Direkt zum Inhalt

Autismus bei Mädchen: Durchs Raster gefallen

Die bisherige Autismusforschung war zu sehr auf Männer fixiert. Betroffene Mädchen und Frauen erhalten oft keine Diagnose, weil sie ihre Symptome geschickt tarnen. Das lässt sich auch im weiblichen autistischen Gehirn erkennen.
Eine junge Frau liegt halb aufgerichtet auf einem Sofa. Sie trägt weiße Kopfhörer und schaut konzentriert auf ein Tablet, das auf ihrem Bauch steht. In ihren Händen hält sie ein so genanntes Fidget Toy, das der Entspannung dienen soll. Im Hintergrund sind unscharf zwei Personen in einer Küche zu sehen.
Autistische Mädchen leiden unter ähnlichen Problemen wie betroffene Jungen, etwa Überempfindlichkeit gegenüber Reizen oder Schwierigkeiten im Sozialverhalten. Sie können diese aber oft besser tarnen. (Symbolbild)

In China nennt man es »die einsame Krankheit«, die japanische Bezeichnung bedeutet so viel wie »absichtlich verschlossen«. Überall auf der Welt werden autistische Menschen als distanziert, sozial unbeholfen und isoliert wahrgenommen. Ihnen scheint nicht nur der normalerweise angeborene soziale Impuls zu fehlen, mit anderen angemessen zu interagieren, sondern auch der Wunsch danach. Nicht zuletzt ist die Vorstellung verbreitet, dass das Problem vor allem Männer betrifft.

Tatsächlich haben Fachleute – ich eingeschlossen – jahrzehntelang Autismus als eine vorwiegend männliche Störung betrachtet. Je mehr Jungen und Männer wir untersuchten, desto präziser wurde unsere Vorstellung davon, was Autismus ist. So dachten wir zumindest. Mittlerweile ist klar, dass uns die ganze Zeit ein wichtiges Puzzleteil gefehlt hat: die besondere weibliche Ausprägung der Störung. Wir haben Autismus bei sehr vielen Frauen und Mädchen schlicht nicht erkannt – wodurch sie weder eine Diagnose noch angemessene Unterstützung erhielten. Zudem haben wir inzwischen entdeckt, dass das Gehirn von weiblichen Betroffenen anders funktioniert als das von männlichen, vor allem wenn es um soziale Motivation und entsprechende Verhaltensweisen geht. Als Folge kristallisiert sich gerade ein vollkommen neues Bild von Autismus bei Mädchen und Frauen heraus.

Autismus ist eine neurologische Entwicklungsstörung, die in der Regel bereits vor dem sechsten Lebensjahr sichtbar und diagnostiziert wird. Die aktuellen Standard-Diagnosekriterien umfassen anhaltende Schwierigkeiten in der sozialen Kommunikation und Interaktion sowie eingeschränkte, sich wiederholende Verhaltensmuster und Aktivitäten oder Interessen in einem Ausmaß, dass dies den Betroffenen Probleme im Alltag bereitet. Die Störung tritt in höchst unterschiedlichen Ausprägungen auf, weshalb heutzutage üblicherweise der Begriff der »Autismus-Spektrum-Störung« als Oberbegriff für die gesamte Bandbreite entsprechender Symptome verwendet wird. Die Weltgesundheitsorganisation schätzt, dass weltweit ein Prozent der Kinder davon betroffen ist. Doch wahrscheinlich liegt die Zahl viel höher: Anderen Schätzungen zufolge haben bis zu 50 Prozent der autistischen Menschen bislang keine Diagnose erhalten.

