Tierbewusstsein: Wie Insekten die Welt erleben
Im Jahr 2022 beobachteten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an der Queen Mary University of London ein bemerkenswertes Verhalten bei Hummeln: Die kleinen, pelzigen Insekten taten etwas, das man nur als Spiel bezeichnen kann. Sobald das Team sie mit winzigen Holzkugeln ausstattete, rollten sie diese wie Bälle hin und her. Das hatte weder einen erkennbaren Nutzen für die Paarung oder das Überleben, noch wurde es von den Forschenden belohnt. Offensichtlich hatten die Hummeln einfach Spaß an der Aktivität.
Dies ist ein Ergebnis aus einer Reihe von Forschungsarbeiten, die eine Gruppe namhafter Fachleute im April 2024 zitierte, um ihre neue Deklaration zum Tierbewusstsein zu untermauern. Sie weitet den Bewusstseinsbegriff auf eine große Anzahl von Arten aus und verweist dabei auf aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse. Seit Jahrzehnten ist man sich weitgehend einig darüber, dass uns nahe verwandte Tiere – zum Beispiel Menschenaffen – bewusst erleben, obgleich sich ihr Bewusstsein von unserem unterscheidet. Doch möglicherweise kommen bewusste Erfahrungen auch bei Tieren vor, die sich stark von uns unterscheiden.
Diese Auffassung stellt den Knackpunkt der neuen Deklaration dar, die Fachleute aus der Biologie und der Philosophie unterschrieben haben. Unter anderem heißt es darin: »Empirische Belege deuten darauf hin, dass zumindest eine realistische Möglichkeit von bewusstem Erleben bei allen Wirbeltieren (einschließlich Reptilien, Amphibien sowie Fischen) und vielen Wirbellosen (inklusive mindestens der Kopffüßer, Krebstiere sowie Insekten) besteht.« Jüngere Forschungsarbeiten hatten bei ihnen Verhaltensweisen beschrieben, die darauf hindeuten. Möglicherweise hat man den Grad der für das Bewusstsein erforderlichen neuronalen Komplexität also lange überschätzt.
Die vier Paragraphen umfassende »New York Declaration on Animal Consciousness« (»New Yorker Erklärung zum Tierbewusstsein«) stellten die Expertinnen und Experten am 19. April 2024 auf einer Konferenz der New York University vor. Federführend waren die Philosophin und Kognitionswissenschaftlerin Kristin Andrews von der York University in Ontario, der Philosoph und Umweltwissenschaftler Jeff Sebo von der New York University und der Philosoph Jonathan Birch von der London School of Economics and Political Science. 39 Fachleute hatten die Erklärung unterzeichnet, darunter die Psychologen Nicola Clayton und Irene Pepperberg, die Neurowissenschaftler Anil Seth und Christof Koch, der Zoologe Lars Chittka und die Philosophen David Chalmers und Peter Godfrey-Smith.
»Ich wünsche mir mehr Verständnis und Wertschätzung dafür, dass wir mit anderen Tieren viel mehr gemeinsam haben als mit Dingen wie ChatGPT«Anil Seth, Neurowissenschaftler an der University of Sussex
Die Deklaration konzentriert sich auf die grundlegendste Art von Bewusstsein, grob gesagt, ob es »wie etwas« ist, dieses Lebewesen zu sein. Die Idee kommt von dem Philosophen Thomas Nagel, der sie 1974 in seinem einflussreichen Aufsatz »Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?« formulierte. Selbst wenn sich ein Lebewesen stark von uns unterscheidet, schrieb Nagel, »hat ein Organismus grundsätzlich bewusste mentale Zustände, wenn und nur wenn es wie etwas ist, wie dieser Organismus zu sein … Wir können dies den subjektiven Charakter der Erfahrung nennen.« Erlebt ein Tier in dieser Art bewusst, hat es die Fähigkeit, Gefühle wie Schmerz, Freude oder Hunger zu empfinden. Es erzeugt jedoch nicht notwendigerweise komplexere mentale Zustände wie ein Selbstkonzept.
