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Awaren in Niederösterreich: 150 Jahre kein Sex mit den Nachbarn

Zwei Gemeinschaften der Awaren lagen nur 20 Kilometer auseinander. Doch genetisch trennten sie Welten: Die Wurzeln der einen lagen in Ostasien, die der anderen im Westen.
Zwei ovale, metallene Reliefplatten auf braunem Hintergrund zeigen jeweils einen stilisierten Adler mit ausgebreiteten Flügeln. Die Platten sind kunstvoll mit detaillierten Federmustern verziert. Beide Adler halten kleine Vögel in ihren Krallen. Die Platten sind antik und scheinen aus Silber gefertigt zu sein, mit goldenen Akzenten.
Zwei silberne Zierscheiben aus der Spätphase der Awarenzeit. Nicht nur durch ihre Sitten und Gebräuche ähnelten sich die beiden Gemeinschaften in Niederösterreich, sie gaben ihren verstorbenen Angehörigen auch ähnlichen Schmuck mit ins Grab.

Die Awaren lebten ursprünglich als Viehzüchter in den Steppengebieten der heutigen Mongolei, bis sie im Jahr 552 von Turkvölkern vertrieben wurden. Rund 15 Jahre später tauchten sie im Karpathenbecken auf. Hier, im heutigen Ungarn, errichteten sie das Zentrum ihres neuen Reichs.

Doch Funde von awarischen Siedlungen und den zugehörigen Gräberfeldern gibt es noch um einiges weiter westlich, so etwa im Umfeld der österreichischen Hauptstadt Wien. Dort haben Forschende nun eine unerwartete Entdeckung gemacht. Sie analysierten das Erbgut der Toten zweier benachbarter awarischer Gräberfelder, die um die Mitte des 7. Jahrhunderts angelegt wurden und bis zu Beginn des 9. Jahrhunderts in Benutzung waren. Dabei zeigte sich: Nur die Angehörigen der einen Gemeinschaft hatten genetisch gesehen ostasiatische Wurzeln.

Das Erbgut der anderen ähnelte nahezu komplett dem zeitgenössischer Europäer, wie man sie weiter im Westen sowie bei Gruppen findet, die mit den Slawen in Verbindung gebracht werden. In Sitten und Gebräuchen unterschieden sich beide Gruppen jedoch nicht. Beide waren typische Awaren.

Das schreiben Walter Pohl von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und Zuzana Hofmanová vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig im Fachmagazin »Nature«. Bemerkenswert ist dieser Befund, weil die beiden Gräberfelder nur gut 20 Kilometer voneinander entfernt liegen und dennoch die genetische Trennung über 150 Jahre aufrechterhielten – bis das Awarenreich im Jahr 800 von den Franken überrannt wurde.

Tatsächlich ähnele das Erbgut der Menschen, die in der Ortschaft Leobersdorf ausgegraben wurden, eher dem von Awaren, die 400 Kilometer entfernt im Zentrum ihres Reichs lebten, als dem von den Nachbarn, die nur einen Fußmarsch entfernt unweit der heutigen Ortschaft Mödling siedelten.

Für dieses verblüffende Muster machen die Wissenschaftler eine Tradition der Awaren verantwortlich, die bereits bei früheren Untersuchungen zu Tage getreten war: Männer blieben in diesen Gemeinschaften in ihrem Geburtsort wohnen, heirateten aber praktisch immer Frauen, die von weither stammten. Ganz offensichtlich griffen die Awaren von Leobersdorf auf andere Heiratsnetzwerke zurück als die Awaren von Mödling.

Dass beide Gruppen diese patrilineare Heiratspolitik pflegten, lässt sich an den Verwandtschaftsverhältnissen ablesen. Aus den DNA-Daten der knapp 500 Toten aus Mödling und der 150 Toten aus Leobersdorf sowie weiterer awarenzeitlicher Bestattungen im Umfeld Wiens ließen sich Stammbäume über fünf Generationen zurückverfolgen. Von kaum einer Frau, von der auch Nachkommen in den Gräberfeldern bezeugt sind, fanden sich Eltern oder Großeltern.

Schwager heiratet Witwe

Darüber hinaus fanden sich in beiden Gräberfeldern weitere Hinweise auf typisch awarische Familiensitten, so zum Beispiel die der Schwagerehe. Dabei nimmt nach dem Tod eines verheirateten Mannes ein naher Angehöriger, etwa ein Bruder, die Witwe zur Frau. Diese Praxis hatten Wissenschaftler schon bei Untersuchungen in Ungarn gefunden. Der Vergleich zeigt jedoch, dass sie dort durchgehender angewendet wurden als in der Peripherie des Awarengebiets.

Die aktuelle Studie liefert einen eindrücklichen Beleg dafür, dass Kulturen und genetische Abstammungslinien nicht immer deckungsgleich sein müssen. »Die kulturelle Integration funktionierte offenbar trotz großer genetischer Unterschiede, und diese Menschen wurden offensichtlich auch als Awaren angesehen«, wird Koautor Walter Pohl in einer Pressemitteilung des Leipziger Max-Planck-Instituts zitiert.

Die Awaren, die sogar im Jahr 626 – wenn auch vergeblich – Konstantinopel attackierten, gelten eigentlich als kriegerisches Volk. In der Region des Wiener Beckens hatte ihre Anwesenheit jedoch zu einer vergleichsweise friedfertigen Epoche geführt. »Wir finden an den Skeletten keine Verletzungen, die auf Kampfhandlungen zurückzuführen sind, und es gibt kaum Anzeichen für Mangelerscheinungen«, erklärt Doris Pany-Kucera, Anthropologin am Naturhistorischen Museum Wien und ebenfalls unter den Erstautoren der Studie, in der Pressemitteilung. Auch Waffen wurden nur selten in die Gräber gelegt.

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