Bisexualität: Liebe ohne Geschlechtergrenzen

Schauspielerin Michelle Rodriguez, bekannt aus der Filmreihe »The Fast and the Furious«, hatte noch 2011 verkündet: »Ich bin keine Lesbe.« 2013 sagte sie: »Ich bin viel zu neugierig, um nicht alles auszuprobieren. Männer sind interessant. Frauen auch.« Und Stella Stegmann, die erste bisexuelle »Bachelorette« Deutschlands, erzählte: »Ich war immer der Ansicht, dass ich mir eine Beziehung nur mit einem Mann vorstellen kann, und war dann selbst ein wenig überrascht, als ich mich zum ersten Mal in eine Frau verliebt und eine Beziehung mit ihr geführt habe.«
Rodriguez, Stegmann, auch Angelina Jolie, Miley Cyrus, Ricarda Lang: Sie zählen zu den vielen Prominenten, die sich als bisexuell geoutet haben, sich also zu Männern wie Frauen hingezogen fühlen. Sie stehen zwar für einen neuen Trend – doch Bisexualität ist kein neues Phänomen. Schon dem römischen Kaiser Caligula (12–41 n. Chr.) wurde nachgesagt, er habe Beziehungen mit Männern und Frauen gehabt. Studien zeigen allerdings eine Entwicklung: In vielen Ländern steigt der Anteil derer, die sich auf der Skala der sexuellen Orientierung als »bi« verorten. In Deutschland sind es je nach Umfrage und Definition drei, vier oder fünf Prozent. Und dazu zählen auch Menschen, die sich zuvor noch als hetero- oder homosexuell bezeichnet haben.
Bisexualität ist ein Spektrum und kann sich auf unterschiedlichen Ebenen abspielen: emotional, körperlich, sexuell. Für manche Menschen sind beide Geschlechter gleich attraktiv, für manche das eine stärker als das andere. Bei den einen ist das lebenslang der Fall, bei den anderen nur in bestimmten Lebensphasen.
Für die Forschung wirft das einige Fragen auf. Kann sich die sexuelle Orientierung im Verlauf des Lebens tatsächlich ändern, und wenn ja, warum? Sind heute mehr Menschen als noch vor wenigen Jahrzehnten bisexuell, oder outen sie sich nur bereitwilliger in Befragungen, weil die gesellschaftliche Akzeptanz gewachsen ist?
Die Studie »Sexual Orientation Identity Mobility in the United Kingdom« hat anhand von Daten der UK Household Longitudinal Study untersucht, wie sich die sexuelle Orientierung der Menschen im Vereinigten Königreich in den Zeiträumen von 2011 bis 2013 und von 2017 bis 2019 verändert hat. Demnach wechselten in dieser Zeit knapp sieben Prozent der Befragten ihre sexuelle Identität, darunter mehr Frauen als Männer, mehr nicht weiße als weiße, mehr jüngere und ältere als jene in der Lebensmitte.
Unter den zunächst bisexuellen Personen gab es mit 57 Prozent die meisten Veränderungen, drei Viertel von ihnen wechselten zu einer heterosexuellen Identität. In umgekehrte Richtung waren es nur drei Prozent. Wohlgemerkt: Das sind relative Zahlen. In absoluten Zahlen orientierten sich mehr Menschen zu zwei Geschlechtern als zuvor. Zusammen mit der Orientierung veränderte sich häufig auch der Partnerschaftsstatus von gleich- zu gegengeschlechtlich (oder umgekehrt).
»In inklusiveren Gesellschaften gibt es mehr Menschen, die sich outen und frei fühlen, sie selbst zu sein«Soziologe Sam Lawton-Westerland, University of Glasgow
Ähnlich fielen die Ergebnisse einer Studie in Schweden aus. Die Forschenden hatten für 35 000 Menschen aus der Region Stockholm ausgewertet, wie sich deren sexuelle Identität zwischen 2010 und 2021 verändert hat. Der Anteil der bisexuellen Personen verdoppelte sich in dieser Zeit nahezu von 1,6 auf 3,1 Prozent, bei den unter 30-Jährigen stieg er auf rund fünf Prozent, in der Generation Z (geboren zwischen 1997 und 2012) sogar auf knapp zehn Prozent. Jede zweite Person, die sich 2021 als bisexuell identifizierte, hatte sich 2010 noch als heterosexuell beschrieben. 16 Prozent der Teilnehmenden wechselten ihre Identität im Verlauf dieser zwölf Jahre mindestens einmal, die meisten allerdings von bi- oder homosexuell zu heterosexuell.
