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Erdbeben: Bequeme Sündenböcke

Sieben Angeklagte werden wegen Totschlags zu langen Haftstrafen verurteilt, weil sie die Gefahr eines Erdbebens unterschätzten. Doch das Urteil gegen die Wissenschaftler lenkt von den Versäumnissen anderer ab.
Lars Fischer

In Italien sind sechs Seismologen und ein Behördenmitarbeiter zu je sechs Jahren Haft verurteilt worden – wegen Totschlags an 308 Erdbebenopfern: Sie treffe die Schuld, dass die Menschen nicht vor dem Erdbeben in der italienischen Stadt L'Aquila im April 2009 geflohen seien. Die Informationen, die sie der beunruhigten Öffentlichkeit in einer Pressekonferenz sechs Tage vor dem Erdbeben gegeben haben, seien "ungenau, unvollständig und widersprüchlich" gewesen.

Das Urteil ist aus mehreren Gründen skandalös. Anklage und Gericht werfen den Forschern Totschlag vor und implizieren damit, dass Seismologen am Tag der Pressekonferenz aus den vorliegenden Fakten hätten wissen können, dass ein Erdbeben bevorsteht. Doch Erdbeben auf den Monat, die Woche oder gar den Tag genau vorherzusagen, ist nach dem heutigen Stand der Wissenschaft nicht möglich – unabhängig davon, was umherziehende Scharlatane behaupten mögen. Die Informationen, die Wissenschaftlern in erdbebengefährdeten Regionen zur Verfügung stehen, sind selbst beim heutigen Stand der Technik immer noch ungenau, unvollständig und widersprüchlich. Ein starkes Erdbeben lasse sich für die Region keinesfalls ausschließen, erklärten die Forscher denn auch auf der fraglichen Pressekonferenz.

Allerdings müssen sich die Forscher vorwerfen lassen, sich mit unbedachten Einschätzungen angreifbar gemacht zu haben: Das Risiko, erklärten sie sinngemäß, sei weitaus geringer als befürchtet. Einer der Wissenschaftler verstieg sich gar zu der – schon zu jenem Zeitpunkt nicht haltbaren – Aussage, die kleineren Beben zuvor hätten Spannungen abgebaut und das Risiko eines Bebens vermindert. Derartige Aussagen sind kritikwürdig, aber für den Tatbestand des Totschlags reichen sie bei Weitem nicht aus. Zumal offen ist, welche Gefahr sie mit diesen Aussagen im Blick hatten – das Erdbebenrisiko selbst oder eher die wachsende Panik der Bevölkerung in der Region.

Der eigentliche Skandal des Urteils jedoch liegt darin, dass es von der eigentlichen Verantwortung für die Tragödie ablenkt. Denn das Erdbeben selbst ist ja nur eine Komponente der Tragödie, und nicht die wichtigste. In anderen Erdbebenregionen der Welt, zum Beispiel Japan, wären bei einem vergleichbaren Erdstoß weitaus weniger Schäden entstanden – dort sind Bauvorschriften in Kraft, die dem Risiko Rechnung tragen, und die meisten Gebäude halten selbst schweren Erdstößen stand. Vergleichbare Beben sind keinesfalls selten, erst Ende September traf ein Beben der Magnitude 6,2 das westliche Mexiko und am 8. Oktober eines der Magnitude 6,3 Nordindonesien – ohne dass die Schäden auch nur annähernd mit denen in L'Aquila vergleichbar gewesen wären.

Und dass Naturkatastrophen wie das von 2009 in jener Region auftreten können, weiß man aus Erfahrung. Warum, muss man also fragen, sind in der lange bekannten Gefahrenzone um L'Aquila nicht schon seit Jahrzehnten erdbebensichere Gebäude vorgeschrieben, trotz der bekannten Gefahr? Mag es damit zu tun haben, dass die dafür nötigen Bautechniken teurer sind und dass der Staat womöglich weit mehr Rücksicht auf die finanziellen Interessen von Bauunternehmern genommen hat als auf die Sicherheit der eigenen Bevölkerung? Man weiß es nicht.

Es steht jedenfalls zu befürchten, dass das Urteil gegen die Wissenschaftler seinen Teil dazu beiträgt, dass solche Fragen nicht oft genug und nicht laut genug gestellt werden. Der Sündenbock wird ins Gefängnis gesteckt, und alle Schuld ist vergeben und vergessen. Bis zum nächsten Erdbeben.

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