»Ich hoffe, die Deklaration lenkt die Aufmerksamkeit auf nichtmenschliches Bewusstsein und auf die ethischen Herausforderungen, die damit einhergehen«, kommentierte Anil Seth, Neurowissenschaftler an der University of Sussex. »Ich hoffe, sie regt Diskussionen an und informiert politische Entscheidungen sowie Tierschutzpraktiken. Ich wünsche mir auch mehr Verständnis und Wertschätzung dafür, dass wir mit anderen Tieren viel mehr gemeinsam haben als mit Dingen wie ChatGPT.«
Lernfähig, neugierig, ängstlich
Die Idee zur Deklaration entstand im Herbst 2023 bei Gesprächen zwischen Sebo, Andrews und Birch. »Wir drei unterhielten uns darüber, wie viel sich in den letzten 10, 15 Jahren bei der Erforschung des tierischen Bewusstseins getan hat«, erinnert sich Sebo. Mittlerweile wissen wir zum Beispiel, dass Kraken Schmerzen empfinden und dass Tintenfische sich an Details bestimmter vergangener Ereignisse erinnern. In Studien schienen Putzerlippfische eine Art Spiegeltest zu bestehen, der auf ein gewisses Maß an Selbsterkennung hindeutet. Bei Zebrafischen fand man Anzeichen von Neugierde. In der Insektenwelt zeigen Bienen ein offensichtliches Spielverhalten, während Drosophila-Taufliegen ein ausgeprägtes Schlafmuster aufweisen, das von ihrem sozialen Umfeld beeinflusst wird. Flusskrebse haben angstähnliche Zustände – und diese können durch angstlösende Medikamente gelindert werden.
Diese und weitere Hinweise auf bewusstes Erleben bei Tieren, die lange Zeit als »einfach gestrickt« galten, erregten im Fachbereich viel Aufsehen. »Eine Menge Menschen haben mittlerweile akzeptiert, dass Säugetiere und Vögel sehr wahrscheinlich ein Bewusstsein haben. Doch anderen Wirbeltieren sowie wirbellosen Tieren schenkte man weniger Aufmerksamkeit«, erläutert Sebo. In Gesprächen und auf Tagungen waren sich Expertinnen und Experten weitgehend einig darüber, dass diese ebenfalls bewusst erleben müssten. Die Diskussion erreichte jedoch nicht die breite Öffentlichkeit, einschließlich anderer Forschender und politischer Entscheidungsträger. Daher beschlossen die drei, eine klare, prägnante Erklärung zu verfassen. Diese verbreiteten sie in ihrem Fachbereich, damit weitere Fachleute sie mitunterzeichnen konnten. Die Deklaration erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Vielmehr soll sie laut Sebo aufzeigen, wo das Forschungsgebiet aktuell steht und wohin es sich entwickelt.
Die Erklärung knüpft an ein 2012 veröffentlichtes Konsensdokument an. In dieser »Cambridge Declaration on Consciousness« (»Cambridge-Erklärung zum Bewusstsein«) hieß es, eine Reihe nicht menschlicher Tiere hätten »die Fähigkeit, absichtliche Verhaltensweisen an den Tag zu legen«. Der Mensch sei also »nicht der Einzige, der die neurologischen Voraussetzungen für Bewusstsein besitzt«.
Das neue Schriftstück erweitert den Geltungsbereich seines Vorgängers. Außerdem sei es sorgfältiger formuliert, erklärt Seth. »Es versucht nicht, Wissenschaft per Diktat zu betreiben. Vielmehr betont es, welche Punkte wir angesichts der uns vorliegenden Beweise und Theorien in Sachen tierisches Bewusstsein und der damit verknüpften Ethik ernst nehmen sollten.« Er ergänzt, er sei kein Freund von »Lawinen offener Briefe«, doch in dem Fall sei er »zu dem Schluss gekommen, dass diese Erklärung absolut unterstützenswert ist.«
Peter Godfrey-Smith, Wissenschaftsphilosoph an der Universität von Sydney, beschäftigt sich intensiv mit Kraken. Er ist davon überzeugt, dass man die komplexen Verhaltensweisen der Tiere – einschließlich Problemlösung, Werkzeuggebrauch und Spielverhalten – nur als Anzeichen für Bewusstsein interpretieren kann. »Sie zeigen diese aufmerksame Beschäftigung mit Dingen, mit uns und mit neuen Objekten. Das macht es sehr schwer, nicht zum Schluss zu kommen, dass in ihnen eine ganze Menge vor sich geht«, erzählt er. Er verweist auf aktuelle Arbeiten, die sich mit Schmerzen und traumähnlichen Zuständen bei Kraken und Tintenfischen befassen. Sie würden »in dieselbe Richtung weisen – nämlich, dass bewusstes Erleben ein bedeutender Teil ihres Lebens ist«.
Viele der in der Deklaration erwähnten Tiere haben Gehirne und Nervensysteme, die sich stark von denen des Menschen unterscheiden. Das muss jedoch kein Hindernis für das Entstehen von Bewusstsein sein, meinen die Unterzeichner. Das Gehirn einer Biene enthält zum Beispiel nur etwa eine Million Neurone, während es beim Menschen zirka 86 Milliarden sind. Doch jedes dieser Bienenneurone kann so verzweigt sein wie die Wurzeln einer Eiche. Das Netz an Verbindungen, das sie bilden, ist unglaublich dicht: Die Nervenzellen stehen womöglich mit 10 000 oder 100 000 weiteren Zellen in Kontakt. Das Nervensystem eines Tintenfisches ist dagegen in anderer Hinsicht komplex. Es ist eher dezentral organisiert; ein abgetrennter Arm kann deshalb noch viele der Verhaltensweisen des intakten Tieres zeigen.
