Evolution: Begann das Leben mit dem Stoffwechsel?

Vor vier Milliarden Jahren war unser Planet nur von Wasser, Fels und Geröll bedeckt. In dieser trostlosen Umgebung entwickelten sich irgendwann komplexe Netzwerke aus chemischen Reaktionen – möglicherweise in einem flachen Teich, an einer heißen Quelle auf dem Meeresgrund oder in einer tektonischen Spalte. Sie wurden in Lipidbläschen eingeschlossen, woraus schließlich zellähnliche Gebilde hervorgingen, die sich selbst vervielfältigten. An ihnen konnten die Mechanismen der Evolution ansetzen und ließen die Gebilde nach und nach immer komplexer werden: Das Leben war entstanden. So jedenfalls lautet die Kurzfassung des heutigen Kenntnisstands dazu.
Die große Frage: Wie ist das vonstattengegangen? Hier gibt es ein Henne-Ei-Problem. Enzyme – jene Proteine, die in Zellen dafür sorgen, dass lebenswichtige biochemische Reaktionen ablaufen – werden in der Zelle nach Bauanweisungen hergestellt, die auf Erbmolekülen wie DNA oder RNA gespeichert sind. Dieses Erbmaterial konnte es am Anfang aber nicht geben. Denn um es herzustellen, sind Enzyme nötig. Was also brachte das Ganze ins Rollen?
Fachleute haben lange vermutet, dass das Erbmaterial zuerst da war, und zwar in Form von RNA, einer nahen Verwandten der DNA. RNA ist außergewöhnlich, weil sie zweierlei kann: genetische Informationen speichern und chemische Reaktionen katalysieren. Vielleicht sammelten sich in einem flachen Tümpel auf der frühen Erde einfach aufgebaute Moleküle an und erreichten durch allmähliches Verdunsten des Gewässers eine immer höhere Konzentration, bis sie sich zu RNA-Strängen zusammenschlossen, welche ihre eigene Vermehrung katalysieren konnten. Die könnten dann der Startpunkt des Lebens gewesen sein. Allerdings ist es bisher niemandem gelungen, RNA spontan unter Bedingungen entstehen zu lassen, welche die Verhältnisse auf der frühen Erde nachbildeten. »Es gibt zwar viele Ideen, wie das damals abgelaufen sein könnte, aber sie wirken immer ein wenig konstruiert«, sagt Albert Fahrenbach, organischer Chemiker an der University of New South Wales in Sydney.
Unklarer Start
Es sei schwer vorstellbar, dass sich ein System selbstreplizierender RNA-Moleküle ganz von allein organisiert haben soll, findet der Chemiker Robert Pascal, der an der Universität Aix-Marseille in Frankreich über die Entstehung des Lebens forscht. »Daran dürfte inzwischen niemand mehr so recht glauben, der sich mit dem Thema auskennt.«
Eine andere Möglichkeit lautet, dass der biochemische Stoffwechsel zuerst da war, hervorgegangen aus geochemischen Abläufen außerhalb biologischer Zellen, und die Erbmoleküle erst später auftauchten. In diesem Szenario liefen die beteiligten chemischen Reaktionen zunächst ganz ohne Enzyme und daher sehr langsam ab. Sie kamen nur deshalb überhaupt in Gang, weil sie thermodynamisch begünstigt waren und vermutlich durch Wärme und die Anwesenheit bestimmter Metalle beschleunigt wurden. Enzyme, die katalytisch deutlich wirksamer waren, entstanden erst später.
Wenn das so abgelaufen ist, dann wurden bestimmte geochemische Reaktionsnetzwerke auf der frühen Erde allmählich immer schneller und komplexer, bis sie sich irgendwann mit Lipidmembranen und einem molekularen Vererbungsapparat verbanden. Dabei wandelte sich die Geochemie nach und nach zur Biochemie. Das Szenario mag einleuchtend klingen, doch lange ließ es sich experimentell nicht belegen. In den zurückliegenden Jahren ist es Fachleuten allerdings gelungen, enorm viele Kombinationen von chemischen Stoffen und Umgebungsbedingungen durchzutesten und dabei Wege zu finden, um zentrale Stoffwechselreaktionen lebender Zellen nachzubilden – und zwar ganz ohne Enzyme.
Die Idee, dass die Geochemie der Biochemie vorausging, stütze sich mittlerweile auf viele Belege, betont Susan Lang, Geochemikerin an der Woods Hole Oceanographic Institution in Massachusetts, USA. Schon 1910 kam der russische Biologe Konstantin Sergejewitsch Mereschkowski zu dem Schluss, dass die frühesten biologischen Zellen ihre organischen Bestandteile aus anorganischen Substanzen hergestellt haben mussten. Genauer gesagt mussten sie über Mechanismen verfügen, um Wasserstoff (H₂) und Kohlenstoffdioxid (CO₂) in organische Verbindungen wie Fettsäuren, Zucker und Aminosäuren umzuwandeln.
