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Bisexualität: Was Gene über die sexuelle Identität verraten

Eine Kontroverse um eine 2024 erschienene Arbeit über bisexuelles Verhalten macht deutlich, wie wichtig es ist, nicht zu viel in genetische Studien hineinzuinterpretieren – und wie leicht genau das passiert.
Ein schwules Paar hält einander an den Händen, am Handgelenk tragen sie Regenbogen-Bänder
Nicht alle Menschen gehen offen mit ihrer sexuellen Identität um. Auch in wissenschaftlichen Befragungen zum Thema machen Personen aus unterschiedlichsten Gründen unzutreffende Aussagen.

Im Januar 2024 veröffentlichten der Evolutionsbiologe Jianzhi Zhang und sein Mitarbeiter Siliang Song von der University of Michigan eine Studie, die eine kontroverse Diskussion unter Fachleuten entfachte. Die Untersuchung befasste sich mit menschlichem Sexualverhalten – und sie legt einen genetischen Zusammenhang zwischen einer erhöhten Neigung zur Risikobereitschaft und Bisexualität bei Männern nahe. Die Daten, die diese Verbindung stützen sollen, sind Ergebnisse einer genomweiten Assoziationsstudie (GWAS). Solche Arbeiten vergleichen die DNA vieler Menschen, um Überschneidungen von Genen und bestimmten Merkmalen aufzudecken. Die erwähnte Studie beschreibt, dass sich bisexuelles Verhalten bei Männern genetisch von ausschließlich gleichgeschlechtlichem Verhalten unterscheidet. Zudem spekuliert sie darüber, dass die Gene, die zu ersterem beitragen, auch mit einer Neigung zur Risikobereitschaft und zum Kinderkriegen verbunden seien.

»Das grundlegende Ergebnis ist, dass bisexuelles Verhalten genetisch positiv mit der Anzahl der Kinder korreliert«, fasst Jianzhi Zhang zusammen. Song und er fanden heraus, dass bei Probanden, die nach eigenen Angaben bisexuell sind, bestimmte Genvarianten – Allele genannt – häufiger vorkommen. Dieselben Allele stehen laut der Studie mit einer gemäß eigener Aussage höheren Risikobereitschaft in Verbindung. Einige Männer, die sich als ausschließlich heterosexuell beschrieben, besaßen die Genvarianten ebenfalls. Sie gaben im Schnitt eine höhere Zahl an Sexualpartnerinnen an. In vormodernen Gesellschaften, so die Studie, gab es eine starke Korrelation zwischen dieser Zahl und der Zeugung von Kindern. Die Forscher schlussfolgern, das könnte eine evolutionäre Erklärung dafür sein, dass bisexuelle Erbanlagen und entsprechendes Verhalten in der menschlichen Bevölkerung fortbestehen.

Die Untersuchung stützte sich auf Daten von etwa 450 000 Personen aus der UK Biobank. Diese verknüpft genetische Informationen von Teilnehmenden mit deren Selbstauskünften zu unterschiedlichen Fragen. In GWAS kommt die UK Biobank häufig zum Einsatz. Seit 2006 rekrutiert sie Probandinnen und Probanden, die in Großbritannien leben und zwischen 40 und 69 Jahre alt sind. Song und Zhang analysierten in ihrer Arbeit, wie häufig bei GWAS, nur Teilnehmer, die sich als weiß identifizierten. Auf Kategorien wie bisexuelles Verhalten, Anzahl der Kinder und Risikobereitschaft schlossen die Forschenden aus einigen wenigen Umfragewerten. So beruhten die Werte für letztere Eigenschaft auf der Beantwortung einer einzigen Frage, nämlich: »Würden Sie sich selbst als jemanden bezeichnen, der Risiken eingeht?«

»Hier wird eine Geschichte erzählt, die auf wenigen Daten beruht«Joanna Wuest, Politologin und Genderforscherin

Fachleute aus den Bereichen Genetik und menschliche Sexualität äußerten sich besorgt über die Schlussfolgerungen der Studie. Sie wiesen auf erhebliche Einschränkungen der Arbeit und weiterer GWAS hin und warnten zudem davor, eine Fehlinterpretation solcher Untersuchungen könne Schaden anrichten. Ihre Kritik bezieht sich nicht nur auf diese spezielle Studie; vielmehr machen sie auch auf generelle Probleme bei derartiger Genforschung aufmerksam und bemängeln, wie die Ergebnisse von Forschenden und der Öffentlichkeit interpretiert werden.