»Diese Befunde fordern die verbreitete Überzeugung heraus, dass die sexuelle Orientierung biologisch festgelegt ist und sich im Lebensverlauf nicht ändert«, resümiert Erstautor Willi Zhang, Gesundheitsforscher am Karolinska-Institut in Stockholm. Die Gründe für die »Fluidität« seien jedoch komplex und vielschichtig. »Während einige Veränderungen tatsächliche Verschiebungen in der Anziehung oder Identität widerspiegeln, könnten andere durch soziale und kulturelle Faktoren beeinflusst sein«, erläutert Zhang. So könne eine offenere Gesellschaft mehr Sicherheit geben, die eigene wahre Identität zu erkunden und auszuleben.
Zhang hat damit eigene Erfahrungen gemacht: Bis zum 17. Lebensjahr sei er überzeugt gewesen, heterosexuell zu sein, berichtet er. Dann habe er auf dem College eine enge Freundschaft und romantische Zuneigung zu einem anderen Studenten entwickelt. »Es dauerte zwei weitere Jahre der Selbsterkundung, bis ich meine neue Identität als schwul verstanden und akzeptiert hatte«, erinnert sich der Forscher.
Die erste Skala für das bisexuelle Spektrum
Was die Wissenschaft unter sexueller Orientierung versteht, hat sich im Lauf der Zeit verändert. Die in den 1940er Jahren entstandene Kinsey-Skala war die erste, die mit den traditionellen Vorstellungen von Sexualität brach und Abstufungen definierte: »ausschließlich heterosexuell«, »überwiegend heterosexuell und gelegentlich homosexuell« und »überwiegend heterosexuell und mehr als gelegentlich homosexuell« und ebenso umgekehrt für ausschließlich sowie für mehr oder weniger homosexuelle Personen. Außerdem eine Option: gleichermaßen hetero- und homosexuell – sowie keine sexuellen Neigungen (asexuell).
Diese Kategorien sind manchen Menschen zu eng. Sie identifizieren sich präziser als pansexuell, omnisexuell (siehe »Kurz erklärt«) oder auch heteroflexibel – offen für Erfahrungen mit dem gleichen Geschlecht. Andere Ansätze wie das Klein Sexual Orientation Grid von 1978 unterscheiden zwischen sexueller Anziehung und sexuellen Kontakten, emotionalen und sozialen Präferenzen, Selbstwahrnehmung und Identität. Die Sexualforscherin Sari Van Anders von der Queen's University in Kanada differenziert in ihrer Sexual Configurations Theory unter anderem nach der Art der Beziehung: romantisch, sexuell, platonisch.
Kurz erklärt: Bi, pan, omni
Menschen, die sich als bisexuell identifizieren, können sich sexuell und romantisch zu Frauen und zu Männern hingezogen fühlen. Manche zählen dazu auch Transfrauen und -männer, aber das muss nicht so sein. Wer sich dagegen als omnisexuell oder pansexuell bezeichnet, bezieht ausdrücklich alle Geschlechtsidentitäten (cis und trans) ein, auch solche, die sich keiner Geschlechterkategorie zuordnen möchten (intersexuell oder nonbinär). Pansexuelle sagen außerdem oft, dass sie gar keine Präferenzen haben – geradezu »blind« sind, was das Geschlecht angeht. Eine bisexuelle oder omnisexuelle Person kann dagegen eine stärkere Neigung zum einen oder anderen Geschlecht, zur einen oder anderen Identität haben. Alle drei (bi, pan, omni) zählen zum queeren Spektrum, genauer: den Pluri- oder Multisexuellen, manchmal auch Bi+ genannt – und die Grenzen zwischen ihnen sind fließend. Ihr gemeinsamer Nenner: Sie sind nicht monosexuell, fühlen sich also zu mehr als einem Geschlecht hingezogen.
Dass die sexuelle Orientierung weder eine binäre noch eine unveränderliche Eigenschaft ist, gilt heute als gesichert. Schwieriger zu belegen ist jedoch, was dazu führt, dass der Anteil der Menschen wächst, die sich als bisexuell verstehen. »In inklusiveren Gesellschaften gibt es mehr Menschen, die sich outen und frei fühlen, sie selbst zu sein«, sagt Sam Lawton-Westerland, Soziologe an der University of Glasgow. Jüngere Menschen seien in einer Zeit aufgewachsen, in der sexuelle Orientierung weniger politisiert wurde. Das Internet bot Unmengen von Informationen über die unterschiedlichsten Formen von Sexualität. Der Aufklärungsunterricht wurde besser, das gesellschaftliche Klima offener.