In den frühen 2000er Jahren äußerten der Mikrobiologe William Martin von der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und der Geochemiker Michael Russell vom Jet Propulsion Laboratory der NASA in Kalifornien die Vermutung, das Leben könnte an heißen Quellen in der Tiefsee entstanden sein. Dort laufen Reaktionen ab, die entsprechende Produkte erzeugen. In und um heiße Tiefseequellen reagiert eisenhaltiges Gestein mit Wasser, wobei Wasserstoff entsteht. Dieser kann anschließend mit CO₂ reagieren und dabei einfache organische Moleküle hervorbringen, die für biochemische Abläufe in Zellen von zentraler Bedeutung sind: beispielsweise Formiate (Abkömmlinge der Ameisensäure) mit einem Kohlenstoffatom, Acetate (Abkömmlinge der Essigsäure) mit zwei Kohlenstoffatomen und Pyruvate (Abkömmlinge der Brenztraubensäure) mit drei Kohlenstoffatomen.
Uralte Umwandlungen
Inspiriert von diesen Erkenntnissen untersuchten Lang und ihre Forschungsgruppe im Jahr 2010 ein Gebiet mit heißen Tiefseequellen inmitten des Atlantiks, »Lost City« genannt. Das Team wies nach, dass in den Quellen tatsächlich organische Moleküle entstehen, und zwar unabhängig von den dort siedelnden Mikroorganismen. Darüber hinaus stellten die Fachleute fest: Die entsprechenden geochemischen Reaktionen schreiten im Quellsystem in der gleichen Reihenfolge fort wie in den Mikroben, die im Umfeld der Quellen leben und organische Moleküle aus CO2 und Wasserstoff herstellen. Das passt gut zu der Idee, biochemische Reaktionen seien ursprünglich aus geochemischen hervorgegangen und katalysierende Enzyme erst später hinzugekommen.
Ein Umwandlungsprozess, der dabei eine maßgebliche Rolle spielt, ist der so genannte reduktive Acetyl-CoA-Weg. Er ist uralt, wie William Martin und sein Team zeigen konnten. Man hat ihn sowohl im Stoffwechsel von Bakterien als auch Archaeen nachgewiesen, zwei der ursprünglichsten Organismengruppen im großen Stammbaum des Lebens. Das lässt vermuten, dass der Acetyl-CoA-Weg bereits im letzten gemeinsamen Vorfahren aller irdischen Lebewesen angelegt war.
Um drei Kohlenstoffatome enthaltende Pyruvate herzustellen, benötigen heutige Mikroben allerdings mehr als 120 Enzyme. Kaum vorstellbar, dass sich das im Reagenzglas nachmachen lässt, ohne Enzyme zu benutzen, die es in der Geburtsstunde des Lebens ja noch nicht gegeben haben kann. William Martin, seine damalige Studentin Martina Preiner, der Chemiker Joseph Moran von der University of Ottawa in Kanada und weitere konnten dennoch zeigen: Ja, das ist möglich.
Die chemischen Experimente lieferten verlässlich Formiate, Acetate, Pyruvate, den Alkohol Methanol sowie Methan – alles Substanzen, die auch Bakterien herstellen
Preiner experimentierte mit speziellen chemischen Reaktoren – Reaktionsgefäßen, in denen sich hohe Temperaturen und Drücke dauerhaft aufrechterhalten lassen. Dort hinein gab sie Kohlenstoffdioxid, Wasser sowie Metalle wie Eisen oder Nickel in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen. Das Ganze ließ sie über Nacht reagieren. Der Durchbruch gelang ihr, als sie erkannte, dass sie dabei jeweils nur eine Metallsorte als Katalysator verwenden darf und die Wasserstoffkonzentration kontrollieren muss. Dann lieferten die Reaktoren verlässlich Formiate, Acetate, Pyruvate, den Alkohol Methanol sowie Methan – alles Substanzen, die auch Bakterien herstellen.
