Essay: Der Ursprung unseres Bewusstseins

Jeder Mensch, der diese Worte liest und versteht, besitzt es: Bewusstsein. Dank ihm können wir denken, uns an die Vergangenheit erinnern und uns die Zukunft vorstellen – so wirkt es zumindest auf uns. Obwohl unser Bewusstsein untrennbar mit unserer Identität verknüpft ist, kann es sich seltsamerweise manchmal wie ein separater, allerdings eng mit uns verbundener Beobachter anfühlen, der nicht nur uns und unsere Umgebung wahrnimmt, sondern auch fortlaufend Kommentare dazu abliefert.
Kein Wunder also, dass viele Priester und Philosophen in der Antike die mystische Ansicht vertraten, das Bewusstsein würde uns von externen Mächten verliehen oder entstehe sonst irgendwie außerhalb des Körpers. Überraschenderweise sind solche Sichtweisen trotz der vielen revolutionären Erkenntnisse der Neurowissenschaft der letzten Jahrzehnte auch heute noch verbreitet. Daher möchte ich hier eine Lanze für den reduktionistischen Ansatz brechen, der Bewusstsein schlicht als eine Funktion unseres Denkorgans betrachtet. Das Gehirn ist demnach nichts anderes als eine biologische Maschine, deren Funktionsweise sich verstehen lässt, wenn man die einzelnen Teile untersucht.
In den 1960er Jahren hatte ich als medizinisch ausgebildeter Neurophysiologe die damals weitverbreitete Ansicht akzeptiert, dass die Natur des Bewusstseins zu komplex sei, um sie mit den verfügbaren Methoden zu untersuchen. Doch dank eines neuen Behandlungsansatzes – sowohl für Parkinsonpatienten mit unkontrollierbarem Tremor der Hand als auch für Krebspatienten mit nicht behandelbaren Schmerzen – eröffnete sich plötzlich eine vielversprechende Option, das Bewusstsein zu erforschen.
Den Thalamus im Visier
Bei beiden Erkrankungen bestand die Behandlung darin, kleine Gruppen an geschädigten Nervenzellen im sogenannten Thalamus abzutöten. Hierbei handelt es sich um eine große Ansammlung von Nervenzellverbänden im Gehirn oberhalb des Hirnstamms, die Informationen an die Großhirnrinde weiterleitet. Letztere, auch Kortex genannt, ist die äußere Schicht des Gehirns, der höhere kognitive Funktionen wie Entscheidungsfindung, Sprache, Gedächtnis, Wahrnehmung und Denken zugeschrieben werden.
Bei der Behandlung verwendeten wir eine dünne Sonde, um bestimmte Zellcluster im Thalamus präzise mit flüssigem Stickstoff zu vereisen. Zu jener Zeit taten wir uns allerdings schwer damit, diese Zielbereiche exakt zu lokalisieren. Zum einen ist der Thalamus eine tief im Gehirn verborgen liegende Struktur, und zum anderen unterscheiden sich individuelle Gehirne deutlich in ihrer Größe und Form. Außerdem waren damals weder Computertomografie (CT) noch Magnetresonanztomografie (MRT) zur Bildgebung erfunden worden, was die räumliche Orientierung weiter erschwerte. Deshalb untersuchten wir den Thalamus zunächst mit einer Wolframdrahtelektrode, die eine so dünne Spitze hatte, dass sie elektrische Impulse in einzelnen Nervenzellen erfassen konnte. Wir versuchten nun Neurone zu finden, die auf Berührungen oder Druck auf der gegenüberliegenden Seite des Kopfes oder auf Bewegung der Fingergelenke reagierten. Damit konnten wir das therapeutische Ziel lokalisieren: Derjenige Nervenkern, dessen Zellen auf Berührung, Druck und Fingerbewegungen reagierten, befand sich nämlich direkt hinter dem gesuchten Bereich, in dem wir vereisen mussten, um den Parkinson-Tremor zu stoppen. Bei Patientinnen und Patienten, die wegen andauernder starker Schmerzen operiert wurden, lag das Ziel in einem anderen Nervenkern.