Für Kristin Andrews ist das Fazit, dass »man möglicherweise nicht annähernd so viel mentale Kapazitäten braucht, wie wir dachten«, um Bewusstsein zu erlangen. Mitunter benötigt es etwa gar keine Großhirnrinde dafür. Die äußere Schicht des Säugetiergehirns spielt bei Aufmerksamkeit, Wahrnehmung, Gedächtnis und anderen Schlüsselaspekten des bewussten Erlebens eine Rolle. Für die einfachere Form des Bewusstseins, auf die die Erklärung abzielt, ist sie aber nicht erforderlich.
»Wir müssen Tieren in Gefangenschaft die Möglichkeiten bieten, die Komplexität zu entfalten, die ihnen innewohnt«Jeff Sebo, Philosoph und Umweltwissenschaftler
»Es gab eine große Debatte darüber, ob Fische ein Bewusstsein haben können. Ein Großteil davon hatte damit zu tun, dass ihnen die Hirnstrukturen fehlen, die wir bei Säugetieren sehen«, erzählt sie. »Doch wenn man sich Vögel, Reptilien und Amphibien anschaut, haben sie ebenfalls ganz anders aufgebaute Gehirne. Und dennoch stellen wir fest, dass Teile von ihnen die gleiche Art von Arbeit leisten wie die Großhirnrinde beim Menschen.« Peter Godfrey-Smith pflichtet ihr bei. Verhaltensweisen, die auf Bewusstsein hindeuten, könnten ihm zufolge »in einer Architektur existieren, die der von Wirbeltieren oder Menschen völlig fremd ist«.
Weit reichende Folgen
Die Erklärung wirft ein neues Licht auf die Behandlung von Tieren und insbesondere auf die Verhinderung von Tierleid. Laut Jeff Sebo reiche es nicht aus, Tiere in Gefangenschaft vor körperlichen Schmerzen und Unannehmlichkeiten zu bewahren. »Wir müssen ihnen auch Möglichkeiten bieten, ihre Instinkte auszuleben, ihre Umgebung zu erforschen, sich in soziale Systeme einzubringen und die Komplexität zu entfalten, die ihnen innewohnt«, erläutert er.
Die Folgen davon, eine größere Zahl an Tierarten als »bewusst« anzuerkennen – insbesondere solche, deren Interessen wir normalerweise nicht berücksichtigen –, könnten mannigfaltig sein. Zum Beispiel wäre unsere Beziehung zu manchen Insekten weiterhin »zwangsläufig eine etwas antagonistische«, meint Godfrey-Smith. Einige Schädlinge fressen Nutzpflanzen und Stechmücken können Krankheiten übertragen. »Die Vorstellung, dass wir sozusagen mit Moskitos Frieden schließen, unterscheidet sich stark von jener, dies mit Fischen und Tintenfischen zu tun«, sagt er.
»Die Vorstellung, dass wir sozusagen mit Moskitos Frieden schließen, unterscheidet sich stark von jener, dies mit Fischen und Tintenfischen zu tun«Peter Godfrey-Smith, Wissenschaftsphilosoph
Über das Wohlergehen von Nutz- und Versuchstieren wie Ratten und Mäusen wird bereits intensiv diskutiert. Doch kaum jemand sorgt sich um Insekten wie Drosophila, die in der biologischen Forschung ebenfalls häufig genutzt werden, erläutert Matilda Gibbons. Sie untersucht an der Universität von Pennsylvania die neuronalen Grundlagen des Bewusstseins und hat die Deklaration mitunterzeichnet. Wissenschaftliche Gremien schufen in der Vergangenheit Standardanforderungen für die Behandlung von Labormäusen. Ob die neue Erklärung Vorgaben für den Umgang mit Insekten anstoßen wird, ist unsicher.
Gegebenenfalls katalysieren experimentelle Befunde sogar politische Maßnahmen. Das war bereits in Großbritannien der Fall, wo man Gesetze zum besseren Schutz von Tintenfischen, Krabben und Hummern erließ, nachdem ein Bericht aufgezeigt hatte, dass diese Schmerzen, Ängste und Leid empfinden können. Andrews hofft, die Deklaration stößt weitere Forschungen über Tiere an, die bisher oft übersehen wurden. Das könnte unser Wissen über die Formen von Bewusstsein in der Tierwelt zusätzlich erweitern. »All die Fadenwürmer und Taufliegen, die in fast jeder Universität zu finden sind – untersucht Bewusstsein an ihnen«, appelliert sie an Kolleginnen und Kollegen. »Die Tiere sind bereits da. Irgendjemand im Labor wird ein Projekt brauchen. Machen Sie es zu einem Bewusstseinsprojekt.«
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.