Die Geschichte des männlichen Autismus

Die Vorstellung, Autismus sei eine männlich dominierte Störung, entstand schon früh. Einer der sogenannten »Väter des Autismus«, Hans Asperger, verwies Ende der 1930er Jahre in seinen Fallstudien, die ausschließlich Jungen betrachteten, ausdrücklich auf eine Form extremer männlicher Intelligenz. In den 1960er Jahren berichteten Studien zur Häufigkeit der Störung von einem Verhältnis von Männern zu Frauen von 4 : 1 – eine Zahl, die heute noch häufig auf Internetseiten zu Autismus, in Ratgebern sowie Forschungsarbeiten zitiert wird.

Die Vorstellung ist verbreitet, dass das Problem vor allem männliche Personen betrifft

In den 1980er Jahren erweiterte sich die Definition der Entwicklungsstörung deutlich. Seither umfasst sie eine viel größere Bandbreite sowohl an Anzeichen als auch an benötigter Unterstützung. Infolgedessen stieg die Zahl der Diagnosen sprunghaft an. Seit der Jahrtausendwende nahm das Bewusstsein für Autismus stark zu, wodurch die Fallzahlen weltweit weiter steil anstiegen. Allerdings vergrößerte sich dadurch die Kluft zwischen weiblichen und männlichen Betroffenen eher noch; die Zahlen für Jungen nahmen schneller zu als die für Mädchen.

Der allgemeine Konsens lautete, dass es selbstverständlich autistische Mädchen und Frauen gebe, ihre Schwierigkeiten im Sozialverhalten und ihre repetitiven Verhaltensmuster jedoch weniger stark ausgeprägt seien. Es hatte sich eine starre diagnostische Beschreibung durchgesetzt: Autismus ist so, wie sich die Störung bei Jungen und Männern äußert. Diese Überzeugung beeinflusste auch die öffentliche Wahrnehmung, die durch die Darstellung von Autisten in den Medien noch verstärkt wurde – etwa durch Dustin Hoffmans berühmte Rolle im Film »Rain Man«.

Irreführender Prototyp | Die von Dustin Hoffman gespielte Figur des Autisten Raymond Babbitt (rechts im Foto; links Tom Cruise als sein Bruder) im Film »Rain Man« von 1988 prägte das Bild der Störung in der Öffentlichkeit – darunter auch, dass Betroffene meist männlich seien. Heute weiß man, dass dies nicht zutrifft.

Die traditionelle Sichtweise auf Autismus wirkte sich zudem auf die neurowissenschaftliche Forschung zur Frage, weswegen Mädchen seltener autistisch seien, aus. Einige Fachleute schlugen einen »weiblichen Schutzeffekt« vor: Bestimmte Aspekte der weiblichen Biologie könnten als eine Art Puffer fungieren, sodass die Störung bei Mädchen erst unter einem viel stärkeren Einfluss entsprechender genetischer Ursachen auftrete. In diesem Zusammenhang vermuteten manche außerdem, dass das Sexualhormon Testosteron bei der Entwicklung autistischer Gehirne eine zentrale Rolle spiele. Tatsächlich ging ein frühes neurowissenschaftliches Modell der Störung sogar davon aus, dass sie ursächlich mit einem »extrem männlich ausgeprägten Gehirn« zusammenhänge.

Am deutlichsten zeigte sich die Voreingenommenheit wohl in der kognitiven Neurowissenschaft, die erforscht, wie Gehirn und Verhalten zusammenhängen. Autismus tritt eindeutig familiär gehäuft auf, die Erblichkeit liegt Schätzungen zufolge zwischen 40 und 90 Prozent. Genetische Studien deuten ferner darauf hin, dass sich autistische und nichtautistische Gehirne unterschiedlich entwickeln. Die meisten Forschungsprogramme konzentrieren sich nach wie vor auf dieses Gebiet. Bislang wurde allerdings noch kein Biomarker für Autismus entdeckt, weshalb sich die Störung nur anhand des Verhaltens diagnostizieren lässt. Damit prägen Verhaltensmodelle, die dem anerkannten Bild von Autismus am ehesten entsprechen, auch bildgebende Untersuchungen des Gehirns. Und da ein zentrales diagnostisches Merkmal Schwierigkeiten in der sozialen Kommunikation und Interaktion sind, liegt ein Schwerpunkt der Autismus-Hirnscans auf dem sogenannten sozialen Gehirn.