Bevor wir mit dem Vereisen begannen, hatten wir die einmalige Gelegenheit, einen wichtigen Aspekt des Bewusstseins zu untersuchen: die Wahrnehmung. Wir wollten eine Hypothese überprüfen, die der britische Elektrophysiologe und Nobelpreisträger Edgar Adrian von der University of Cambridge in England einige Jahre zuvor aufgestellt hatte. Demnach regulieren die gut ausgebildeten Nervenfaserbahnen von der Großhirnrinde zu Rückenmark, Hirnstamm und Thalamus den Fluss der eingehenden Sinnesinformationen. Adrian vermutete, sie würden vor allem wichtige und zeitkritische Daten weiterleiten, während sie unwichtige oder ablenkende Reize unterdrücken.
Zu unserer Überraschung hing die Aktivität der Thalamusneurone jedoch nicht von unterschiedlichen Versuchsbedingungen ab – etwa, ob der Patient eine Berührung auf der Haut wahrnahm oder durch Gespräche oder Kopfrechnen davon abgelenkt war. Das bedeutete, dass der Thalamus zwar rohe Sinneseindrücke verarbeitet, sie aber nicht reguliert. Stattdessen werden die Eindrücke offenbar erst später in wichtige und unwichtige Informationen sortiert, wahrscheinlich in höheren Hirnregionen wie der Großhirnrinde. Diese negativen Ergebnisse enttäuschten uns zunächst. Doch als wir uns viele Jahre später erneut mit der Natur des Bewusstseins befassten, konnten wir von den daraus gezogenen Lehren profitieren.
Man sollte nicht einfach aus der Anatomie auf Funktionen rückschließen
So hatten unsere Experimente gezeigt, dass wir die Aktivitäten einzelner Neurone eines wachen Menschen ausreichend genau aufzeichnen konnten, was mit der damaligen Technik nicht selbstverständlich war. Zudem sollte man ihnen zufolge nicht einfach aus der Anatomie auf Funktionen rückschließen: Ein Faserbündel, das zwei Teile des Gehirns verbindet, muss nicht unbedingt auf einen aktiven, verarbeitenden Signalweg hinweisen. Ein Großteil der neuronalen Aktivität des Gehirns könnte ebenso eher spontan statt zielgerichtet sein.
Ende der 1960er Jahre wurde dann der Wirkstoff Levodopa (L-Dopa) als Medikament gegen Parkinson zugelassen. Aufgrund seiner hohen Effektivität löste er die wesentlich aufwändigere und risikoreichere Thalamus-Neurochirurgie als Therapiemethode komplett ab. Fortan musste unsere Forschungsgruppe daher versuchen, das Bewusstsein auf andere Weise zu ergründen.
Fünf überholte Überzeugungen
In den späten 1960er Jahren waren fünf Überzeugungen unter Bewusstseinsforschern weit verbreitet: 1) Bewusstsein gibt es nur beim Menschen. 2) Bewusstsein hat sich beim Menschen im Zuge der Volumenzunahme seines Großhirns entwickelt. 3) Letztlich sorgt der präfrontale Kortex für das Bewusstsein. 4) Jeder Teil des Nervensystems ist aktiv und unverzichtbar. 5) Eine schwer beschreibbare und unklar definierte psychische Energie wirkt auf die Neurone des Gehirns ein und ist für Aufmerksamkeit, Erinnerungsvermögen und Willen verantwortlich. Es gibt jedoch gute Gründe, alle fünf Ansichten abzulehnen.
Die erste und zweite Überzeugung zur Einzigartigkeit und Grundlage des menschlichen Bewusstseins hinterfragte bereits Charles Darwin im 19. Jahrhundert. In seinem Werk »Die Abstammung des Menschen« (»The Descent of Man«, 1871) machte er seine Position deutlich:
»Dennoch ist der Unterschied zwischen dem Verstand des Menschen und dem höherer Tiere – so groß er auch sein mag – sicherlich nur ein gradueller und kein qualitativer. Wir haben gesehen, dass Sinne und Intuitionen, verschiedene Emotionen und Fähigkeiten, wie Liebe, Gedächtnis, Aufmerksamkeit, Neugier, Nachahmung, Vernunft und so weiter, derer sich der Mensch rühmt, selbst bei niedereren Tieren in einem Anfangsstadium oder sogar in einem gut entwickelten Zustand zu finden sind.«
Darwin interessierte sich weniger dafür, ob Tiere Bewusstsein besitzen – also die Fähigkeit zu Emotionen, mentalen Zuständen und schlussfolgerndem Denken –, als vielmehr dafür, wann in der Evolution diese Eigenschaft entstanden war. Doch trotz Darwins Ruhm und wissenschaftlichem Ansehen und trotz der Unterstützung durch Thomas Huxley und andere prominente Wissenschaftler und Denker seiner Zeit verlor die Idee des tierischen Bewusstseins an Bedeutung. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts war sie praktisch aus dem wissenschaftlichen Diskurs verschwunden. Erst ab Mitte des 20. Jahrhunderts griffen Einzelne die Idee wieder auf, darunter die Nobelpreisträger von 1973 Karl von Frisch, Konrad Lorenz und Nikolaas Tinbergen.