So geht der verbreitete Glaube an ein Gen, das für Homosexualität verantwortlich ist, auf eine Studie aus dem Jahr 1993 zurück. Sie analysierte die Erbinformation von 114 Familien und identifizierte genetische Marker auf dem X-Chromosom, die die Autoren mit männlicher sexueller Orientierung in Verbindung brachten. Nachfolgende Arbeiten und wissenschaftliche Analysen ließen seitdem erhebliche Zweifel an dieser Idee aufkommen. Eine Vielzahl von Expertinnen und Experten betrachtet sie sogar als widerlegt.

Interpretation erfordert besondere Vorsicht

Das bedeutet nicht, dass genetische Studien über menschliches Verhalten per se falsch sind. Wer sie durchführt und ihre Ergebnisse deutet, sollte allerdings bei den Schlussfolgerungen besondere Vorsicht walten lassen – vor allem dann, wenn es um Menschen aus Randgruppen geht, warnt der Genetiker Steven Reilly von der Yale University.

Seiner Meinung nach hätte die Studie zur Bisexualität mit größerer Sorgfalt durchgeführt und interpretiert werden können. Andere Fachleute stimmen ihm zu. »Es ist eine Arbeit, die technisch korrekte Korrelationsanalysen enthält«, erläutert der Soziologe und Datenwissenschaftler Robbee Wedow von der Purdue University in Indiana. Dennoch seien viele ihrer Behauptungen nur schwach von Evidenz untermauert und Schlussfolgerungen überspitzt. Die Politologin und Genderforscherin Joanna Wuest vom Mount Holyoke College in Massachusetts schließt sich dem an. »Hier wird eine Geschichte erzählt, die auf wenigen Daten beruht«, sagt sie. Zhang räumt ein, dass die Studie gewisse Einschränkungen aufweist und auf einigen Annahmen aufbaut, streitet jedoch ab, dass ihre Ergebnisse schwach oder die Schlüsse zu eindeutig sind.

»GWAS sagen viel weniger aus, als manche Leute glauben«Agustín Fuentes, Anthropologe

Hierin sind sich Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen im Allgemeinen einig: Zwillingsstudien und andere Arbeiten legen nahe, dass die sexuelle Orientierung in einem gewissen Maß genetisch bedingt ist. Der Grad der Vererbbarkeit, die in solchen Untersuchungen festgestellt wurde, variiert. In fast allen liegt er unter 50 Prozent. Mindestens die Hälfte der Einflüsse sind demnach außerhalb des Erbguts zu suchen. Soziale, kulturelle und umweltbedingte Faktoren könnten eine wichtige Rolle spielen. Fortschritte bei DNA-Sequenzierungstechniken und GWAS führten zu einer neuen Welle an Studien zu den genetischen Grundlagen von gleichgeschlechtlichem Verhalten. Die bekannteste davon ist eine von Wedow mitverfasste Arbeit aus dem Jahr 2019, die ergab, dass die Zusammenhänge kompliziert sind – eine Vielzahl von Genen trägt ihr zufolge zu etwa 8 bis 25 Prozent zur sexuellen Orientierung bei.

