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Autismus-Spektrum-Störungen: »Nahrungsergänzungsmittel als Autismus-Therapie sind ein Problem«

Von bestimmten Formen des Eltern-Kind-Trainings über Medikamente bis hin zu Nahrungsergänzungsmitteln: In Deutschland werden zahlreiche Therapien bei Autismus angeboten. Doch nicht alle wirken, erklärt die Kinder- und Jugendpsychiaterin Christine Freitag.
Ein Arzt gibt einem Kind eine Tablette in die Hand.
Eine Tablette, die Autismussymptome abschwächt, gibt es bislang nicht. Ebenso wenig bringen in dieser Hinsicht Nahrungsergänzungsmittel oder Vitamine.

Wird bei einem Kind eine Autismus-Spektrum-Störung diagnostiziert, sehen sich Eltern oft mit einer Fülle von Therapieoptionen konfrontiert – von verhaltenstherapeutischen Angeboten über Medikamente und Nahrungsergänzungsmittel bis hin zu Neurofeedback. Doch längst nicht alles davon ist evidenzbasiert, sagt die Kinder- und Jugendpsychiaterin Christine Freitag. Im Interview erklärt sie, von welchen Methoden Eltern und Betroffene Abstand nehmen sollten und wann eine Therapie bei Autismus überhaupt sinnvoll ist.

»Spektrum.de«: Frau Freitag, Sie haben die S3-Leitlinie zur Therapie bei Autismus-Spektrum-Störungen mitentwickelt, die 2021 veröffentlicht wurde. Aber braucht überhaupt jeder Autist eine Behandlung?

Christine Freitag: Nein. Nicht jede Person mit Autismus-Spektrum-Störung benötigt eine psychosoziale oder medikamentöse Therapie. Diese ist nur notwendig, wenn der oder die Betroffene oder die Eltern das wünschen. Und wenn eine Therapie mit hoher Wahrscheinlichkeit die Lebensqualität oder die Teilhabe am sozialen Leben verbessern kann.

Was ist das Ziel von psychosozialen und medikamentösen Therapien bei Autismus?

Je nach Alter, Schweregrad und Symptomen können die Therapieziele ganz unterschiedlich aussehen. Grundsätzlich kann es in jedem Alter das Ziel einer Therapie sein, die soziale Interaktions- und Kooperationsfähigkeit insbesondere mit Gleichaltrigen zu fördern und störende stereotype Verhaltensweise zu reduzieren. Alltagspraktische Verhaltensweisen lassen sich ebenfalls ausbauen. Auch die Behandlung von zusätzlich auftretenden psychischen Störungen, die bei mehr als der Hälfte der Betroffenen vorliegen, kann das Ziel einer Therapie sein. Im Kleinkindalter kommen dann noch Sprachförderung und kognitive Förderung hinzu.

Kurz erklärt: Autismus-Spektrum-Störung

Autisten haben in aller Regel Schwierigkeiten, soziale Bande zu anderen Menschen zu knüpfen. Es fällt ihnen schwer, mit anderen zu kommunizieren und deren nonverbale Signale und Gefühle zu deuten. Ihr Verhalten ist oftmals unflexibel, Veränderungen werfen sie leicht aus der Bahn. Manche von ihnen neigen zu repetitiven Verhaltensmustern und wiederholen unermüdlich die gleichen Handlungen, wieder und wieder. Insgesamt ist das Autismus-Spektrum aber breit: Die Symptome reichen von schwer bis mild, Betroffene können geistig stark beeinträchtig sein oder über eine durchschnittliche, mitunter sogar hohe Intelligenz verfügen.

Was wäre ein Beispiel für eine wirksame Therapiemethode?

Es gibt verhaltenstherapeutische Methoden, deren Nutzen gut belegt ist, etwa die entwicklungsorientierte Frühintervention mit dem so genannten natürlichen Lernformat. Dabei üben Eltern und Kinder in natürlichen Situationen, in denen das Kind ohnehin eine hohe Motivation zeigt, zum Beispiel, wenn es ein Spielzeug erreichen will, das außer Reichweite liegt. Das Kind wird dann beispielsweise aufgefordert, nach dem Spielzeug zu fragen, und entsprechend durch den Erhalt des Spielzeugs belohnt, wenn es dies tut.

In Deutschland werden inzwischen zahlreiche verschiedene Therapien bei Autismus-Spektrum-Störungen angeboten. Schaut man sich diese Methoden näher an, bekommt man den Eindruck, dass einige von ihnen ein Evidenzproblem haben. Stimmt das?

Christine Freitag | Die Expertin für autistische Erkrankungen und ADHS ist Direktorin der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters mit zugehörigem Autismus-Therapie- und Forschungszentrum am Universitätsklinikum Frankfurt am Main. Zudem ist sie W3-Professorin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie an der Goethe-Universität und hat die Arbeit der S3-Leitlinie »Autismus-Spektrum-Störungen im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter, Teil 2: Therapie« federführend koordiniert.