»Die katalysierenden Metalle in unseren Reaktoren ersetzen 127 Enzyme und liefern fünf biochemische Produkte – genau diejenigen, die im Stoffwechsel von lebenden Zellen entstehen«, zeigt sich William Martin begeistert. Die Fachleute merken an, dass Eisen und Nickel in heißen Tiefseequellen häufig vorkommen, wo sie die präbiotische Chemie in Gang gebracht haben könnten. Bemerkenswert ist, dass sich diese Metalle auch heute noch in den aktiven Zentren von Enzymen finden, die im Zellstoffwechsel den Acetyl-CoA-Weg katalysieren. »Vermutlich waren die Metalle zuerst da und sind später von den Enzymen inkorporiert worden«, postuliert Martin. »Bis heute sind die Metalle die zentralen katalytisch wirksamen Teile der Enzyme.«
Metalle kamen auf der jungen Erde reichlich vor. Insbesondere Eisen sei damals omnipräsent gewesen, erläutert Markus Ralser, Stoffwechselexperte an der Charité Berlin. »Weil das Element überall verbreitet war, wirkte es an allen möglichen chemischen Reaktionen mit, und das ist der Grund, warum es noch im Stoffwechsel heutiger Zellen nahezu überall eine Rolle spielt.«
Ausgangspunkt für das Leben
Pyruvate, die in den Reaktionsgefäßen von Preiner, Martin und ihrem Team unter geeigneten Bedingungen spontan entstehen, sind im Zellstoffwechsel wichtige Ausgangsstoffe für weitere biochemische Reaktionen – insbesondere solche, die Aminosäuren und Nukleotide hervorbringen. Zellen benötigen Aminosäuren, um daraus Proteine herzustellen, und Nukleotide, um daraus DNA beziehungsweise RNA zu machen. Im Zentrum dieser Umwandlungsreaktionen steht der so genannte reduktive Citratzyklus, der es heutigen Mikroben erlaubt, CO2 zum Aufbau eigener Biomoleküle zu nutzen, und zu dessen wichtigsten Zwischenprodukten Pyruvat zählt.
Seit beinahe zehn Jahren arbeitet Joseph Moran daran, den reduktiven Citratzyklus außerhalb von Zellen ablaufen zu lassen. Als er damit begann, gab es zwar viele Hypothesen dazu, wie das Leben entstanden sein könnte, aber nur wenige »harte« Daten aus einschlägigen Versuchen. Moran wollte seine Expertise auf dem Feld der chemischen Katalyse nutzen, um zu mehr experimentellen Erkenntnissen zu kommen.
Für den Chemiker bestand das größte Problem darin, dass die Reaktionen des reduktiven Citratzyklus zwar theoretisch möglich sind – also, einmal in Gang gekommen, von selbst ablaufen. Doch manche der beteiligten Schritte erfordern eine hohe Aktivierungsenergie. Das ist so, als wenn man mit einem Schlitten einen langen Hang hinunterrodeln wollte, dazu aber erst einmal einen Wall überwinden müsste. Die entscheidende Frage lautete daher: Lässt sich die hohe Anfangshürde ohne Enzyme nehmen? Und wenn ja, unter welchen Bedingungen?
Nicht zu lange nachdenken
»Ich bin das Problem aus der Sicht eines Katalyseforschers angegangen«, erinnert sich Moran. »Meine Herangehensweise war: nicht zu lange nachdenken, sondern stattdessen ins Labor gehen und möglichst viele Experimente parallel laufen lassen, um zu schauen, ob sich daraus ein nützlicher Ansatz ergibt.«
Seit 2015 erforscht Moran gemeinsam mit seinem Team alle elf zentralen Reaktionen des reduktiven Citratzyklus. Sie ließen jede der Reaktionen in Anwesenheit sämtlicher metallischer und nichtmetallischer Katalysatoren ablaufen, die ihnen zu Verfügung standen, und zwar unter den verschiedensten Temperaturen, pH-Werten und in Gegenwart diverser Minerale.
Daneben nahm das Team auch Reaktionen unter die Lupe, die von dem Zyklus abzweigen und aus denen wichtige biochemische Stoffe wie Nukleotide, Aminosäuren und Zuckerphosphate hervorgehen. Dank automatischer Versuchseinrichtungen liefen die Experimente rund um die Uhr für insgesamt drei Jahre.
2019 berichtete Morans Team, neun von elf zentralen Zwischenprodukten des reduktiven Citratzyklus ohne Enzyme hergestellt zu haben. Außerdem fand es Bedingungen, unter denen sechs der zugehörigen elf Reaktionen gemeinsam im selben Reaktionsgefäß abliefen. »Der Großteil dieser Umwandlungsschritte scheint so simpel zu sein, dass dafür keine Enzyme erforderlich sind«, erläutert Moran. »Wir müssen aber auch realistisch bleiben: Bislang ist es nicht gelungen, Bedingungen zu finden, unter denen der vollständige Zyklus nichtenzymatisch abläuft.«
»Herauszufinden, wie diese Reaktionen auch nichtenzymatisch ablaufen können, zählt zu den wichtigsten Forschungsbeiträgen der vergangenen 50 Jahre auf diesem Gebiet«Martina Preiner, Biochemikerin
Moran ist dennoch zuversichtlich, dass dies irgendwann glücken kann. Man müsse nur ein wenig kreativ sein, um Verhältnisse zu identifizieren, unter denen auch die komplizierteren Reaktionen ohne Enzyme stattfinden. Dazu zähle etwa der erste Schritt des Zyklus: der Umbau von Pyruvat zu Oxalacetat.