Darwin interessierte sich weniger dafür, ob Tiere Bewusstsein besitzen, als vielmehr dafür, wann in der Evolution diese Eigenschaft entstanden war
Seitdem hat sich die Situation dank eines zunehmenden Interesses am Verhalten von Tieren sowie besserer Versuchsstrategien und Überwachungsgeräte dramatisch verändert. Ein wichtiger Wendepunkt war 2012 die »Cambridge Declaration on Consciousness« einer prominenten Gruppe internationaler Wissenschaftler, die sich auf neue Entwicklungen in der Neurowissenschaft und der Bioethik stützte. Die Fachleute argumentierten, dass Emotionen und Absichten nicht ausschließlich dem Menschen vorbehalten seien. Nicht einmal der Neokortex als der stammesgeschichtlich jüngste Teil der Großhirnrinde von Säugetieren sei dafür notwendig. Die Erklärung definiert Bewusstsein breiter: »Die Beweislage deutet darauf hin, dass Menschen nicht die einzigen Lebewesen sind, die über die neuronalen Grundlagen verfügen, um Bewusstsein zu erzeugen. Tiere, darunter alle Säugetiere und Vögel, sowie viele andere Lebewesen, darunter Oktopusse, besitzen ebenfalls diese neuronalen Grundlagen.«
Wo sitzt das Bewusstsein?
Die drei restlichen der genannten traditionellen Überzeugungen betreffen den Sitz und die Natur der neuronalen Mechanismen, die für das menschliche Bewusstsein verantwortlich sind. Ist das gesamte Gehirn beteiligt oder nur ein Teil davon? Und in letzterem Fall welcher Teil? Viele betrachten als Ursprung des Bewusstseins immer noch die Großhirnrinde und insbesondere deren hinter der Stirn liegende präfrontale Bereiche, da diesen unsere höheren kognitiven Funktionen zugeschrieben werden. Einige Forscher – allen voran der Neurochirurg Wilder Penfield (1891–1976) von der McGill University in Kanada – haben im Lauf der Jahre jedoch andere vielversprechende Kandidaten vorgeschlagen.
In seiner klinischen Arbeit machte Penfield eine Beobachtung, die der verbreiteten Ansicht widersprach, das Bewusstsein sei ein Produkt der Großhirnrinde beziehungsweise ihrer präfrontalen Regionen. Bei seiner Schwester musste er den Präfrontalkortex bei einer Hirnhälfte chirurgisch entfernen, weil dort ein bösartiger Tumor saß. Der Eingriff hatte aber keinen erkennbaren Effekt auf ihr Verhalten oder ihr Bewusstsein. Das Gleiche beobachtete er bei Patienten, deren Großhirnrinde an anderen Stellen durch Kopfverletzungen, Schlaganfälle oder Tumoren beschädigt war. Im Gegensatz dazu konnte bereits eine geringfügige Verletzung im Hirnstamm zu Koma oder Tod führen.
Penfield postulierte, dass die Großhirnrinde zwar Sinnesinformationen verarbeitet, Bewusstsein jedoch erst entsteht, wenn tieferliegende Hirnregionen die Daten integrieren. Diese »zentrencephale Hypothese« wurde dann allerdings in einem Artikel in der damals führenden neurologischen Fachzeitschrift »Brain« massiv attackiert. Dessen Autor Francis Walshe war leitender Neurologe am renommierten Hospital for Nervous Diseases (heute: National Hospital for Neurology and Neurosurgery) in London. Er argumentierte, die Hypothese liefere keine Beweise, spiele die Funktionen der Großhirnrinde herunter und hebe die des Hirnstamms hervor. Zudem verwechsle Penfield Korrelation mit Kausalität. Obwohl Walshe nicht alle Argumente von Penfield widerlegen konnte, hatte er damit aus Sicht der Fachwelt das Bewusstsein wieder in die Großhirnrinde und insbesondere in die präfrontalen Bereiche zurückverwiesen.