Ja, das ist richtig. Es gibt Behandlungen, bei denen die Wirkung zumindest fragwürdig ist. Für andere wurde wiederum bereits nachgewiesen, dass sie wirkungslos sind.

In der Leitlinie zur Therapie von Autismus, an der Sie mitgewirkt haben, hat die in Deutschland verbreitete Musiktherapie schlecht abgeschnitten und keine Empfehlung bekommen. Warum nicht?

Bei der Musiktherapie soll durch das aktive Musizieren ein nonverbaler Kontakt und eine Beziehung zu dem betroffenen Kind aufgebaut werden. Fragt man Musiktherapeuten, sehen diese tatsächlich, dass sich die soziale Interaktion der Patienten mit ihnen als Therapeuten verbessert. Und das stimmt auch. Aber die soziale Interaktionsfähigkeit von autistischen Kindern wird durch jede gute Interaktion in der Therapiesituation besser. Die große Frage ist, ob sich das auch jenseits der Therapiesituation auf den Alltag auswirkt. Und dafür gibt es bei der Musiktherapie bislang keine ausreichende Evidenz.

Nun hat eine relativ neue Übersichtsarbeit jedoch Hinweise auf eine Reihe günstiger Effekte von Musiktherapie bei Autisten gefunden. Wie schätzen Sie das ein?

Das stimmt. Die Arbeit ist allerdings methodisch problematisch. So werden Untersuchungen mit allen möglichen Studiendesigns durcheinandergeworfen, darunter Einzelfallstudien. In den Leitlinien haben wir uns hingegen auf randomisiert-kontrollierte Studien beschränkt, weil diese der Goldstandard der Forschung sind.

Nicht gut abgeschnitten in der Leitlinie hat auch das TEACCH-Programm (»Treatment and Education of Autistic and related Communication handicapped Children«). Bei dieser Eltern-Kind-Therapie sollen zudem die sozial-kommunikativen Fähigkeiten der betroffenen Kinder gefördert werden.

Das Programm ist in Deutschland relativ verbreitet, da es früh aus dem Amerikanischen übersetzt wurde. Die sozial-kommunikativen Fertigkeiten der Kinder verbessern sich durch das Programm aber nicht, das wurde mehrfach gezeigt. Im Rahmen des Trainings wird mit den visuellen Stärken von vielen autistischen Kindern gearbeitet, was an sich sehr positiv ist. Was in TEACCH jedoch kaum enthalten ist, sind Sprach- und Interaktionsförderung. Das Spielverhalten wird ebenso wenig trainiert. Deswegen hat es bei Kleinkindern keinen Effekt auf die Sprachentwicklung und auf die sozial-kommunikative, autistische Symptomatik. Was das Programm gut macht: Es hilft den Tagesablauf zu strukturieren, was für Autisten sehr wichtig ist.

Ein Mittel, zu dem verzweifelte Eltern mit autistischen Kindern immer wieder greifen, sind Nahrungsergänzungsmittel wie Vitamin-B- und Vitamin-D-Präparate. Was halten Sie davon?

Nahrungsergänzungsmittel sind leider beliebt und ein echtes Problem. Wenn man Kindern ab und zu Vitamin-D-Präparate gibt, ist das nicht schlimm. In hohen Dosen sind Vitamine und Nahrungsergänzungsmittel jedoch gesundheitsschädlich. Eltern wissen oft nicht einmal genau, was sie sich von Nahrungsergänzungsmitteln erhoffen, wenn sie ihren Kindern solche Präparate geben. Sie wollen einfach nur, dass es besser wird. Dann probieren sie ganz viel aus. Leider gibt es auch in Deutschland Ärzte, die Labortests anbieten und dann behaupten, die Kindern bräuchten dieses oder jenes Nahrungsergänzungsmittel, ohne zu definieren, was dadurch genau besser werden soll. Das alles zahlen die Eltern in der Regel privat.

»Längst ist relativ klar, dass Neurofeedback weder die autistische Symptomatik noch die Sprache verbessern kann«

Vor einigen Jahren hat bei Autismus das so genannte Neurofeedback von sich reden gemacht, bei dem Kinder über EEG und einen Computer grafisch oder akustisch ihre Hirnwellen rückgemeldet bekommen. Auf diese Weise sollen sie lernen, ihr Gehirn in einen bestimmten Zustand zu bringen. Haben sich die Hoffnungen erfüllt?

Neurofeedback zur Therapie von Autismus wird in Deutschland immer wieder von Laboren angeboten. Und Eltern geben viel Geld dafür aus. Dabei ist Neurofeedback wissenschaftlich kaum mehr ein Thema. Längst ist relativ klar, dass man damit weder die autistische Symptomatik noch die Sprache verbessern kann. Es verändert auch nicht die Art und Weise, wie die Betroffenen mit anderen Menschen interagieren.