»Was Joseph in den zurückliegenden zehn Jahren erreicht hat, ist wirklich beeindruckend«, sagt Preiner, die heute eine Forschungsgruppe am Max-Planck-Institut für terrestrische Mikrobiologie in Marburg leitet. »Herauszufinden, wie diese Reaktionen auch nichtenzymatisch ablaufen können, zählt zu den wichtigsten Forschungsbeiträgen der vergangenen 50 Jahre auf diesem Gebiet.«
Geheimnisvolle Kofaktoren
Preiner und Moran setzen ihre empirischen Arbeiten zum Ursprung des Lebens fort, konzentrieren sich dabei aber inzwischen auf so genannte Kofaktoren. Das sind kleine Moleküle, die Enzyme funktional unterstützen. Kofaktoren haben eine enorme Bedeutung. Die Verbindung Nicotinamid-Adenin-Dinukleotid (NAD+) beispielsweise, die zu ihnen gehört, transportiert Elektronen zwischen Molekülen – was viele Reaktionen überhaupt erst ermöglicht. Eine andere Verbindung namens SAM überträgt Methylgruppen auf organische Verbindungen. »Sie übernehmen im biochemischen Stoffwechsel zwar relativ einfache, aber sehr zentrale und wichtige Aufgaben«, sagt Preiner. Es sei naheliegend anzunehmen, dass diese oder ähnliche Substanzen bereits in der Frühphase des Lebens eine Rolle spielten. Preiner und Moran möchten herausfinden, welche Rolle das war und wie Kofaktoren zunächst in geochemische, dann in biochemische Prozesse eingebunden wurden.
Manche heutige Kofaktoren können eine katalytische Wirkung haben, die vergleichbar ist mit der von Enzymen. Einige beschleunigen sogar ihre eigene Entstehung. Es erscheine deshalb plausibel, so Moran, dass sie präbiotische Reaktionen an der Schwelle zum Leben vorangetrieben haben. Womöglich haben sie so den Übergang von der Geo- zur Biochemie befördert.
Moran und Preiner vermuten zudem, dass Kofaktoren an einem entscheidenden Schritt der zellulären Evolution beteiligt waren: dem Entstehen von Erbsubstanz. NADH beispielsweise – das Nicotinamid-Adenin-Dinukleotid in chemisch reduzierter Form – besteht aus zwei Nukleotiden, also jenen Bausteinen, aus denen sich RNA und DNA zusammensetzen. »Auf der jungen Erde könnten Kofaktoren in sehr großer Menge entstanden sein, was möglicherweise zur Folge hatte, dass sie unterschiedliche Funktionen übernahmen«, sagt Preiner. »Einige wirkten vielleicht am Aufbau von Nukleinsäuren mit, andere beteiligten sich am Stoffwechsel.«
Bei alldem ist den Fachleuten klar, dass sie den Ursprung des Lebens niemals bis ins Detail werden rekonstruieren können. Denn diese Vorgänge liegen extrem weit zurück; sie spielten sich in einer Umgebung ab, die es schon lange nicht mehr gibt; und sie brachten Übergangsformen zwischen »tot« und »lebendig« hervor, die längst nicht mehr existieren. Forscherinnen und Forscher, die den Beginn des Lebens aufklären möchten, versuchen aus äußerst spärlichen und indirekten Hinweisen auf eine unvorstellbar ferne Vergangenheit zu schließen. Der Stoffwechselapparat, der sich im damaligen Konkurrenzkampf durchsetzte und zur Vorläuferform aller heute existierenden Lebewesen wurde, war nur einer von vielen möglichen chemischen Systemen, die sich selbst aufrechterhalten und vermehren können. »Die spezifische Form der Biochemie, die wir in allen heutigen Lebewesen realisiert sehen, ist nicht die einzig denkbare«, sagt Pascal, »es gibt viele andere.«
Klar geworden ist jedoch, dass ein nichtenzymatischer Stoffwechsel realisierbar ist, der dem von Mikroben in heißen Tiefseequellen erstaunlich ähnlich sieht. Das ist ein starkes Indiz für eine jahrhundertealte Annahme zum Ursprung des Lebens: dass uns die biochemischen Reaktionen in heute lebenden Zellen mit einer Vergangenheit verbinden, die noch weit vor dem Auftreten erster, primitiver Lebensformen lag.
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