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Psychische Erkrankungen: Beginnt eine Essstörung im Darm?

Es mehren sich die Hinweise darauf, dass das Immunsystem an der Entstehung von Essstörungen beteiligt sein könnte. Und auch unser Mikrobiom im Darm spielt womöglich eine Rolle.
Eine Frau isst eine einzelne Erbse mit Messer und Gabel.

Als Cynthia Bulik Anfang der 1980er Jahre begann, sich mit Essstörungen zu befassen, prallten das, was sie in der wissenschaftlichen Literatur darüber gelesen hatte, und das, was sie in der Klinik sah, aufeinander. Damals fokussierten sich die Theorien, die Forscher für die Entstehung dieser Erkrankungen hatten, hauptsächlich auf Familiendynamiken und soziokulturelle Faktoren. Doch das erklärte nicht, warum Patienten mit Essstörung trotz gefährlich niedrigen Körpergewichts oft »hyperaktiv waren und sich gut fühlten. Es fing erst an, ihnen schlecht zu gehen, wenn wir sie ernährten«, sagt Bulik, die sowohl an der University of North Carolina als auch am Karolinska-Institut in Schweden tätig ist. »Ich war überzeugt davon, dass etwas Biologisches dahinterstecken musste.«

Inzwischen scheint eine wachsende Anzahl von Studien Buliks Beobachtungen zu bestätigen. Fälle von Personen, deren Essverhalten sich nach verschiedenen Infektionen rapide verändert hat, häufen sich – der erste ereignete sich vor fast einem Jahrhundert. So treten etwa oftmals Symptome von Essstörungen beim so genannten Pediatric Acute-onset Neuropsychiatric Syndrome (PANS) auf, einer neurologischen Erkrankung bei Kindern und Jugendlichen, die mit plötzlichen Verhaltensänderungen einhergeht und häufig die Folge einer Streptokokkeninfektion ist. Darüber hinaus deckten in den vergangenen Jahren mehrere groß angelegte epidemiologische Untersuchungen, die auf Bevölkerungsdaten aus Skandinavien beruhen, einen Zusammenhang zwischen Essstörungen und Autoimmunerkrankungen wie Morbus Crohn, Zöliakie und Typ-1-Diabetes auf.

Nun haben Bulik und ihre Kollegen im Rahmen einer großen Studie herausgefunden, dass auch Infektionen in der Kindheit ein erhöhtes Risiko für Essstörungen bergen. Für die Untersuchung, die sie im Fachmagazin »JAMA Psychiatry« veröffentlichten, untersuchten die Forscher 525 643 Mädchen, die zwischen 1989 und 2006 in Dänemark geboren worden waren. Bei 4240 von ihnen hatten Ärzte eine Essstörung diagnostiziert. (Jungen wurden in der Studie nicht berücksichtigt, weil zu wenige von ihnen an einer Essstörung litten, um eine aussagekräftige Analyse durchzuführen.)

Erst die Infektion, dann die Magersucht

Mädchen, die auf Grund einer schweren Infektion ins Krankenhaus eingeliefert worden waren, hatten anschließend ein um 22 Prozent höheres Risiko, eine Magersucht (Anorexia nervosa) zu entwickeln. Das Risiko für eine Bulimie stieg um 35 Prozent und das für andere, nicht näher spezifizierte Essstörungen um 39 Prozent im Vergleich zu Probandinnen, die nicht stationär behandelt werden mussten. Ein ähnlicher Trend zeigte sich im Hinblick auf die Behandlung mit antiinfektiösen Medikamenten wie zum Beispiel Antibiotika: Teilnehmerinnen, die drei oder mehr Rezepte für solche Mittel erhalten hatten, erkrankten später häufiger an Essstörungen als Personen, denen diese seltener verschrieben worden waren. Das Risiko war innerhalb der ersten drei Monate nach der Aufnahme ins Krankenhaus oder dem Einlösen eines entsprechenden Rezepts am größten.

