Süden des gleichnamigen Binnensees. Hier ziehen sie zunächst in ein mehrere Hektar großes Gehege.

So weit der Plan. Ob das alles so funktionieren wird, kann bisher allerdings noch niemand sagen. Wird es überhaupt Nachwuchs geben? Die beiden potenziellen Eltern sind mit 13 und 10 Jahren schon relativ alt für eine Familiengründung und haben bisher noch nie Nachwuchs gezeugt. Selbst wenn ein gesunder Wurf geboren werden sollte, ist der Erfolg des Projekts damit noch längst nicht gesichert. »Die Auswilderung von Großkatzen ist generell sehr anspruchsvoll und langwierig«, sagt Volker Homes. »Und man hat nie eine Garantie, dass alles gut geht.«

Große Katzen, große Probleme

Er kennt allerdings durchaus erfolgreiche Beispiele. 2001 gab es laut der Weltnaturschutzunion IUCN nur noch 62 erwachsene Iberische Luchse. Inzwischen kommen in vier spanischen Zuchtzentren jährlich 30 bis 50 Jungtiere zur Welt. Mehr als 400 davon wurden seit 2010 in Spanien und Portugal wiederangesiedelt. »Durch diese Projekte und die damit verbundenen Schutzmaßnahmen haben sich die Bestände sehr gut erholt«, sagt Volker Homes. Derzeit streifen nach IUCN-Schätzungen wieder mehr als 2000 der gefleckten Katzen über die Iberische Halbinsel.

Auch die Rückkehr des Eurasischen Luchses nach Mitteleuropa verläuft gut. Wiederansiedlungsprogramme gab es beispielsweise im Bayerischen Wald und im Harz, neue Projekte im Schwarzwald, Thüringer Wald und in Sachsen. »Es bestehen gute Chancen, diese Bestände durch fortgesetzte Bestandsstützungen zu erhalten und über längere Zeit wieder miteinander zu vernetzen«, meint Volker Homes.

»Ähnlich wie bei der Rückkehr des Wolfs in Mitteleuropa muss man die Leute auf diese neue Situation vorbereiten«Volker Homes, Biologe

Die Jäger mit den Pinselohren machen es den Naturschützern allerdings relativ leicht. Der Iberische Luchs frisst vor allem Kaninchen, er bedroht weder Menschen noch deren Vieh. Und auch sein eurasischer Verwandter attackiert in der Regel keine Menschen, sondern ergreift lieber die Flucht.

»Tiger sind da schon ein anderes Kaliber«, betont Alexander Sliwa vom Kölner Zoo. Der Experte sitzt in den für Katzen zuständigen Fachgruppen der Weltnaturschutzunion IUCN und des Europäischen Verbands für Zoos und Aquarien EAZA. Daher kennt er zahlreiche Auswilderungsprojekte. »Je größer die Katzen sind, desto selbstbewusster sind sie auch und umso schwieriger wird die Sache«, so seine Erfahrung.

Gerade Tiger hält er wegen ihrer Größe und Gefährlichkeit für besonders anspruchsvolle Wiederansiedlungskandidaten. Zwar sei die Beutedichte im Schutzgebiet Ili Balchasch wahrscheinlich hoch genug. Trotzdem könne es zu Situationen kommen, in denen die gestreiften Jäger Hunger haben und daher Vieh reißen. »Es wird früher oder später Konflikte mit dem Menschen geben«, befürchtet Alexander Sliwa.

Auch Volker Homes sieht darin eine Herausforderung. Zumal die Art in ein lang verwaistes Gebiet zurückkehrt, in dem niemand mehr Erfahrung im Umgang mit Tigern hat. »Ähnlich wie bei der Rückkehr des Wolfs in Mitteleuropa muss man die Leute auf diese neue Situation vorbereiten«, erklärt der Biologe. »Sie müssen lernen, ihr Vieh zu schützen und Risiken zu vermeiden.« Das Reservat selbst ist zwar unbewohnt, doch in den umliegenden Dörfern leben rund 5000 Menschen. Zwischen ihrer Heimat und dem Schutzgebiet liegen fast 100 Kilometer. Für einen Tiger auf der Suche nach Futter ist das aber keine ernst zu nehmende Entfernung. »Deshalb muss man die Bevölkerung bei solchen Projekten unbedingt mit einbeziehen«, betont Volker Homes. Nur mit deren Unterstützung lasse sich verhindern, dass die Neuankömmlinge Wilderern zum Opfer fallen.