Fokus auf den Hippocampus
Am Ende war es erneut eine bemerkenswerte Entdeckung von Penfield, die den Sitz des Bewusstseins wieder von der Großhirnrinde wegverlagerte: Eine elektrische Stimulation der Schläfen- oder Temporallappen, die für das Hören und Sprachverständnis entscheidend sind, ruft manchmal vertraute Geräusche und Bilder aus der Vergangenheit des Patienten hervor. Das deutete stark darauf hin, dass diese Hirnbereiche am Erinnern beteiligt sind. 1953 beschrieb er darüber hinaus Gedächtnisverluste bei Patienten mit geschädigtem Temporallappen, was die Annahme stützte.
Der Durchbruch gelang Penfield aber erst, als seine Kollegin, die Psychologin Brenda Milner, den ungewöhnlichen Fall eines jungen Mannes untersuchte, der sich zuvor einer Operation am Temporallappen unterzogen hatte. Nicht zuletzt dank Penfields Pionierarbeit auf dem Gebiet war es eine anerkannte therapeutische Methode geworden, bei einer schwer behandelbaren Epilepsie einen Teil des Schläfenlappens zu entfernen. Üblicherweise führten Chirurgen den Eingriff nur auf einer Seite des Kopfs durch. Bei diesem Patienten, bekannt geworden als H. M., hatte der amerikanische Neurochirurg William Scoville jedoch auf beiden Seiten Teile des Temporallappens herausoperiert.
Die Folgen des beidseitigen Eingriffs konnte Milner leicht nachweisen: H. M. speicherte Erinnerungen an Menschen und Ereignisse nicht mehr auf Dauer und behielt generell neue Informationen nur noch etwa 30 Sekunden. Sein Kurzzeitgedächtnis war also intakt geblieben, während er das Langzeitgedächtnis verloren hatte. Dies ließ sich vor allem auf die Zerstörung einer besonderen Struktur im Temporallappen namens Hippocampus zurückführen.
Bis dahin war der Hippocampus kaum erforscht worden; das änderte sich allmählich in den folgenden Jahren. Im Jahr 2005 schließlich wiesen der Neurochirurg Itzhak Fried von der University of California in Los Angeles und seine Kollegen eine ganz spezielle Fähigkeit bestimmter Zellen im Hippocampus nach, die eine zentrale Rolle für die Wahrnehmung und Gedächtnisbildung spielen – und damit auch für die wichtige Frage, wie Sinnesinformationen zu bewusster Wahrnehmung werden.
Neurone für ganze Konzepte
Wie zuvor Penfield versuchte Fried, Nervenzellen im Gehirn von Epilepsiepatienten während der Operationsvorbereitung zu stimulieren. Es erwies sich allerdings als schwierig, die Aktivität einzelner Hippocampusneurone mit feinen Drahtelektroden aufzuzeichnen. Im Unterschied zu den Messungen im Thalamus wurden die schwachen Impulse des Hippocampus von der Aktivität der vielen umgebenden Neurone verdeckt. Der junge argentinische Informatiker Rodrigo Quian Quiroga in Frieds Team löste das Problem, indem er ein Computerprogramm schrieb, das die Aktivitäten einzelner Neurone unterscheiden konnte.
Ausgehend von der Annahme, dass der Hippocampus für das Gedächtnis zuständig ist, entwickelte die Arbeitsgruppe ein Experiment. Hierbei betrachtete eine Testperson einen Computerbildschirm, auf dem jeweils für eine Minute eine Reihe von Bildern mit bekannten Personen, Alltagsgegenständen oder Gebäuden erschien. Wenn ein Hippocampusneuron auf ein bestimmtes Bild reagierte, folgte eine weitere Serie, die Modifikationen dieses Bilds enthielt. Manchmal kam stattdessen auch ein gesprochenes oder geschriebenes Wort.
