Direkt zum Inhalt

Bewegungsmangel: Lieber hocken statt sitzen

Menschen aus einer Jäger-und-Sammler-Kultur ruhen täglich so lange wie wir. Allerdings sitzen sie nicht, sondern hocken oder knien. Eben das könnte besser für die Gesundheit sein.
Typische Ruheposition der Hadza

Sitzen sei das neue Rauchen, heißt es oft. Zahlreiche Studien liefern Hinweise darauf, dass stundenlanges Sitzen das Risiko für Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen erhöht. Diese zählen in Deutschland zu den häufigsten Todesursachen. Die westliche Arbeits- und Lebenswelt habe zu einer Bevölkerung aus »Sitzenbleibern« und »Stillstehern« geführt, heißt es im Deutschen Gesundheitsbericht Diabetes 2020. Demnach sitzen die Menschen hier zu Lande rund 7,5 Stunden pro Tag und legen statt der von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfohlenen 10 000 nur etwa 5000 Schritte zurück. Bei Büroangestellten dürften es sogar noch weniger sein.

Evolutionär betrachtet, ist es für manches Lebewesen durchaus von Vorteil, sich wenig zu bewegen. Wer Energie spart, hat mehr Ressourcen für die Fortpflanzung und andere wichtige Aufgaben zu Verfügung – oder kann auch mal Jahre ohne Nahrung überdauern. Während die eng mit uns verwandten Menschenaffen körperlich wenig aktiv und dennoch gesund und schlank sind, hat sich der Körper des Homo sapiens im Lauf der Evolution an das anstrengende Leben als Jäger und Sammler angepasst. Um gesund zu bleiben, müssen Menschen sich also viel bewegen.

Dafür spricht auch die Tatsache, dass indigene Volksgruppen wie die Hadza, die im Norden Tansanias als Jäger-und-Sammler-Gemeinschaft leben, weitgehend frei von Herz-Kreislauf- und anderen Zivilisationskrankheiten sind. Das macht sie zu beliebten Versuchsgruppen: Seit vielen Jahren studieren Forscherteams um den Anthropologen Herman Pontzer von der Duke University in North Carolina an ihnen den Zusammenhang von Ernährung, Bewegung und Stoffwechselaktivität.

Offenbar ist für die Gesundheit nicht nur Bewegung bedeutsam, sondern auch die Art zu ruhen. Laut einer neuen Studie, die ein Team um den Evolutionsbiologen David Raichlen von der University of Southern California, dem Pontzer angehörte, nun in der Fachzeitschrift »PNAS« veröffentlicht hat, verbringen die Hadza pro Tag ungefähr gleich viel Zeit in Ruhepositionen wie Menschen aus Industrieländern. Allerdings gehören die Hadza nicht zu den »Sitzenbleibern«, sie hocken. Und damit verbrauchen die Hadza selbst in ruhigen Momenten wesentlich mehr Energie als beispielsweise Menschen, die auf einem Bürostuhl sitzen.

So ruhen die Hadza | Zwei Mitglieder der Jäger-und-Sammler-Kultur in einer typischen Ruheposition.

Acht Tage lang haben die Forscher jeden Schritt und Tritt von 28 Mitgliedern der Jäger-und-Sammler-Kultur verfolgt. Dazu befestigten sie bei 16 Hadza-Männern und 12 Hadza-Frauen im Alter zwischen 18 und 61 Jahren einen Bewegungssensor an deren Oberschenkel. Mittels einer Software stellten die Wissenschaftler fest, dass die Probanden sich täglich für ein bis zwei Stunden sehr intensiv bewegten. Sie lagen weit über der Empfehlung der WHO: Von Erwachsenen fordert sie 150 Minuten körperliche Aktivität – pro Woche. Mehr als neun Stunden der Zeit, in der die Hadza wach waren, ruhten sie, das heißt, sie standen oder gingen nicht. Laut den Forschern verbringen Menschen aus den USA, den Niederlanden oder Australien täglich etwa ebenso viel Zeit im Sitzen.