Menschen mit Autismus oder autistische Menschen – wie heißt es richtig?

Die beiden großen internationalen Diagnosemanuale (DSM und ICD) zählen alle autistischen Störungen zu den Autismus-Spektrum-Störungen. Der Kürze wegen ist aber oft nur von Autismus die Rede. Doch auch der offizielle Begriff ist umstritten, weil er Autismus als Störung definiert. Viele Betroffene argumentieren, Autismus sei eine Variante in der Funktionsweise des Gehirns, und bezeichnen sich als neurodivers. Manche bevorzugen dagegen Autist oder Autistin, andere wiederum Mensch mit Autismus-Spektrum-Störung. Die Vorlieben können sich auch von Land zu Land unterscheiden. Der Selbsthilfeverband Autismus Deutschland e.V. verwendet viele verschiedene Begriffe, zum Beispiel Autisten, Autist:innen, Menschen mit Autismus und autistische Kinder. Dem schließen wir uns an: Spektrum der Wissenschaft wechselt mehrere Begriffe ab, wie auch beim Gendern. So schreiben wir der Kürze halber in der Überschrift häufig nur Autisten, in längeren Texten auch Autistinnen und Autisten oder Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung.

Das soziale Gehirn

Die Hypothese des sozialen Gehirns entstand in den späten 1980er Jahren. Sie besagt, dass sich unser Denkorgan so entwickelt hat, dass es soziale Interaktionen und Beziehungen gut verarbeiten kann. Das wiederum ermöglicht es den Menschen, sich in einer komplexen Gemeinschaft zurechtzufinden. Dafür braucht es nicht nur ein Bewusstsein für das eigene Ich, sondern auch für andere Personen, ihre Gedanken, Überzeugungen und Absichten sowie dafür, wie diese unsere sozialen Interaktionen beeinflussen. Ein solches Bewusstsein bildet die Grundlage für eine Art sozialen Instinkt, sozusagen ein natürliches Schmiermittel für unser gemeinschaftliches Miteinander. Wir alle verspüren eine starke Neigung, uns sozial zu verhalten. Wir wollen Teil sozialer Netzwerke im weitesten Sinne sein und von anderen akzeptiert werden. Dieses Bedürfnis kann viele Aspekte unseres Verhaltens zumindest teilweise erklären.

Das menschliche Gehirn nutzt hierfür komplexe neuronale Netze, die soziales Wissen erwerben und speichern können – zum Beispiel die Bedeutung von Gesichtsausdrücken oder Tonfällen. Neuronale Verarbeitungsprozesse im Zusammenhang mit Emotionen und Motivationen identifizieren dann die positiven oder negativen Aspekte möglichen sozialen Verhaltens. Das wiederum aktiviert Handlungsnetzwerke, die uns dabei helfen, sozial angemessen zu reagieren – beispielsweise, indem wir die gängigen Regeln eines Gesprächs befolgen oder die Privatsphäre anderer respektieren.

Als es gelungen war, die wesentlichen neuronalen Prozesse des sozialen Verhaltens zu erfassen, begann man, die Aktivität dieser sozialen Areale mit einem Hirnscanner abzubilden. Das Ziel war, jene Unterschiede zu finden, die für die charakteristischen Auffälligkeiten im Sozialverhalten von Autisten verantwortlich sind. Zwischen 1990 und 2020 verglichen einige hundert Studien die Aktivitätsmuster und Verbindungen in den Netzwerken des sozialen Gehirns von autistischen und neurotypischen Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Es bildete sich ein klarer Konsens darüber heraus, dass vor allem die sozialen Belohnungsnetzwerke in autistischen Gehirnen weniger neuronale Aktivität und Signalaustausch aufweisen. Das wurde mit dem beeinträchtigten Sozialverhalten der Betroffenen in Zusammenhang gebracht – also damit, dass sie beispielsweise Gefühle schlecht erkennen können oder auf negative soziale Erfahrungen wie Ablehnung kaum emotional reagieren.