Die Ergebnisse waren verblüffend. Ein einzelnes Neuron im Hippocampus reagierte jeweils selektiv auf eine bestimmte Person, einen Ort oder einen Gegenstand; andere Bilder ignorierte es. Darüber hinaus spielten die Details der Aufnahme offenbar keine Rolle. Es war zum Beispiel gleichgültig, ob die Person auf dem Foto in die Kamera blickte oder wegschaute, andere Kleidung trug oder kurze beziehungsweise lange Haare hatte. Darüber hinaus wurde in einigen Fällen dieselbe Nervenzelle auch dann aktiv, wenn das Team anstelle eines Bilds den geschriebenen oder gesprochenen Namen der Person, des Objekts oder des Orts verwendete. Dies belegte, dass der Hippocampus nicht nur für das Gedächtnis zuständig ist, sondern zudem für das Bilden von ganzheitlichen Konzepten – und das gilt als mit dem Bewusstsein verbunden. Es muss dabei allerdings betont werden, dass für jede Erinnerung Tausende von Zellen zuständig sind, auch wenn das Experiment nur jeweils die Aktivität einer einzelnen Zelle maß.
Da die Neurone im Hippocampus auf unterschiedliche Aspekte ein und desselben Objekts reagierten, tauften ihre Entdecker sie »Konzeptzellen«. Bereits zuvor hatten einige Neurowissenschaftler die Existenz derartiger hochspezifischer Zellen als »Großmutterneurone« postuliert, aber bis dahin nicht belegen können. Die Entdeckung der Konzeptzellen revolutionierte die Gedächtnisforschung und brachte auch das Verständnis der Entwicklung von Bewusstsein voran.
Wie Gedächtnis und Bewusstsein zusammenhängen
Das Phänomen Bewusstsein dürfte nicht urplötzlich in der Evolution aufgetaucht sein. Stattdessen fing es wahrscheinlich mit sehr rudimentären Ansätzen an und entwickelte sich nach und nach weiter, bis es beim Menschen seine bislang höchste Komplexitätsstufe erreichte. Im Zuge dessen scheint vor allem die Existenz eines Gedächtnisses – insbesondere die Fähigkeit früherer Tiere, sich Art und Ort von Nahrungsquellen zu merken – auf ein aufkeimendes Bewusstsein hinzudeuten.
Wenn wir beispielsweise aus dem Schlaf erwachen, brauchen wir oft einen Moment, um uns zu erinnern, wer und wo wir sind
Noch etwas anderes spricht dafür, dass Gedächtnis und nicht nur Wahrnehmung bei der Entstehung des Bewusstseins eine Rolle gespielt haben: Im Gegensatz zur unmittelbaren Wahrnehmung gibt es kein unmittelbares Bewusstsein. Wenn wir beispielsweise aus dem Schlaf erwachen, brauchen wir oft einen Moment, um uns zu erinnern, wer und wo wir sind – vor allem dann, wenn wir die Nacht in einer ungewohnten Umgebung verbracht haben. Marcel Proust beschrieb dies sehr eindrucksvoll in seinem berühmten Roman »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«. Ich habe einmal etwas Ähnliches erlebt, als ich mich von Covid-19 erholte: Ich wachte auf und wusste für einen beängstigenden Augenblick nicht, wer ich war. Erst das Gedächtnis liefert automatisch jenes Wissen über das Selbst, ohne das Bewusstsein nicht existieren kann.
Sowohl das Aufwachen als auch der fortgesetzte Wachzustand des Gehirns hängen ab von der Aktivität von Neuronen, die tief in der »retikulären Formation« des Hirnstamms sitzen. In dieser scheinen zwei Gruppen von Nervenzellen, der Locus caeruleus und der Nucleus reticularis gigantocellularis, als wesentliche Komponenten des entsprechend bezeichneten retikulären Aktivierungssystems zu fungieren.
Das System wurde Ende der 1940er Jahre von dem italienischen Neurophysiologen Giuseppe Moruzzi und dem amerikanischen Neurophysiologen Horace W. Magoun an der Northwestern University in Evanston, Illinois, entdeckt. Es weckt das Gehirn auf und ermöglicht ihm eine gewisse automatische Funktionsfähigkeit. Mit seiner Hilfe können Menschen herumlaufen, es dabei vermeiden, gegen Gegenstände zu stoßen, und einfache Alltagsaufgaben ausführen. Ohne den Hippocampus können sie sich aber danach nicht mehr daran erinnern.