Das wissen auch die Naturschützer vom WWF. »Um gefährliche Situationen möglichst zu vermeiden, haben wir angefangen, eine spezielle Einheit für Mensch-Tiger-Konflikte auszubilden und auszurüsten«, erklärt Gert Polet. Wenn die ersten Großkatzen das Gehege verlassen, tragen sie einen Sender um den Hals und stehen so unter ständiger Beobachtung. Die Ranger können daher eingreifen, falls die Tiere den Siedlungen zu nahe kommen. Zudem sind Entschädigungsprogramme für von Tigern gerissenes Vieh in Vorbereitung. Und bessere Verdienstmöglichkeiten für die Menschen vor Ort sollen ebenfalls die Akzeptanz des Projekts steigern. So unterstützt der WWF verschiedene Handwerkskurse, die Einrichtung eines Dorfmarkts oder einen effektiveren Gemüseanbau. Die Bemühungen tragen bereits Früchte. Manche der künftigen Tiger-Nachbarn sind zwar noch skeptisch. Andere unterstützen das Projekt jedoch und sind stolz darauf.

Trotzdem müssen natürlich auch die Tiger ihren Teil zu einem gelingenden Nebeneinander beitragen. »Ganz wichtig ist es, dass die Tiere Respekt vor dem Menschen haben und ihn nicht mit Futter in Verbindung bringen«, erklärt Katzenexperte Alexander Sliwa. »Letzteres ist allerdings schwer zu verhindern, denn Tiger sind nicht dumm.« Die einzige Chance bestehe darin, Jungtiere bis zu ihrer Freilassung möglichst ohne jeden Kontakt zu Menschen aufwachsen zu lassen.

Lernen für die Wildnis

»Genau das ist auch unser Ziel«, bestätigt Gert Polet. Bodhana und Kuma stehen bereits unter Videoüberwachung und ihr Futter bekommen sie ohne direkten Kontakt zu Menschen. Ein gutes Zeichen könnte sein, dass sie ihre Speisekarte selbstständig erweitert und ins Gehege geflogene Elstern und Krähen erlegt haben. »Das zeigt, dass sie einen gewissen Jagdinstinkt besitzen«, sagt Gert Polet. Man hofft darauf, dass die Mutter ihren künftigen Nachwuchs so ursprünglich wie möglich aufzieht. »Dazu gehört auch die Jagd auf lebende Beute.« Schließlich soll Kasachstans erste neue Tigergeneration ohne Hilfe in der Wildnis überleben.

© WWF Tigers Alive
Tiger im Schnee
Die Sibirischen Tiger Bodhana und Kuma erleben ihren ersten Winter im Schnee Kasachstans. Bekommt das Tigerpaar Nachwuchs, könnten ihre Jungen die ersten wild lebenden Tiger in Kasachstan seit mehr als 70 Jahren sein.

Alexander Sliwa sieht dabei keine allzu großen Probleme: »Das Töten ist den Tieren angeboren«, erklärt der Biologe. Schwieriger sei es für sie, die Beute erst einmal zu finden und sich unbemerkt anzuschleichen. Doch wie das geht, können selbst frei lebende Tigermütter ihrem Nachwuchs nicht immer optimal vermitteln. »Es gibt auch in der Natur gute und schlechte Jäger«, sagt der Biologe. Wichtig für die Nachwuchsjäger sei vor allem ein großes Gehege mit vielen Verstecken, von denen aus sie lebende Beute beobachten und angreifen können. Nach erfolgreicher Jagd wartet allerdings die nächste Herausforderung: das Öffnen des Kadavers. Das ist gar nicht so einfach, lässt sich aber ebenso im Gehege von der Mutter lernen.

»Es gibt für Tiger noch nicht viele Auswilderungsprojekte«, sagt Alexander Sliwa. »Doch die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass Tiere aus Gehegen in der Natur durchaus zurechtkommen können.« Ein Beispiel ist ein Projekt im fernen Osten Russlands: Dort hat die Russische Akademie der Wissenschaften 2012 ein Rehabilitationszentrum für verwaiste, junge Tiger gegründet, die in der Region immer mal wieder aufgegriffen werden. Früher hatte man diese Tiere in Zoos gebracht. Inzwischen aber bereitet das Amur Tiger Center sie auf die Auswilderung in der beutereichen und dünn besiedelten Pri-Amur-Region vor, die westlich des heutigen Verbreitungsgebiets liegt. Nach einem Monat Quarantäne ziehen die Raubkatzen in ein Gehege mit natürlicher Vegetation um, wo sie ihre Tage mit dem geringstmöglichen Kontakt zu Menschen verbringen. Mit sieben oder acht Monaten bekommen sie zum ersten Mal die Gelegenheit, lebende Kaninchen und Fasane zur Strecke zu bringen, später junge Wildschweine und Sikahirsche. Mit 15 Monaten und vollständig entwickeltem Gebiss sind sie bereit für noch größere Beute. Erst wenn die Tiere mindestens 24 ausgewachsene Wildschweine oder Hirsche getötet haben, den Kontakt zu Menschen meiden und eine Reihe weiterer Kriterien erfüllen, gelten sie als reif für die Wildnis. Mit etwa 18 Monaten werden sie dann in ihrer neuen Heimat frei gelassen – bevorzugt im Frühjahr, wenn es dort viel Beute gibt.