Besondere Aufmerksamkeit widmeten die Forschungsgruppen dem Striatum: einer Hirnstruktur, die maßgeblich an der Belohnungsverarbeitung und am verstärkenden Lernen beteiligt ist. Die verminderte Aktivität in dieser Region passte gut zum klassischen Erscheinungsbild eines sozial zurückgezogenen Menschen, dem offenbar die Motivation fehlt, Kontakte zu knüpfen. Zwar lieferten solche Beobachtungen die bis dahin tiefsten Einblicke in die neuronalen Grundlagen von Autismus, sie basierten jedoch auf sehr unausgewogenen Datensätzen.

Männer-Bias in der Autismusforschung

2024 habe ich in einer Übersichtsarbeit mehr als 120 Studien zur Bildgebung des Gehirns analysiert, die sich explizit mit derartigen Abweichungen in sozialen Hirnarealen von Menschen mit Autismus befassten. Es zeigte sich, dass fast 70 Prozent der Untersuchungen ausschließlich männliche beziehungsweise maximal zwei weibliche Gehirne betrachtet hatten. Von den insgesamt über 4000 autistischen Teilnehmenden waren weniger als zehn Prozent weiblich. Dieses Ungleichgewicht durchzieht die gesamte Autismusforschung. Laut einer 2021 erschienenen Analyse von Studien aus den vorherigen 20 Jahren hatten fast 30 Prozent von 1428 Publikationen über die Struktur und Funktion des Gehirns bei Autismus nur männliche Gehirne untersucht. Und 77 Prozent der restlichen Studien hatten Geschlechterunterschiede nicht bewertet oder das Geschlecht in den Analysen als irrelevant betrachtet.

Am beunruhigendsten ist dabei vielleicht die Tatsache, dass nur sehr wenige der Veröffentlichungen auf diese Schieflage aufmerksam machen. Die Ergebnisse wurden stets als generelle Erkenntnisse über Autismus oder autistisches Verhalten präsentiert. Allerdings ist die Unterrepräsentation von Mädchen und Frauen in den Untersuchungen auch der insgesamt viel geringeren Anzahl an weiblichen Personen mit diagnostiziertem Autismus zuzuschreiben. Denn gerade wegen der Überzeugung, Autismus sei eine typisch männliche Störung, müssen autistische Mädchen und Frauen einen fast unüberwindbaren Hindernisparcours bewältigen, bevor sie eine Diagnose erhalten.

Vertrauter Rahmen | Autistische Mädchen trainieren sich oft soziale Verhaltensregeln an, da sie stärker auf Ablehnung reagieren.

Äußern Eltern etwa Bedenken hinsichtlich des Verhaltens ihres Kindes, werden diese eher abgetan, wenn es sich um Mädchen handelt. So erging es auch einem der weltweit führenden Autismusforscher, Kevin Pelphrey, und seiner Frau Page. Die beiden sind Eltern einer autistischen Tochter und eines autistischen Sohnes. Bei ihrer Tochter Frances wurde dem Paar gesagt, sie sollen »abwarten und beobachten« sowie »Es ist ein Mädchen, das ist kein Autismus«. Bei ihrem Sohn sei die Diagnose dagegen »ein Kinderspiel« gewesen.

Auch Grundschullehrerinnen und -lehrer neigen zu geschlechtsspezifischen Vorurteilen in Bezug auf Autismus. Eine Studie aus dem Jahr 2020 ergab, dass Lehrkräfte, denen identische Fallbeispiele von hypothetischen Kindern mit ungewöhnlichem Verhalten vorgelegt wurden, bei einem Kind namens Jack deutlich häufiger davon ausgingen, dass es autistisch und unterstützungsbedürftig sei, als wenn es Chloe hieß.

