Bidirektionales Laden: Das Auto als Stromspeicher

Der Begriff »Fahrzeug« ist irreführend, »Stehzeug« trifft es besser – so lautet jedenfalls eine verbreitete Kritik an autozentrierter Verkehrsplanung. Denn die rund 50 Millionen Pkw in Deutschland fahren nur selten, die meiste Zeit stehen sie herum. Ungenutzt. Doch das ließe sich ändern: Akkus von parkenden E-Fahrzeugen könnten dem Stromnetz nämlich als Speicher dienen. Wenn der fluktuierende Strom aus Wind- oder Solaranlagen für Lastspitzen sorgt, nehmen die Autobatterien diesen auf und speisen ihn später wieder ins Netz. Im Schwarm verbunden könnten die Autobatterien das Netz stabilisieren, der Neubau großer Stromspeicher würde zumindest teilweise obsolet. Unter dem Stichwort Vehicle to Grid, kurz V2G, gilt die Technologie des bidirektionalen Ladens als wichtiger Beitrag zur Energiewende.
Wie groß ihr Potenzial genau ist, dazu kursieren teils kühne Zahlen von bis zu 380 Gigawattstunden im Jahr 2035 – doppelt so viel, wie es für die Energiewende nach Berechnungen des Fraunhofer ISE nötig wäre. Zum Vergleich: Die 30 Pumpspeicherkraftwerke in Deutschland haben eine Kapazität von 40 Gigawattstunden. Die Schätzungen unterscheiden sich allerdings je nach getroffenen Annahmen.
Außerdem hat die Rechnung viele Unbekannte. Niemand weiß heute genau, wie viele E-Fahrzeuge die Deutschen in zehn Jahren fahren und wie viele davon technisch in der Lage sein werden, als Speicher für die Allgemeinheit zu dienen. Ebenfalls unklar ist, wie viele dieser Autos dann real am Netz hängen werden und bei welchen wiederum der Besitzer sein Okay für das Stromgeschäft gibt.
»Aus volkswirtschaftlicher Sicht ist es unbedingt sinnvoll, das Potenzial von Speichern in E-Autos zu heben«, sagt Frank Schuldt vom Institut für Vernetzte Energiesysteme am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) in Oldenburg. »Für die Besitzer lohnt es sich grundsätzlich, sie nicht nur fürs Fahren, sondern zusätzlich als Stromspeicher zu verwenden und damit Geld zu verdienen.« Moderne Batterien würden durch die Nutzung im Fahrbetrieb nicht so stark beansprucht, dass sie an das Ende ihrer Lebensdauer von geschätzt 15 Jahren geraten. Überdies benötige das Energiesystem des Landes mehr Speicher. »Wenn vorhandene Batterien – wie im Auto – effektiver ausgenutzt werden, müssen weniger neue gebaut werden, das spart Ressourcen.«
Themenwoche »Energiespeicher«
Ausbau der Erneuerbaren: läuft. Bau neuer Stromtrassen: geht voran. Doch erst Speicher machen die Energiewende komplett. In dieser Themenwoche nehmen wir kleine und große Batterien, Wasserstoffspeicher und Biogas in den Blick. Sie stabilisieren das Stromnetz in Millisekunden oder überbrücken tagelange Dunkelflauten. Doch Energie ist nicht nur Strom. Den Großteil unserer Energie nutzen wir in Form von Wärme. Und auch die lässt sich im großen Maßstab speichern – über Jahreszeiten hinweg.