GWAS zeigen nur Assoziationen

Einige Feinheiten bei der Interpretation dieser und nachfolgender Veröffentlichungen werden allerdings oft übersehen. Zum einen können GWAS – wie der Name schon sagt – nur Assoziationen aufzeigen. Sie liefern keine Information über die Faktoren, die zu ihnen führen, betonen Reilly und andere. »GWAS sagen viel weniger aus, als manche Leute glauben«, davon ist der Anthropologe Agustín Fuentes von der Princeton University überzeugt. »Sie sind ein großartiges statistisches Werkzeug, um Muster und Trends in großen, komplexen Datensätzen zu finden. Aber sie verraten nichts über deren Ursache und Wirkung.«

Song und Zhang schreiben in ihrer Veröffentlichung nicht ausdrücklich von einem genetischen Zusammenhang zwischen den untersuchten Faktoren. »Wir haben in der Studie nie behauptet, dass eine hohe Risikobereitschaft bisexuelles Verhalten verursacht oder umgekehrt. Wir haben lediglich gesagt, dass sich die genetischen Grundlagen der Risikobereitschaft und der Bisexualität überschneiden«, erklärt Zhang. Die Schlüsse, die die Arbeit aus den Ergebnissen der GWAS zog, implizierte jedoch eine mögliche Kausalität, sagt Fuentes. Er hält dies für eine Übertreibung, denn die ursprünglichen Korrelationen waren seiner Meinung nach von Anfang an eher schwach.

»Bisexualität« ist eine komplexe Kategorie

Ein weiteres Problem ergibt sich daraus, wie Genetiker und Genetikerinnen Verhaltenskategorien festlegen. Sexualität lässt sich bloß schwer messen und quantifizieren. Deshalb verlassen sich viele Studien auf Ersatzwerte. Die meisten davon erfüllen ihre Aufgabe jedoch nur schlecht, was laut Robbee Wedow sowohl Zhangs Untersuchung als auch die Arbeit von seinem Team von 2019 in Frage stellt. Erstere definierte bisexuelles Verhalten als praktizierten Sex mit Personen des gleichen und des anderen Geschlechts, von dem Probanden in der Umfrage berichteten. Diese Art der Kategorisierung schließt mitunter die Lebenserfahrungen vieler Menschen aus, meint Fuentes. »Bisexualität ist eine unglaublich komplizierte Kategorie. Die psychologischen und verhaltensbezogenen Aspekte, die damit verbunden sind, bedeuten nicht notwendigerweise, dass eine Person Sex mit jemandem mit einem Penis und jemandem mit einer Vagina hatte«, stellt er fest.

Darüber hinaus könnten die Angst vor Stigmatisierung und andere Umstände viele Menschen davon abhalten, gleichgeschlechtliches Verhalten zu praktizieren oder es Forschern zu melden, erläutert Reilly. Möglicherweise kommt das vor allem bei der älteren Kohorte in der UK Biobank zum Tragen. Sexuelle Handlungen zwischen Männern waren etwa in Schottland und Nordirland bis Anfang der 1980er Jahre eine Straftat. Menschen, die sich als homosexuell bezeichnen würden oder sich ausschließlich zu Personen des gleichen Geschlechts hingezogen fühlen, sind darüber hinaus eventuell soziokulturellem Druck ausgesetzt, sich auf gegengeschlechtliche Beziehungen einzulassen – obwohl sie nicht bisexuell sind.

»Wir haben in der Studie nie behauptet, dass eine hohe Risikobereitschaft bisexuelles Verhalten verursacht oder umgekehrt«Jianzhi Zhang, Evolutionsbiologe

Selbstauskünfte sind laut Fuentes noch aus weiteren Gründen mit großen Schwächen behaftet. So weisen qualitative Studien darauf hin, dass Befragte oft schummeln, wenn sie bei Umfragen antworten. Und selbst wenn eine Person meint, die Wahrheit zu sagen, gibt es abweichende Vorstellungen von sexueller Aktivität, fügt er hinzu. Was für den einen klar darunterfällt, kann für den nächsten ein »Na ja, das war nicht wirklich Sex« sein. Manche beziehen Erfahrungen aus der Kindheit oder Jugend in ihr Selbstverständnis von Sexualität mit ein, während andere sie womöglich ausschließen, so Fuentes. Die Definition von Risikobereitschaft ist ebenfalls sehr subjektiv. Und wenn es um die Anzahl der Kinder geht, wissen einige Männer eventuell gar nicht, wie viele sie tatsächlich gezeugt haben.