Ein bemerkenswertes Beispiel für ein solches Verhalten lieferte der britische Neurologe John Hughlings Jackson im 19. Jahrhundert. Er beschrieb den Fall eines Arztes, genannt Doktor Z, der einen Tumor im Hippocampus hatte. Einmal untersuchte Doktor Z, während er einen psychomotorischen Anfall hatte, einen seiner Patienten und nahm dessen Krankengeschichte auf. Der Arzt konnte also auf sein Langzeitgedächtnis für erlernte Aufgaben und Routinen (das prozedurale Gedächtnis) zurückgreifen und so seine Arbeit machen, ohne bei vollem Bewusstsein zu sein! Derartige Fähigkeiten stützen die reduktionistische Sichtweise: Wir sind keine dualistischen Wesen – also Seelen, die einen materiellen Körper steuern –, sondern vielmehr eine spezialisierte und komplexe Form von Automaten.
Wie oben erwähnt, lieferten die von Quian Quiroga und seinen Kollegen durchgeführten Konzeptzellstudien Belege dafür, dass Bewusstsein auf Gedächtnismechanismen basiert. In weiteren Experimenten feuerten Konzeptzellen sogar dann, wenn ein entsprechendes Bild nur kurz aufblitzt oder mit einem anderen konkurriert und dieses dabei zunehmend visuell dominiert.
In allen derartigen Situationen feuerten die Zellen während oder kurz vor dem Moment, an dem das Bild bewusst erkannt wurde. Sie wurden jedoch auch dann aktiv, wenn die Probanden lediglich an das in ihnen codierte Konzept dachten – beispielsweise wenn sie sich an das Gesicht eines Freundes erinnerten. Die Zellen benötigen demnach keine Sinnesreize von außen, um angeregt zu werden. Das ließe sich wiederum aber als Beweis dafür interpretieren, dass das Gehirn doch mehr ist als nur eine Maschine, die in Gang gesetzt wird, sobald sie mit der physischen Welt interagiert. Könnte die obengenannte fünfte Überzeugung über das Bewusstsein also entgegen der reduktionistischen Sichtweise zutreffen? Können wir durch eine Art psychische Energie kontrollieren, was in unserem Kopf vor sich geht?
Ist der freie Wille eine Illusion?
In den 1980er Jahren testete Benjamin Libet, damals Neurophysiologe an der University of California in San Francisco, diese Annahme. Er zeichnete die elektrische Aktivität im Gehirn Freiwilliger auf, jedoch nicht in einzelnen Zellen, sondern in großen Neuronenverbänden.
Damals war bereits bekannt, dass ein elektrisches »Bereitschaftspotenzial« auftritt, wenn jemand bewusst eine Bewegung ausführt – etwa mit der Hand auf den Tisch klopft. Das Signal lässt sich mittels Elektroenzephalografie (EEG) aufzeichnen. In Libets Experiment sollte eine Testperson entscheiden, wann sie klopfen wollte. Als Zeitpunkt der Entscheidung notierte sie die aktuelle Position eines sich bewegenden Punkts auf einem runden, uhrenähnlichen Bildschirm. Überraschenderweise setzte das Bereitschaftspotenzial schon etwa 350 Millisekunden vor dem Zeitpunkt ein, an dem sich der Proband seiner Klopfabsicht bewusst wurde. Dieser Zeitunterschied deutet darauf hin, dass die neuronale Aktivität der bewussten Wahrnehmung vorausgeht, zumindest was spontane und schnell ausgeführte Handlungen betrifft. Libets Ergebnisse sorgten für Aufsehen, und die Fachwelt diskutiert noch heute darüber. Für viele meiner Kollegen gelten sie sogar als Beweis dafür, dass Menschen keinen freien Willen haben. Vielmehr wäre das, was wir als Bewusstsein bezeichnen, eine Art nachträgliche Rationalisierung.