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In der Praxis bestehen allerdings etliche Hürden. Es braucht ein geeignetes E-Fahrzeug sowie einen Stromanschluss, der bidirektional ist, also Strom in beide Richtungen leiten kann. Der Gleichstrom aus dem Auto muss zum Wechselstrom des Netzes umgewandelt und obendrein dort in der passenden Frequenz eingespeist werden. Manche Hersteller setzen dafür auf fahrzeuginterne Geräte, andere auf eine bidirektionale Wallbox. Letztere kann mit Montage schnell um die 2000 Euro kosten. »Das müssen Sie erst mal wieder rausholen mit der Speichernutzung«, sagt Schuldt. »Hier müssen die Kosten unbedingt sinken.«
Engpass Smart Meter – andere Länder sind weiter
Außerdem ist ein »intelligenter Stromzähler« nötig, um den Energiefluss zwischen Akku und Netz zu steuern. Bisher haben nur drei Prozent der deutschen Haushalte ein solches Smart Meter, andere Länder sind wesentlich weiter. Das ist der Hauptgrund, weshalb Deutschland in einer Analyse von Berylls Strategy Advisors nur auf Platz 15 landet. Die Beratungsfirma hat für die noch unveröffentlichte Untersuchung berechnet, wie weit die einzelnen europäischen Länder im Jahr 2025 in Sachen bidirektionales Laden sind. Auch bei der Verbreitung von V2G-fähigen Autos steht Deutschland nicht gut da. Lediglich 1,5 Prozent der Haushalte verfügen über ein solches Fahrzeug. Die Spitzenplätze des Rankings nehmen Norwegen, die Niederlande und Schweden ein.
»Bereits heute könnten die in Deutschland vorhandenen 1,6 Millionen E-Autos das Energiesystem wirksam stützen«Karen Derendorf, Expertin für Energienetze
Eine verpasste Chance, denn theoretisch könnten die bereits heute in Deutschland vorhandenen 1,6 Millionen E-Autos das Energiesystem wirksam stützen, wie Schuldts Kollegin Karen Derendorf erklärt. Zusammengenommen könnten sie mit einer Leistung von rund 18 Gigawatt Strom aus dem Netz aufnehmen oder einspeisen. »Verfügbar wäre aber nur ein Bruchteil, weil nicht alle Autos am Ladekabel hängen«, so die DLR-Forscherin. »Doch selbst dieser Teil würde ausreichen, um rund drei Gigawatt bereitzustellen, die man üblicherweise benötigt, um das Stromnetz bei Störungen kurzfristig stabil zu halten.« Bislang ist das allerdings nur ein Rechenbeispiel mit Konjunktiven. Ob es Realität wird, ist offen.
Die zusätzlichen Ladevorgänge belasten den Fahrzeugakku wenig
Ein weiteres Hemmnis ist die Sorge um den Akku, der durch jeden zusätzlichen Ladevorgang belastet wird. Bezogen auf die Gesamtlebensdauer sind die Folgen jedoch gering. So simulierte ein Team um Dirk Uwe Sauer von der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule (RWTH) Aachen das Verhalten einer 52-Kilowattstunden-Batterie über zehn Jahre. Intelligentes Laden, also mit batterie- und netzdienlichen Einstellungen, hielt den Akku signifikant »jünger« als sofortiges Laden, stets auf 100 Prozent, so das erste Resultat.
Im Szenario mit bidirektionalem Laden altert der Akku um zusätzliche 1,7 bis 5,8 Prozent Peakleistung. Er verliert zugleich an Kapazität, und die Reichweite eines E-Fahrzeugs sinkt dadurch um etwa sechs bis 19 Kilometer auf 264 Kilometer. Für eine Kapazität dieser Größenordnung muss man heute einmalig rund 100 bis 300 Euro investieren. Durch das bidirektionale Laden könne man aber über 600 Euro pro Jahr verdienen, heißt es in der Studie, die die Universität zusammen mit The Mobility House Energy durchgeführt hat, einem Vermarkter von Batteriespeichern.
