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Biodiversität: Wir entdecken Arten so schnell wie nie

Wie viele Arten insgesamt auf der Erde leben, ist völlig unbekannt. Sicher ist jedoch, dass die Zahl der neu beschriebenen Tiere und Pflanzen Rekorde bricht.
Ein Leguan sitzt auf einem Ast im dichten Dschungel. Das Tier hat eine auffällige, schuppige Haut mit grünen und weißen Mustern. Der Hintergrund ist dunkel, was die natürliche Umgebung des Waldes andeutet. Das Reptil ist aufmerksam und scheint sich an die Umgebung anzupassen.
Der bekannte Helmleguan (Corytophanes cristatus) bekommt jedes Jahr eine größere Verwandtschaft unter den Reptilien: Etwa 100 Arten werden regelmäßig neu beschrieben.

Schätzungsweise 2,5 Millionen Arten kennt die Menschheit: So viele Tiere, Pflanzen, Pilze und Mikroorganismen sind beschrieben. Doch die wahre Zahl liegt wohl wesentlich höher – irgendwo zwischen mehreren zehn oder hunderten Millionen Spezies laut Vermutungen. Sie alle zu erfassen, erscheint unmöglich, auch wenn wir neuen Erhebungen zufolge inzwischen rekordverdächtig viele Arten jedes Jahr neu wissenschaftlich identifizieren, wie ein Team um John Wiens von der University of Arizona in Tucson ermittelt hat. Im letzten vollständigen Datenzeitraum zwischen 2015 und 2020 kategorisierten Wissenschaftler weltweit durchschnittlich 16 000 Arten pro Jahr neu – mehr als doppelt so viele wie in den 1990er-Jahren.

Die Mehrheit davon (10 000) entfällt auf Tiere, worunter wiederum die Gliederfüßer wie Insekten oder Spinnen dominieren. Pflanzen (2500 Spezies) und Pilze (2000) folgen auf den nächsten Plätzen. Die meisten dieser Arten werden tatsächlich noch anhand sichtbarer Merkmale neu beschrieben, doch DNA-Analysen sorgen dafür, dass der Anteil sogenannter kryptischer Spezies wächst: Tiere und Pflanzen, die sich auf den ersten Blick komplett ähneln, deren Erbgut sich aber so stark unterscheidet, dass sie teilweise größere Differenzen aufweisen als Mensch und Schimpanse. Vor allem bei Bakterien, Archaea oder Pilzen böte die DNA-Analyse lange Zeit ungeahnte Möglichkeiten, eine Vielzahl neuer Arten zu erfassen.

Es sei allerdings nicht so, dass Biologinnen und Biologen »nur« unscheinbare Käfer oder kleine Pflanzen neu erfassten, berichten Wiens und Co.: Jedes Jahr beschreiben sie auch bis dahin unbekannte Vögel, Säugetiere oder Bäume. Anhand der von der Arbeitsgruppe ermittelten Rate an Neubeschreibungen der letzten Jahre könnte die Mehrzahl der Fische oder Amphibien noch unbekannt sein. Gegenwärtig kennt man zum Beispiel 42 000 Knochenfischarten, doch könnte die tatsächliche Zahl bei 115 000 - die Tiefsee oder die Amazonasregion gelten beispielsweise als unzureichend erforscht. Bei Amphibien sind 9000 Arten erfasst; jedoch könnten mehr als 30 000 unbekannte Spezies existieren, die Mehrheit davon in den feuchten Ökosystemen der Tropen. 

Bei den meisten Wirbeltierklassen stieg die Rate der Neuentdeckungen in den letzten Jahrzehnten an: Das gilt sogar für die gut untersuchten Säugetiere, wobei die Gesamtrate allerdings niedriger ist als zu Beginn des 20. Jahrhunderts – der Hochzeit der Erfassung großer Säugetierarten. Die Ausnahme unter den Wirbeltieren bilden die Vögel, bei denen die große Mehrzahl der Arten seit mehr als 100 Jahren bekannt ist und sich die Zahl der Neubeschreibungen auf wenige Arten pro Jahr eingependelt hat.

Die Rate der Entdeckungen sei insgesamt auch deutlich höher als die der jedes Jahr ausgestorbenen Arten: Pro Jahr verschwänden zehn Spezies für immer, kalkulieren die Wissenschaftler – mit rückläufiger Tendenz in den letzten 100 Jahren, wie sie in einer früheren Studie errechneten. Im Gegensatz zu den gesichert erfassten Neubeschreibungen ist diese Zahl jedoch mit zahlreichen Unsicherheiten verbunden: Bis eine Spezies als gesichert ausgestorben klassifiziert wird, dauert es oft mehrere Jahre bis Jahrzehnte ohne belegte Sichtung oder andere Hinweise. Selbst bei einer großen Vogelart wie dem nordamerikanischen Elfenbeinspecht dauerte es über 70 Jahre, bis ihn US-Behörden als ausgestorben deklarierten (und selbst danach rissen die Diskussionen nicht ab).

Bei vielen Pflanzen und Tieren fehlen zudem überhaupt Daten zu ihrer Verbreitung und ihrem Bestand; die Wissenschaft kennt oft wenig mehr als die reine Erstbeschreibung. Es ist also völlig unbekannt, ob sie überhaupt noch existieren. Gerade in den Tropen und in Wasserökosystemen ist die Datenmenge sehr klein. Das Aussterberisiko selbst betrachten Wiens und sein Team immerhin in Süßwasserlebensräumen sowie auf Inseln als am höchsten.

Als Nächstes möchte die Arbeitsgruppe die Zahl der Neubeschreibungen pro Fläche oder Region kartografisch erfassen, um entsprechende Hotspots zu erfassen. Neben der Tiefsee, von der Menschen nicht einmal 0,001 Prozent selbst gesehen haben, gelten tropische Gebirge und abgelegene Regenwälder als besonders aussichtsreiche Gebiete, um Tiere und Pflanzen zu entdecken. 

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  • Quellen
Li, X. et al., Science Advances 10.1126/sciadv.adz3071, 2025

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