Was bringt die Behandlung mit Medikamenten?

Hier muss man klar unterscheiden: Was man medikamentös nicht verbessern kann, ist die Fähigkeit, sozial zu interagieren. So hat etwa die Gabe des »Kuschelhormons« Oxytozin, das für Empathie und soziale Bindung eine wichtige Rolle spielt, basierend auf der aktuellen Studienlage keinen Effekt diesbezüglich. Allerdings lassen sich mit Medikamenten begleitende Störungen behandeln, die bei Autismus sehr häufig vorkommen.

Haben Sie Beispiele?

Typische Beispiele sind Aggressionen oder ADHS. Verhält sich ein Kind besonders aggressiv, können atypische Antipsychotika wie Risperidon helfen. Allerdings sollten solche Medikamente nur im Zusammenhang mit einem Elterntraining verordnen werden. Dabei werden die Eltern dazu angeleitet, mit dem Kind richtig umzugehen, nämlich wertschätzend und motivierend.

Und was kann bei Autismus und ADHS helfen?

Wenn Kinder neben Autismus auch ADHS haben, kann Methylphenidat eingesetzt werden, besser bekannt unter dem Markennamen Ritalin. Es kann das hyperaktive oder impulsive Verhalten positiv beeinflussen. Atomoxetin ist hier ebenfalls gut wirksam.

Was sind die Gründe dafür, dass manche Therapien, die in Deutschland angebotene werden, nicht evidenzbasiert sind? Mangelt es an guten Studien mit ausreichend Probanden, wie manche Kritiker behaupten?

Von der Probandenzahl her könnten die Studien immer größer sein. Man muss allerdings ehrlich sagen, dass es zu häufigen Krankheiten wie zum Beispiel Angststörungen im Kindes- und Jugendalter wesentlich weniger Studien gibt als zu Autismus. Im Vergleich dazu ist die Studienlage bei Autismus im Kindes- und Jugendalter hervorragend. Viel wichtiger ist es, die Erkenntnisse, die wir haben, umzusetzen.

»Das Hauptproblem ist: Wir haben zwei Finanzierungssysteme in Deutschland«

Gibt es denn Probleme bei der Umsetzung?

Die gibt es tatsächlich. Das Hauptproblem ist: Wir haben zwei Finanzierungssysteme in Deutschland. Zum einen gibt es die Krankenkassen, die kinderpsychiatrische Behandlungen finanzieren. Sie haben mittlerweile Maßnahmen der Qualitätssicherung eingeführt. Und es gibt das Sozialgesetzbuch IX, über das Behandlungen in Autismus-Therapiezentren in Deutschland finanziert werden. Letzteres läuft unter Wiedereingliederung von Menschen mit Behinderungen. In diesen Zentren herrscht teilweise Unkenntnis darüber, welche breiten therapeutischen Möglichkeiten zum Erreichen der unterschiedlichen Therapieziele sinnvoll eingesetzt werden sollten. Das Personal hat vielfach keine verhaltenstherapeutische Ausbildung sowie wenig Wissen um die Möglichkeiten der medikamentösen Therapie oder (teil-)stationären Behandlung. Und es gibt hier keine gesetzlich vorgeschriebenen Maßnahmen zur Qualitätssicherung.

Ist also eine Behandlung in einem Autismus-Therapiezentrum keine gute Idee?

Da muss man natürlich differenzieren. Es gibt sehr gute Zentren, die sich mit der Leitlinie auseinandersetzen und wirksame Therapien wie beispielsweise Elterntrainings und Gruppentherapien oder auch entwicklungsorientierte Frühförderung anbieten. Auch an meiner Klinik existiert ein Autismus-Therapiezentrum, das über SGB IX finanziert wird und an dem wir leitliniengerecht vernetzt mit dem medizinischen Sektor arbeiten.

Was würde Sie Eltern raten, die auf der Suche nach einem Therapieplatz für ihr Kind sind?

Das hängt ein bisschen vom Alter, den zusätzlich vorliegenden psychischen Störungen und der aktuellen Fragestellung ab. Grundsätzlich sollte bei der Diagnosestellung eine Beratung hinsichtlich der sinnvollen und notwendigen Therapiemöglichkeiten einschließlich medikamentöser Therapie erfolgen. Die lokalen Angebote sollten hier ebenfalls beachtet werden. Weitere Informationsmöglichkeiten bieten Ratgeber und Broschüren, die in seriösen Verlagen veröffentlicht wurden, oder auch die S3-Leitlinie. Das Internet liefert leider eine unüberschaubare Flut an Informationen, die teilweise widersprüchlich sind, ist also nicht der beste Ratgeber.

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