»Intelligentes Laden und Vehicle to Grid sind Gamechanger für die Elektromobilität«, urteilt Sauer. »Die häufige Sorge, dass dies der Batterie schadet und eine vorzeitige Alterung bewirkt, kann damit aus dem Weg geräumt werden, sofern ein intelligentes Management eingesetzt wird.«
Langfristig dürften die Erträge sinken
Nur entscheidet nicht die Technik allein. Auch angesichts der Kosten hat der RWTH-Forscher Bedenken. Er moniert, dass die bidirektionalen Wallboxen noch viel zu teuer seien. Entsprechende Wechselrichter in den Fahrzeugen seien wesentlich günstiger und eher geeignet, der Technologie zum Aufschwung zu verhelfen. Sauer warnt außerdem vor langfristig sinkenden Erträgen aus dem Stromgeschäft: »Je mehr Speicher im Markt angeboten werden, umso weniger Gewinn lässt sich erzielen.«
Obendrein fallen bisher doppelte Netzentgelte an, beim Ein- wie beim Ausspeichern. Stationäre Großspeicher hingegen sind davon befreit, was in der V2G-Branche kritisiert wird. Eine Gesetzesintiative soll hier nun Abhilfe schaffen: Auch bidirektional ladende E-Autos werden damit von den Netzentgelten und der Stromsteuer ausgenommen, wenn sie zurück ins Netz speisen.Alternativ könnten Autobesitzer den Akku aber auch für »Vehicle to Home«, kurz V2H, nutzen, um lediglich das hauseigene Energiesystem zu stützen und Kosten zu sparen. Auch das hilft dem Stromnetz, weil Bedarfsspitzen abgepuffert werden.
Ebenso wichtig – und von den Ingenieuren und Ökonomen gelegentlich verdrängt – ist die Akzeptanz bei den potenziellen Kunden. »Hierfür müssen Hemmnisfaktoren identifiziert und aktiv angegangen werden«, sagt Stefan Mang vom Centouris-Institut der Universität Passau, das seit Jahren Nutzerforschung zum Thema Elektromobilität betreibt. Dazu gehöre nicht nur die Furcht, dass der Akku übermäßig unter den Ladevorgängen leidet, sondern beispielsweise ebenso, dass der Netzbetreiber so viel Strom entnimmt, dass das Auto kaum noch Reichweite hat. »Die Realität ist anders, und das sollten Anbieter offensiver kommunizieren«, stellt Mang fest. Gerade auch, um die breite Masse zu erreichen. Technikaffine Nutzer seien grundsätzlich eher bereit, etwas Neues auszuprobieren; aber sie seien nun mal in der Minderheit.
»Wer ein E-Auto für 40 000 Euro oder mehr in der Garage stehen hat, für den ist es nicht unbedingt ein Anreiz, wenn er damit ein paar Euro hinzuverdient«Stefan Mang, Ökonom
Den wirtschaftlichen Gewinn durch V2G sieht der Ökonom hingegen nicht immer als überzeugendes Argument. »Wer ein E-Auto für 40 000 Euro oder mehr in der Garage stehen hat, für den ist es nicht unbedingt ein Anreiz, wenn er damit ein paar Euro hinzuverdient.« Wirksamer könnten Gamification-Ansätze sein. »Das könnte etwa eine Auszeichnung sein: Du warst diesen Monat unter den Top 50, die das Netz stabilisiert haben, oder du bekommst ein grünes Zertifikat, weil du besonders viel Strom geliefert hast«, skizziert er.
E-Laster haben zehnmal mehr Speicherkapazität
Bei Spediteuren hingegen dürfte das ökonomische Argument eher verfangen. Ihr Geschäft ist stark kostengetrieben. Weitaus weniger emotional als Pkw-Fahrer schauen sie auf Spar- und Gewinnmöglichkeiten. Daher sehen Fachleute wie Philipp Rosner von der Technischen Universität München hier großes Potenzial. Er und sein Team forschen zum bidirektionalen Laden bei Lkw und berufen sich auf zwei Vorteile. »Erstens ist die Speicherkapazität in E-Trucks viel größer als in Pkw, etwa um den Faktor zehn«, erklärt er. Das lohne sich für den Eigentümer ebenso wie für einen Netzbetreiber, der statt zehn Pkw nur einen Laster benötige, um eine bestimmte Energiemenge zu speichern. Zweitens nutzen Lkw aufgrund der höheren Ladeleistung ohnehin Gleichstrom-Ladesäulen, das mache die Verknüpfung für bidirektionales Laden technisch einfacher.
