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Autismus: Kaum Geschlechtsunterschiede bei autistischen Kleinkindern

Inwiefern gibt es geschlechtsspezifische Unterschiede in der Ausprägung von Autismus? Zumindest bezüglich Kleinkindern ist die Frage jetzt geklärt.
Zwei kleine Kinder laufen auf einem Schotterweg an einem Fluss in Richtung Sonnenuntergang. Das Mädchen trägt ein rotes und der Junge ein hellblaues T-Shirt. Der Himmel ist teils bewölkt und die Sonne steht tief am Horizont. Im Hintergrund sind Bäume und eine ruhige Landschaft zu sehen. Die Szene vermittelt ein Gefühl von Freiheit und Unbeschwertheit.
Die Frage nach klinischen Unterschieden zwischen Mädchen und Jungen mit Autismus sollte nicht unterschätzt werden. Klarheit über dieses Thema kann zu einer verbesserten Früherkennung führen.

Die Autismus-Spektrum-Störung (ASD für englisch: autism spectrum disorder) weist eine große Bandbreite auf, was die Ausprägung der Symptome angeht. In diesem Zusammenhang gibt es auch immer wieder Diskussionen über bestehende Geschlechterunterschiede. So wurde berichtet, dass betroffene Frauen im Vergleich zu Männern bessere soziale Fähigkeiten, subtilere autistische Züge, weniger repetitives Verhalten und bessere Sprachfähigkeiten aufweisen. Andere Studien hingegen fanden keine solchen Unterschiede. Hier Klarheit zu schaffen ist nicht nur wichtig für Diagnostik und Therapie – es könnte auch dabei helfen, den Ursachen von ASD auf den Grund zu kommen. Hierzu gibt es stark abweichende Theorien, wie etwa jene des extrem männlichen Gehirns oder jene des weiblichen Schutzeffekts.

Eine groß angelegte US-Studie mit mehr als 1500 autistischen Kindern zeigte nun, dass es im frühen Anfangsstadium praktisch keine klinischen Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen gibt – weder in sozialen noch in motorischen oder sprachlichen Fähigkeiten.

Das Team um Karen Pierce von der University of California, San Diego, in La Jolla untersuchte von 2002 bis 2022 mehr als 2500 Kleinkinder im Alter von 12 bis 48 Monaten. Von diesen waren 1500 autistisch, 600 normal entwickelt und 475 entwicklungsverzögert. Insgesamt umfasste die Testbatterie 19 verschiedene Tests zur Sprachentwicklung, zu den sozialen und motorischen Fähigkeiten und zur Autismus-Kernsymptomatik. Mit Hilfe der Eye-Tracking-Technologie ließ sich außerdem die soziale Aufmerksamkeit der kleinen Probanden untersuchen.

Tatsächlich fanden die Fachleute statistische Unterschiede zwischen den Jungen und Mädchen mit ASD – allerdings lediglich in solchen Tests, die auf Befragungen der Eltern beruhten. Hier schnitten die Mädchen auf der Skala »Fertigkeiten des alltäglichen Lebens« geringfügig besser ab. Auch bei dem elternbasierten kurzen Screening-Fragebogen, mit dem die Kinder für die Studie im Vorfeld selektiert worden waren, ergaben sich Geschlechterunterschiede. Alle anderen standardisierten, von Psychologen durchgeführten klinischen Tests fanden keine statistisch relevanten Abweichungen zwischen Mädchen und Jungen mit ASD.

Überraschend ähnlich

Das traf auch dann zu, wenn die Kinder nach dem Schweregrad der Störung eingeteilt wurden, also in geringe, mittlere und hohe Leistungsfähigkeit. Innerhalb der drei Subtypen wiesen Mädchen und Jungen eine ähnliche Symptomschwere und ein ähnliches soziales, sprachliches, kognitives und soziales Leistungsniveau auf. Darüber hinaus waren die Geschlechter gleichermaßen auf die drei Niveaus verteilt. Mädchen mit ASD waren im Vergleich zu entsprechenden Jungen also weder überproportional beeinträchtigt noch leistungsfähiger.

»Auf der Grundlage früherer kleinerer Studien hatten wir erwartet, dass es einige geschlechtsspezifische Unterschiede bei ASD geben würde. Daher waren wir etwas überrascht, dass wir überhaupt keine gefunden haben«, so Karen Pierce in einer Pressemitteilung. Möglicherweise bildeten sich solche Unterschiede erst allmählich heraus, auch angetrieben durch psychosoziale Faktoren wie Sozialisation oder biologische Einflüsse. Um diese Möglichkeit zu untersuchen, seien jedoch weitere groß angelegte Studien erforderlich, die autistische Kinder vom Kleinkind- bis zum Schulalter und darüber hinaus verfolgen.

  • Quellen
Sanaz, N. et al.: Large-scale examination of early-age sex differences in neurotypical toddlers and those with autism spectrum disorder or other developmental conditions. Nature Human Behavior, 2025

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