Falls Mädchen es überhaupt bis zu einer Diagnosesitzung schaffen, dann bekommen sie bei den üblichen Tests auf Autismus Interviewfragen und Szenarien präsentiert, die nur anhand von männlichen Stichproben validiert wurden. Bis zu 80 Prozent der autistischen Mädchen erhalten Schätzungen zufolge bis zum Alter von 18 Jahren keine Diagnose. Selbst wenn weibliche Personen deutliche autistische Merkmale aufweisen, lautet das Testergebnis häufig, dass sie nicht wirklich autistisch sind. Entsprechend ist es für Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen schwer, genügend autistische Frauen für ihre Studien zu rekrutieren.

Das durch jahrzehntelange Forschung mit überwiegend männlichen Teilnehmern etablierte Modell für Autismus, das von einer verminderten Aktivität im sozialen Gehirn ausgeht, trifft im Allgemeinen auf Mädchen und Frauen nicht zu

In den letzten rund zehn Jahren wurde das männliche Standardmodell von Autismus endlich hinterfragt, ausgelöst durch eine Welle eindrucksvoller persönlicher Erfahrungsberichte von spät diagnostizierten autistischen Frauen sowie dringliche Aufrufe aus der Autismusforschungsgemeinschaft. Seither haben sich etliche neurowissenschaftliche Studien auf Geschlechterunterschiede konzentriert und festgestellt, dass autistische Mädchen und Frauen andere atypische Verhaltensweisen als Jungen zeigen können, die entsprechend mit anderen Mustern atypischer Hirnaktivität zusammenhängen. Vor allem kamen diese Studien zum Ergebnis: Das durch jahrzehntelange Forschung mit überwiegend männlichen Teilnehmern etablierte Modell für Autismus, das von einer verminderten Aktivität im sozialen Gehirn ausgeht, trifft im Allgemeinen auf Mädchen und Frauen nicht zu.

Das Gehirn von Autistinnen

Laut einer solchen Untersuchung sind beispielsweise Hirnareale, die mit sozialer Belohnung assoziiert werden, bei autistischen Mädchen stärker aktiv als bei betroffenen Jungen. Tatsächlich ist die Aktivität sogar höher als bei neurotypischen Mädchen. Das deutet auf eine überdurchschnittliche soziale Motivation hin. Eine andere Studie stellte fest, dass wichtige Netzwerke des sozialen Gehirns bei autistischen Mädchen enger zusammenarbeiten als bei autistischen Jungen.

Eine dritte Studie betrachtete die Überempfindlichkeit für Sinneswahrnehmungen, die normalerweise als charakteristisch für das Verhalten von Autisten gilt. Diese haben daher meist Probleme mit lauten Geräuschen oder hellem Licht. Bei Mädchen scheinen die daran beteiligten Netzwerke zusätzliche Verbindungen mit Bereichen des Stirnhirns zu haben, die soziale Rückmeldungen verarbeiten. Mit anderen Worten: Weibliche Betroffene neigen offenbar dazu, solche Überempfindlichkeiten zu kontrollieren, um peinliche soziale Situationen zu vermeiden.

Die derzeitigen Messmethoden für Autismus können die Besonderheiten bei weiblichen Betroffenen nicht erfassen

All diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Studienteilnehmerinnen soziale Interaktionen aktiver suchen und stärker auf soziale Ablehnung reagieren als die männlichen Probanden. Die Resultate passen also nicht zu dem auf Männern basierenden Modell stereotyper Autisten, die zurückhaltend sind und sich absichtlich sozial isolieren. Sie bestätigen stattdessen, dass sich die Störung bei Mädchen und Frauen anders äußert – oder genauer gesagt dass die derzeitigen Messmethoden für Autismus die Besonderheiten bei weiblichen Betroffenen nicht erfassen können. Niedrige Werte in Tests, die soziale Dysfunktion messen, bedeuten nicht zwangsläufig, dass Autistinnen wirklich weniger Probleme haben als Autisten.