Insgesamt gibt es damit inzwischen reichlich Belege für die Annahme, dass Bewusstsein aus der elektrischen Aktivität der Hirnzellen resultiert und nicht umgekehrt. Ein weiteres Beispiel dafür ist das Träumen: Im Schlaf, wenn wir die reale Welt um uns herum nicht mehr sehen, nehmen wir dennoch Bilder wahr, oft von uns bekannten Dingen oder Personen. Die Erkenntnisse zu Konzeptzellen legen nahe, dass solche Bilder dem Gedächtnisspeicher im Hippocampus entspringen. Auch Aktivitäten, Absichten und Gespräche kommen in Träumen vor, ebenso Gefühle wie Glück, Traurigkeit, Angst oder Unruhe. Das Ich-Bewusstsein ist sehr präsent, und die Emotionen können nach dem Aufwachen noch nachwirken. Doch alles, was wir im Traum erleben, resultiert lediglich aus spontaner neuronaler Aktivität.
Genauso sind aus reduktionistischer Sicht alle mentalen Prozesse das Ergebnis der elektrischen Aktivität von Nervenzellen – und nicht etwa deren Auslöser. Dabei kristallisiert sich der Hippocampus mit seiner zentralen Rolle für das Gedächtnis als Schlüsselstruktur für die Entstehung von Bewusstsein heraus. Was noch fehlt, ist eine umfassende Theorie, die erklärt, wie genau das Gehirn elektrische Impulse in Gedanken, Empfindungen und Bewusstsein umwandelt.
Konkurrierende Vorstellungen
Noch fehlt eine eindeutige Antwort auf das sogenannte harte Problem des Bewusstseins: Wie bringt elektrische Aktivität in Neuronen eine subjektive Erfahrung hervor? Entsprechend gibt es ein breites Spektrum an alternativen Konzepten zur Erklärung des Bewusstseins, beispielsweise Panpsychismus: die schon seit Jahrhunderten kursierende Vorstellung, dass Bewusstsein in unterschiedlichem Ausmaß eine Eigenschaft aller Materie im Universum ist, aber eben ganz besonders des menschlichen Gehirns. Daneben hat der Physiker und Nobelpreisträger Roger Penrose von der University of Oxford mit Unterstützung des Anästhesisten Stuart Hameroff von der University of Arizona in jüngerer Zeit die These aufgestellt, dass Bewusstsein aus quantenmechanischen Ereignissen innerhalb der Neurone entsteht.
Die »integrierte Informationstheorie« des Neurowissenschaftlers Giulio Tononi von der University of Wisconsin-Madison wiederum betrachtet Bewusstsein als eine Eigenschaft bestimmter physikalischer Systeme, sowohl lebender als auch nicht lebender. Sie versucht das menschliche Bewusstsein mit seinen physikalischen Grundlagen zu verknüpfen und beschreibt es als etwas, was aus neuronalen Netzwerken entsteht, die sich durch Rückkopplung selbst modifizieren. Stanislas Dehaene, experimenteller Kognitionspsychologe am Collège de France in Paris, stellt Tononis Idee seine eigene »globale neuronale Arbeitsraumtheorie« gegenüber. Sie geht davon aus, dass Sinnesdaten, die starke Aufmerksamkeit erhalten, in ein sich über das gesamte Gehirn erstreckendes Netzwerk miteinander verbundener Neurone als »Arbeitsraum« gelangen. Dort stehen sie dann den Untersystemen der Kognition wie Gedächtnis und Entscheidungsfindung zur Verfügung. Bewusstsein entstehe demnach dann, wenn sensorische Informationen zusammentreffen und für Prozesse in anderen Hirnregionen zugänglich werden.
Allen diesen Theorien mangelt es jedoch an überzeugenden Beweisen. In einem vielbeachteten Wettbewerb im Juni 2023, der von der Templeton World Charity Foundation gesponsert wurde, traten die integrierte Informationstheorie und die globale neuronale Arbeitsraumtheorie gegeneinander an. Dabei konzentrierte man sich auf funktionelle MRT-Hirnscans (fMRT) während verschiedener Aufgaben. Allerdings ist die fMRT ein schlechter Indikator für neuronale Aktivität, da sie die Sauerstoffsättigung im Gehirnblut misst und nicht die elektrischen Impulse. Darüber hinaus kann die Verarbeitung und Interpretation derselben fMRT-Daten zwischen verschiedenen Labors variieren. Daher sind die ersten vorläufigen Ergebnisse, die teilweise widersprüchlich sind, aber insgesamt eher für die integrierte Informationstheorie sprechen würden, mit großer Vorsicht zu genießen.
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