»Dies ist eine interessante Studie. Sie ergänzt die bereits vorhandene Literatur, die zeigt, wie wichtig biologische Faktoren für die Ätiologie von Essstörungen sind«, sagt Neville Golden, Professor für Kinderheilkunde an der Stanford University, der nicht an der Arbeit beteiligt war. Obwohl die Ergebnisse nur einen Zusammenhang zwischen Infektionen und Essstörungen herstellen und keine Kausalbeziehung belegen können, stützen sie in den Augen der Autoren dennoch die Hypothese, dass das Immunsystem eine entscheidende Rolle bei der Entstehung von Essstörungen spielen könnte. Darauf weist auch die bereits erwähnte Verbindung zwischen Essstörungen und verschiedenen Autoimmunerkrankungen hin sowie die Tatsache, dass bei Patienten mit Anorexie mitunter erhöhte Konzentrationen von Zytokinen zu finden sind. Diese sind als Botenstoffe des Immunsystems ebenfalls an Entzündungsreaktionen beteiligt.

Essstörungen können das Mikrobiom im Darm verändern

Eine andere Möglichkeit ist laut Koautorin Lauren Breithaupt von der Harvard Medical School, dass Störungen im Darmmikrobiom für das veränderte Ernährungsverhalten verantwortlich sind. »Wir wissen, dass Infektionen und Medikamente sich auf die Stabilität der Mikroben in unserem Darm auswirken«, erklärt Breithaupt. »Die Verbindung zwischen Darm und Gehirn, die Darm-Hirn-Achse, ist stark. Dinge, die im Darm passieren, können unser Verhalten über diesen Kommunikationsweg beeinflussen.«

Essstörungen können das Mikrobiom im Darm verändern. 2015 entdeckten Bulik und ihre Kollegen, dass im Verdauungstrakt von Menschen mit Anorexia nervosa deutlich weniger verschiedene Mikroorganismen zu finden sind als bei gesunden Personen. Auch nach der Behandlung der Krankheit nahm die Mikrobenvielfalt der Betroffenen nur teilweise wieder zu. Eine Hypothese ist, so Bulik, dass bei Anorexiepatienten genau jene Bakterien überleben, die sich in einer nährstoff- und energiearmen Umgebung besonders wohl fühlen.

Ein Teufelskreis im Darm?

Wenn dies tatsächlich der Fall sein sollte, dann könnte die Anwesenheit dieser Mikroorganismen dazu führen, dass sich die Krankheit am Ende selbst aufrechterhält – weil die Mikroben womöglich gefährdet wären, wenn die Betroffenen wieder zu einer gesunden Ernährung zurückkehren würden. »Wenn wir Patienten im Krankenhaus aufgepäppelt haben, dann passiert es oft, dass sie nach der Entlassung direkt wieder abnehmen«, so Bulik. »Meistens lässt sich das mit psychologischen Mechanismen erklären – aber was ist, wenn es irgendwie auch mit den Bakterien zusammenhängt?«

Doch das ist nur eine von vielen Theorien, wie das Mikrobiom die Entstehung von Essstörungen begünstigen könnte. Andere Forscher befassen sich etwa mit der Frage, ob Mikroorganismen womöglich selbst Entzündungsvorgänge im Körper beeinflussen, sagt Beate Herpertz-Dahlmann, Kinder- und Jugendpsychiaterin an der RWTH Aachen. Sie arbeitet derzeit an Studien mit, die diesen Zusammenhang in mehreren europäischen Ländern untersuchen. So könnten Darmbakterien beispielsweise Antikörper gegen bestimmte Moleküle entwickeln, die unseren Appetit regulieren.

»Essstörungen wurden erstmals im 16. Jahrhundert beschrieben, und es ist erstaunlich, wie wenig wir darüber wissen, wie man sie behandelt«, erläutert Golden. »Ein besseres Verständnis für die Ursachen dieser Erkrankungen wird uns auch bei der Therapie voranbringen.«

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