Vielmehr spiegeln solche Ergebnisse ein lebenslanges Muster des Verstellens und der Tarnung wider. Die Betroffenen entwickeln Strategien, um ihre autismusbedingten sozialen Schwierigkeiten zu verbergen oder zu kompensieren. Das gelingt ihnen etwa dadurch, dass sie das Sozialverhalten anderer intensiv studieren und sich soziale Verhaltensregeln antrainieren – zum Beispiel wie lange man Augenkontakt hält oder über Witze lacht. Erst mit der Entdeckung dieser Form von Tarnung etablierte sich das Verständnis dafür, dass sich Autismus bei Mädchen und Frauen anders äußern kann. Ein Grund dafür könnte sein, dass Mädchen und Frauen eher dazu erzogen werden, sich still, ruhig und angepasst zu verhalten.

Dass viele Autistinnen erfolgreich ihre Symptome verbergen, mag auf den ersten Blick als durchaus sinnvolle Strategie erscheinen. Tatsächlich erweist sich dieses Verhalten im Alltag jedoch als sehr problematisch, da es oft mit Angst, Erschöpfung und Stress sowie chronischer Depression und Suizidgedanken verbunden ist.

Ein besseres Verständnis von Autismus

Neben großen Unterschieden gibt es allerdings auch Überschneidungen zwischen männlichen und weiblichen Betroffenen. So passen sich manche Jungen und Männer mit Autismus vergleichsweise stärker an gesellschaftliche Erwartungen an. Nicht alle männlichen Autisten ziehen sich zurück, genauso wie nicht alle weiblichen nach ausgeprägter sozialer Interaktion streben. Vielmehr gibt es Mädchen und Frauen, die klassische Anzeichen von Autismus zeigen; in der Regel bekommen diese dann auch leichter eine Diagnose.

Angesichts der jüngsten Erkenntnisse haben Fachleute neue Schätzungen zum Zahlenverhältnis von Männern zu Frauen mit Autismus veröffentlicht. Dieses dürfte viel ausgeglichener sein als bisher angenommen. Insbesondere groß angelegte Umfragen zu Autismusmerkmalen in der Allgemeinbevölkerung deuten sogar darauf hin, dass es mindestens genauso viele autistische Mädchen und Frauen wie Jungen und Männer geben könnte.

Die Geschichte der übersehenen Autistinnen zeigt, wie sehr Überzeugungen, die nicht hinterfragt werden, ein ganzes klinisches System beeinflussen können, von der Definition und Diagnose bis hin zur wissenschaftlichen Forschung auf dem Gebiet. Das verzerrt auch die öffentliche Wahrnehmung und erhält wenig hilfreiche Stereotypen aufrecht. Das neu entstehende Bewusstsein für den Geschlechterunterschied bei Autismus wird jetzt hoffentlich dazu beitragen, die Barrieren abzubauen, mit denen autistische Frauen konfrontiert sind, und zu einem besseren generellen Verständnis der Störung führen.

WEITERLESEN MIT »SPEKTRUM +«

Im Abo erhalten Sie exklusiven Zugang zu allen Premiumartikeln von »spektrum.de« sowie »Spektrum - Die Woche« als PDF- und App-Ausgabe. Testen Sie 30 Tage uneingeschränkten Zugang zu »Spektrum+« gratis:

Jetzt testen

(Sie müssen Javascript erlauben, um nach der Anmeldung auf diesen Artikel zugreifen zu können)

  • Quellen

McCrossin, R., Children 10.3390/children9020272, 2022

Rippon, G., Biology of Sex Differences 10.1186/s13293–024–00621–3, 2024

Wood-Downie, H. et al., Journal of Autism and Developmental Disorders 10.1007/s10803–020–04615-z, 2021

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.