Wie aber stellen sich die Jäger auf vier Pfoten dort an? Können sie überhaupt überleben? Und wie oft greifen sie Vieh oder Haustiere an, die meist leichter zu erlegen sind? Um das herauszufinden, hat ein Team um Dale Miquelle von der Wildlife Conservation Society in New York sechs frei gelassene Tiger beobachtet. Alle Tiere trugen GPS-Halsbänder, die ihre Route und Risse dokumentierten. So ließen sich die Jagd- und Fressgewohnheiten der Neuankömmlinge mit denen frei aufgewachsener Artgenossen im Sichote-Alin-Hochgebirge vergleichen.

Die sechs Tiger-Waisen aus dem Gehege waren demnach zu ähnlich erfolgreichen Jägern herangewachsen wie ihre wild lebende Verwandtschaft. Und mit Ausnahme eines Männchens, das deshalb wieder eingefangen werden musste, rissen sie nur selten Vieh. Zudem überlebten sie nicht nur, sondern sorgten auch für Nachwuchs. Die 13 Tiger, die zwischen 2012 und 2021 in der Pri-Amur-Region ausgewildert wurden, haben mindestens sechs Würfe mit insgesamt zwölf Jungtieren zur Welt gebracht. »Man kann Tiger also erfolgreich wieder auswildern, wenn sie isoliert vom Menschen aufwachsen und das Jagen lernen können«, resümiert Dale Miquelle. »Um die Jungtiere für diese Reise vorzubereiten, muss man allerdings sehr vorsichtig vorgehen und auf alle möglichen Details achten.«

»Es wird Jahrzehnte dauern, bis sich der Erfolg des Projekts wirklich einschätzen lässt«Volker Homes, Biologe

Die Zukunft der Tiger

Ob der geplante Nachwuchs von Bodhana und Kuma eine ähnliche Erfolgsgeschichte schreiben kann, bleibt abzuwarten. Klar ist: Die Zukunft der Tiger in Kasachstan kann nicht allein auf den Schultern eines einzigen Paars ruhen. Um Inzucht und die damit verbundenen Gesundheitsprobleme zu vermeiden, sind laut Alexander Sliwa mindestens vier oder fünf Zuchtpaare notwendig. Eine solche Ausweitung des Projekts ist bereits geplant. »Wir wollen aber erst einmal aus unseren Erfahrungen mit diesen beiden Tieren lernen, bevor wir die nächsten Schritte gehen«, sagt Gert Polet.

Die Rückkehr des Tigers nach Kasachstan braucht also noch Zeit. »Es wird Jahrzehnte dauern, bis sich der Erfolg des Projekts wirklich einschätzen lässt«, meint Volker Homes. Er und Alexander Sliwa drücken jedenfalls die Daumen. Denn große Raubtiere sind Schlüsselarten, die in ihren Lebensräumen eine wichtige ökologische Rolle spielen. Sie wirken wie eine Art Gesundheitspolizei, indem sie kranke Beutetiere leichter erlegen und oft Aas fressen. Außerdem verringern sie die Zahl der Pflanzenfresser und sorgen dafür, dass diese bestimmte Gebiete aus Angst meiden. Das kommt der dortigen Vegetation zugute. Nicht zuletzt stellen sie besonders hohe Ansprüche an die Größe und Qualität ihres Lebensraums. Wird ihr Habitat geschützt, nützt es daher auch vielen anderen Arten.

»Wenn Leute bereit sind, mit großem Aufwand Tiger wiederanzusiedeln und in ihrer Nachbarschaft zu dulden, motiviert mich das sehr«, sagt Sliwa. »Diese Tiere sind keine einfachen Nachbarn. Aber von ihrer Rückkehr könnte ein ganzes Ökosystem profitieren.«

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  • Quellen

Driscoll, C. A. et al.: Mitochondrial phylogeography illuminates the origin of the extinct Caspian Tiger and its relationship to the Amur Tiger. PLOS ONE 4, e4125, 2009

Gray, T. et al.: Restoring Asias roar: Opportunities for tiger recovery across their historic range. WWF Report, 2022

Miquelle, D. G. et al.: Rehabilitating tigers for range expansion: Lessons from the Russian far east. Journal of Wildlife Management 89, e22691, 2024

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