Quantengravitation: Birgt Einsteins Theorie der Schwerkraft seltsame Quanteneffekte?

Die Natur der Schwerkraft – und die Frage, ob sie mit der Quantenmechanik in Einklang gebracht werden kann – ist eines der größten Rätsel der Physik. Die meisten Forschenden gehen davon aus, dass alle Phänomene auf fundamentaler Ebene den Gesetzen der Quantenphysik folgen. Aber diese scheinen nicht mit der anerkannten Theorie der Schwerkraft vereinbar.
Seit Jahren schlagen Fachleute Experimente vor, die belegen sollen, ob die Schwerkraft ein als »Verschränkung« bekanntes Quantenphänomen hervorrufen könnte. Verschränkung tritt auf, wenn zwei Objekte einen gemeinsamen Quantenzustand haben. In diesem Fall lassen sie sich nur durch eine gemeinsame Wellenfunktion beschreiben – zudem sagt die Vermessung einer Eigenschaft des einen Objekts mit Sicherheit das Messergebnis des anderen Objekts voraus. Frühere Arbeiten legen nahe, dass wenn zwei Quantenobjekte durch ihre gegenseitige Anziehungskraft verschränkt werden können, diese Anziehungskraft – etwa die Schwerkraft – quantentheorisch sein sollte.
In einem in der Fachzeitschrift »Nature« veröffentlichten Artikel argumentieren Richard Howl und Joseph Aziz von der Royal Holloway University of London jedoch, dass diese Schlussfolgerung zu einfach sei. Die Schwerkraft könnte Quanteneigenschaften äußern, ohne selbst eine Quantentheorie zu sein. Wenn sie Recht haben, dann würde das alle bisherigen Anstrengungen, eine Quantennatur der Schwerkraft im Labor zu untersuchen, zunichtemachen. Doch ihr kontraintuitiver Vorschlag ist in der Fachwelt durchaus umstritten.
Gravitation und Quantenfelder
In ihrer Studie untersuchten Howl und Aziz, wie zwei Massen miteinander wechselwirken können – allerdings nutzten sie als Grundlage eine vereinfachte Version der allgemeinen Relativitätstheorie von Albert Einstein. Die beiden Forscher arbeiteten im Rahmen der Quantenfeldtheorie – einer fortgeschritteneren Formulierung der Quantenmechanik, in der alles, einschließlich der Materie, als Welle beschrieben wird, die sich in einem Quantenfeld ausbreitet. Photonen entsprechen Wellen in einem elektromagnetischen Feld und Elektronen den Wellen in einem »Elektronenfeld«.
2022 haben Fachleute bereits gezeigt, dass das klassische Gravitationsfeld der einsteinschen Theorie keine Verschränkung erzeugen kann. Aziz und Howl erklären jedoch, dass die Wechselwirkung zwischen zwei Massen nicht nur durch das Gravitationsfeld selbst, sondern auch durch alle Materiefelder – wie das Elektronenfeld – erfolgt, die durchaus die Fähigkeit zur Verschränkung besitzen. »Wenn man sich genauer überlegt, woraus eine Gravitationswechselwirkung besteht, dann ist es möglich, dass auch klassische Wechselwirkungen Verschränkung erzeugen«, sagt Howl.
Quantenfeldtheorie
Anfang des 20. Jahrhunderts entstand die Quantenmechanik – und revolutionierte die Vorstellung von Materie. Plötzlich war ein Elektron nicht mehr bloß ein punktförmiges Teilchen; vielmehr besaß es in manchen Situationen Eigenschaften, die eigentlich lediglich Wellen innehaben. In den folgenden Jahren verallgemeinerten die Fachleute die quantenphysikalischen Konzepte, indem sie den Formalismus nicht nur auf die Mechanik, sondern auch auf den Elektromagnetismus und die Kernkräfte übertrugen.
Das führt jedoch schnell zu Problemen: So kann etwa die Quantenmechanik an sich nur Systeme mit einer festen Teilchenzahl beschreiben, die sich nicht ändert. Im Fall des Elektrons und seines Antiteilchens, des Positrons, trifft das aber beispielsweise nicht zu. Sie löschen sich gegenseitig aus. Für solche Systeme braucht es daher eine allgemeinere Theorie.
Und so entwickelte sich die Quantenphysik weiter. In den 1950er und 1960er Jahren setzten sich sogenannte Quantenfeldtheorien immer mehr durch. In diesen ist die Raumzeit niemals leer, sondern von verschiedenen Feldern durchzogen. Schwingungen darin entsprechen Teilchen oder Antiteilchen. Doch die Quantenfelder sind niemals ruhig: Sie sind der Theorie zufolge stets von kleinen Kräuselungen durchzogen, die extrem kurzlebigen Teilchen entsprechen. Die »virtuellen« Teilchen lassen sich nicht direkt detektieren – ihre Auswirkungen allerdings konnten bereits nachgewiesen werden.
Der Physiker Jonathan Oppenheim vom University College London gibt sich nicht überzeugt. Die Autoren haben zwar gezeigt, dass die Schwerkraft eine Rolle dabei spielt, wie sich die Materiefelder verhalten, doch es ist immer noch die Quantenwechselwirkung, welche die Verschränkung vermittelt, und nicht die Schwerkraft selbst, sagt er. »Nichtsdestotrotz denke ich, dass die Arbeit ein interessantes Phänomen aufzeigt, das zu Diskussionen anregt.«
Ein anderer Physiker, der anonym zitiert werden möchte, glaubt auch nicht an die Interpretation der beiden Autoren: »Wenn es die Materiefelder und nicht die Gravitationsfelder sind, welche die Verschränkung verursachen, ist es reine Semantik, sie als Effekt der Gravitation zu bezeichnen.«
Die Ergebnisse der Theorien von Howl und Aziz werden so schnell keinen Einfluss auf die geplanten Experimente haben, darin sind sich die Fachleute einig, auch die Autoren der neuen Studie. Denn die Stärke des Verschränkungseffekts zwischen zwei Massen, der durch Einsteins klassische Gravitation erzeugt wird, sollte viel schwächer sein als für den Fall, dass Gravitation eine Quantentheorie ist. Wenn die vorgeschlagenen Experimente also eine Quantenverschränkung nachweisen könnten, wäre es daher immer noch ein Beweis für die Quantennatur der Schwerkraft, sagt der Experimentalphysiker Markus Aspelmeyer von der Universität Wien, der auf dieses Ziel hinarbeitet. Das wäre ein Beweis dafür, dass Einsteins Theorie durch eine neue, eine Quantentheorie ersetzt werden muss.
Die Arbeit erinnere daran, wie subtil das Problem der Schwerkraft sei, fügt Aspelmeyer hinzu. Und dass Forscher vorsichtig sein sollten mit »stillschweigenden Annahmen«, die die Interpretation von experimentellen Daten beeinflussen könnten. Um wirklich eine Quantengravitation nachzuweisen, »möchte man ein Experiment durchführen, dessen Ergebnis mit unserer derzeitigen klassischen Gravitationstheorie nicht mehr beschrieben werden kann«, sagt er. »Das ist es, was jeder gerne tun würde.«
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.