Außerdem sind den genetischen Zusammenhängen, die Assoziationsstudien aufzeigen, Grenzen gesetzt. Bei GWAS bedingt jedes Stückchen DNA, das mit einem Merkmal korreliert, allenfalls einen sehr kleinen Teil dieser Eigenschaft – in der Größenordnung von maximal ein paar Prozent, sagt Reilly.

Viele Faktoren tragen zur Sexualität bei

All diese geringen genetischen Einflüsse summieren sich zu einem Gesamteffekt, der immer noch schwach ist. GWAS berücksichtigen zudem keine nicht erblichen Faktoren, die eine entscheidende Rolle bei der menschlichen Sexualität spielen. Die 2019 von Wedows Forschungsgruppe veröffentlichte Studie identifizierte das Geburtsjahr als Variable dafür, ob jemand gleichgeschlechtliches Verhalten angab oder nicht. Teilnehmende der UK Biobank, die 1970 geboren wurden, berichteten etwa dreimal so häufig davon wie diejenigen, die 1940 auf die Welt kamen. »Ich würde dahinter keinen biologischen oder genetischen Grund vermuten«, erläutert Reilly. »Vielmehr zeigt es, dass hier eine Menge starker gesellschaftlicher Faktoren im Spiel sind.«

Kritiker und Kritikerinnen solcher Studien betonen immer wieder, wie leicht diese missbraucht werden können. Viele GWAS zielen darauf ab, den Einfluss auf komplexe Merkmale wie akademische Leistungen und den IQ zu bewerten. Gelegentlich haben böswillige Akteure bereits versucht, die Forschung vorsätzlich zu verdrehen, um rassistische Ideologien zu unterstützen. Es sei nicht allzu weit hergeholt, dass auch Studien über die sexuelle Orientierung als Zündstoff für Pseudowissenschaft eingesetzt werden könnten, betont Reilly. Nachdem das Team um Wedow seine Arbeit veröffentlicht hatte, kam trotz redlicher Kommunikationsbemühungen der Autorinnen und Autoren eine App auf den Markt, die behauptete, sie könne Personen anhand ihrer genetischen Daten sagen, wie schwul sie seien. Dank des Einsatzes der Fachleute und anderer wurde sie wieder vom Markt genommen. Reilly fürchtet jedoch, dass die falsche Vorstellung eines Gentests für die Sexualität weiterleben könnte.

Andere Probleme sind vielleicht weniger offensichtlich, vor allem wenn kulturelle Annahmen ins Spiel kommen. Wer glaubt, bisexuelle Menschen seien risikofreudiger, könnte das auch so deuten, dass sie deshalb promiskuitiver sind – ein gängiges und schädliches Vorurteil, sagt Joanna Wuest. Zumindest in einem Fall in der Vergangenheit, fügt sie hinzu, hätte dieser Glaube schwer wiegende Folgen gehabt: In den Anfangsjahren der Aids-Epidemie wurden bisexuelle Menschen als Virusüberträger zum Sündenbock gemacht.

In einer perfekten Welt wäre kein Schaden zu befürchten, wenn man genetische Grundlagen von Merkmalen wie Sexualität untersucht, erläutert Steven Reilly. »Solche Informationen zu sammeln, ist großartig. Es ist interessant. Es hilft einigen Menschen dabei, sich selbst besser zu verstehen.« Nur sei die Realität eben nicht perfekt.

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  • Quellen

Ganna, A. et al.: Large-scale GWAS reveals insights into the genetic architecture of same-sex sexual behavior. Science 365, 2019

Song, S. und Zhang, J.: Genetic variants underlying human bisexual behavior are reproductively advantageous. Science Advances 10, 2024

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