Die Blutfett-, Blutzucker- und Cholesterinwerte der Probandinnen und Probanden deuteten jedoch keineswegs auf eine Herz-Kreislauf-Erkrankung hin. Daraus schlossen die Forscher, dass weniger die Dauer als die Art des Ruhens wichtig sein muss. Statt wie auf einem Stuhl mit angewinkelten Beinen sitzen die Hadza häufig in einer Art Schneidersitz auf dem Boden, sie knien oder kauern auf einem Stein. Indem sie spezielle Messelektroden an den beteiligten Muskelgruppen befestigten, stellten die Forscher fest, dass diese Positionen die unteren Gliedmaßen stärker beanspruchen als ein westlicher Stuhlsitz. In der Hocke, in der die Probanden etwa zwei Stunden pro Tag verbrachten, verbrauchten ihre Muskeln beispielsweise 20 bis 40 Prozent der Energie, die sie zum Gehen benötigen.

Im Sitzen laufen die Muskeln auf Sparflamme. Fett- und Zuckerstoffwechsel verlangsamen sich, ebenso der Blutfluss. Eine aktivere Sitzhaltung einzunehmen und damit eine höhere Muskelaktivität zu erzeugen, könnte laut der Forscher helfen, das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu reduzieren. Also weg mit dem Bürostuhl, ab auf den Boden? Das dürfte die Arbeit am Computer erheblich erschweren. Dann lieber auf einen Gymnastikball setzen? Das wäre sicherlich nicht schlecht, denn dabei muss der Körper die leichten Bewegungen des Balls ständig ausgleichen. Sportwissenschaftler empfehlen jedoch, nicht länger als 30 Minuten am Stück darauf zu sitzen, um einer Überbelastung der kleinen Muskeln in der Wirbelsäule vorzubeugen. Zudem ist umstritten, ob solche Bälle die Aktivität von Rücken- und Rumpfmuskulatur tatsächlich erhöhen. Diesen Aspekt der Hadza-Ruhepositionen wollen künftig auch Raichlen und sein Team untersuchen. Bislang hatten sie sich einzig mit der Beinmuskulatur beschäftigt.

Besser, als lange Zeit bewegungslos zu sitzen, ist es, zwischendurch zu stehen oder zu gehen, wie zahlreiche Studien belegen. Das sei im Hinblick auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen auf Dauer sogar wirkungsvoller, als kurze Phasen intensiver Bewegung – sprich: Sport – einzuschieben, schreiben die Forscher. Wie sich eine aktivere Sitzposition, die über längere Zeit beibehalten wird, auf die Blutwerte von Probanden auswirkt, gilt es als Nächstes herauszufinden.

Dabei ist keineswegs zu vergessen, dass auch die Ernährung eine wichtige Rolle spielt. Während sich indigene Völker wie die Hadza lediglich von dem ernähren, was die Natur zu bieten hat, haben Menschen in Industrieländern in der Regel Zugang zu hochverarbeiteten und kalorienreichen Speisen. Übergewicht und Fettleibigkeit erhöhen bekanntlich ebenfalls das Risiko für Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Ernährungsforscher wissen inzwischen, dass sich körperliche Aktivität deutlich weniger auf das Körpergewicht auswirkt als angenommen. Auch das Team um Pontzer stellte bereits mehrfach fest, dass Menschen aus Jäger-und-Sammler-Kulturen, die sich wesentlich mehr bewegen als wir, keinen wesentlich höheren Energiebedarf haben. Das heißt: Um abzunehmen, genügt es nicht, sich mehr zu bewegen oder anders zu sitzen. Um herauszufinden, ob die Ruheposition tatsächlich einen Effekt auf die kardiovaskuläre Gesundheit hat, ist also auch der Ernährungszustand der Probanden zu berücksichtigen, und idealerweise lernen die Teams von Menschen aus unterschiedlichen Kulturkreisen.

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.