»Bei Lkw ist einerseits der Hebel pro Fahrzeug größer und andererseits gehen Nutzfahrzeugbetreiber weniger emotional heran«Philipp Rosner, Experte für Fahrzeugtechnik
Am Markt sind solche Systeme bislang nicht, die Elektromobilität hängt im Lastverkehr bekanntermaßen hinterher. »Ich glaube aber, dass die Lkw schneller aufholen, da einerseits der Hebel pro Fahrzeug größer ist und andererseits Nutzfahrzeugbetreiber weniger emotional herangehen«, sagt Rosner. Bei den aktuellen Forschungen kooperiert die Universität mit MAN. »Andere Hersteller dürften ähnliche Entwicklungen vorantreiben«, vermutet der Forscher. In rund fünf Jahren, schätzt er, könnte es bereits eine nennenswerte Marktdurchdringung geben.
Die Autos können bei einem Stromausfall einspringen
Doch es gibt eine wichtige Einschränkung. E-Lkw sind viel häufiger auf den Straßen unterwegs als Pkw. Für das Speichergeschäft kommen lediglich die Nachtstunden infrage, dazu bestenfalls noch längere Pausen. »Das heißt, ich brauche tagsüber trotzdem die Speicher der Pkw«, sagt der RWTH-Energieforscher Sauer. »Und nachts nehmen die Trucks den Pkw den Markt weg.« Seiner Meinung nach komme es gar nicht so sehr darauf an, dass E-Laster den Strom rückspeisen. Wichtiger sei vielmehr ein intelligentes Lademanagement: Hauptsache, das Fahrzeug ist beispielsweise ab sechs Uhr startklar. Wann es geladen wird, entscheidet der Netzbetreiber gemäß seiner Kapazitäten. Damit würde das Energiesystem bereits spürbar entlastet.
Bidirektional ladende E-Autos haben noch einen weiteren Vorteil. Sollte der Strom ausfallen, können sie als Notversorger einspringen. So geschehen im September 2025: Nach einem mutmaßlich linksextremen Sabotageangriff auf den Technologiepark Berlin-Adlershof war die Stromversorgung dort über 60 Stunden unterbrochen. Einige Beschäftigte betrieben ihre Bürogeräte dann kurzerhand mit Energie aus dem Auto und blieben einsatzfähig. Das funktioniert ebenso im Haushalt. Die Kapazität einer Fahrzeugbatterie genüge, um mehrere Tage zu überbrücken, sagt Sauer.
Fachleute sehen hier sogar eine Option, das Energiesystem resilienter zu machen. Sollte das Stromnetz zusammenbrechen, ließe sich beginnend mit bidirektionalen Fahrzeugen ein lokales Inselnetz wieder aufbauen. »Sie sind in etwa so verteilt wie die Bevölkerungsstruktur und damit genau dort, wo sie gebraucht werden«, sagt Sauer. Große Batteriespeicher wären zwar ebenso geeignet, doch diese werden eher auf der grünen Wiese gebaut und nicht in den Stadtzentren.
Wie die E-Autos für den Krisenfall am besten organisiert und zusammengeschaltet werden, wird unter anderem an der RWTH Aachen erforscht. Aber auch diese Rettungsoption funktioniert nur, wenn es genügend E-Autos gibt, die dem Netz zur Verfügung stehen.
Anmerkung: Wir haben den ursprünglichen Artikel am 2.12. um den Verweis auf eine Gesetzesnovelle ergänzt, wonach für bidirektional ladende E-Autos künftig keine Netzentgelte und Stromsteuer mehr anfallen.
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