Die Abschaffung des Paragrafen 175 des Strafgesetzbuches im Jahr 1994, der sexuelle Handlungen zwischen Männern unter Strafe gestellt hatte, und die »Ehe für alle« im Jahr 2017: Sie hätten wesentlich dazu beigetragen, nicht heterosexuelle Orientierungen gesellschaftlich zu normalisieren, sagt Juliane Scholz vom Sonderforschungsbereich Sexdiversity der Universität Lübeck. Dadurch könnten sich heute mehr Menschen als früher bei Befragungen zu ihrer Bisexualität bekennen. Die Forscherin kann sich sogar vorstellen, dass auch heute noch die wahren Anteile höher liegen, als Studien offenbaren. »Vielleicht geben ältere Menschen keine ehrliche Auskunft, weil sie von Strafverfolgung und Kriminalisierung betroffen waren und traumatisiert sind«, vermutet sie. Außerdem seien im Zuge der Aidskrise in den 1980er und 1990er Jahren viele Menschen verstorben, darunter insbesondere homo-, bi- und transsexuelle Männer, die in den entsprechenden Geburtenkohorten nun fehlen. Nicht zuletzt verorten sich Menschen, die sich als bisexuell oder heteroflexibel verstehen, in Befragungen eher in der Kategorie heterosexuell, wenn es keine passendere Option gibt.
»Heute gibt es mehr Begriffe für Sexualität als je zuvor, was es ermöglicht, die eigene Sexualität auf vielfältigere Weise zu verstehen und zu benennen«Sexualpsychologe Justin Lehmiller, Kinsey Institute an der Indiana University
Auch der US-Sexualpsychologe Justin Lehmiller vom Kinsey Institute an der Indiana University sieht in Studien weltweit wachsende Anteile von Menschen, die sich LGBTQ+ zugehörig fühlen. Neben der gesellschaftlichen Akzeptanz kann er sich noch einen weiteren Einfluss vorstellen: »Heute gibt es mehr Begriffe für Sexualität als je zuvor, was es den Menschen ermöglicht, ihre eigene Sexualität auf vielfältigere Weise zu verstehen, zu benennen und mit anderen darüber zu kommunizieren.« Zumindest ein Teil der beobachteten sexuellen Fluidität beruhe weniger auf einer tatsächlichen Veränderung der zu Grunde liegenden sexuellen Orientierung als vielmehr auf einer neuen Art, diese Orientierung zu verstehen und auszudrücken.
Eine US-Studie aus dem Jahr 2024 beschreibt zudem soziale Medien wie Tumblr oder Tiktok als Katalysatoren. Die Plattformen schaffen nach Einschätzung der Autoren sichere Räume und Gemeinschaften, in denen Menschen ihre Identität frei erforschen können. Außerdem verbreiten sich so jene neuen Begriffe, Konzepte und Narrative, die auch Lehmiller als hilfreich eingeordnet hat. Die US-amerikanische Countrysängerin Maren Morris etwa verkündete fünf Jahre nach der Scheidung von ihrem Ehemann über Instagram: »happy to be the B in LGBTQ+.«
Motive für den Wechsel weg von Heterosexualität
Lehmiller veröffentlichte 2024 den »State of Dating Report« in Zusammenarbeit mit der internationalen Dating-App Feeld. Demnach hatten 15 Prozent der mehr als 3000 befragten Nutzerinnen und Nutzer zwischen 18 und 77 Jahren ihre sexuelle Orientierung seit Beginn der App-Nutzung verändert. Bei der Generation Z und den Millennials liegt der Anteil sogar noch ein paar Prozentpunkte höher. Die meisten Änderungen gingen weg von einer heterosexuellen Identität. Die häufigste neue Identität war »heteroflexibel«. Als Gründe für ihren Wechsel nannten die Befragten »tiefere Selbsterkenntnis« (93 Prozent), »Wunsch nach Erforschung der eigenen Sexualität« (85 Prozent), »Entdeckung neuer sexueller Anziehungen« (82 Prozent) und »frühere Identität als einschränkend empfunden« (69 Prozent).
Wissenschaftlich ausgeschlossen ist inzwischen hingegen, dass sich die sexuelle Orientierung durch Interventionen ändern lässt. Dennoch haben laut einer kanadischen Studie von 2022 mehr als ein Viertel der Befragten aus der LGBTQ+-Community bereits solche Versuche erlebt. Überproportional häufig traf es bisexuelle, pansexuelle und asexuelle Personen. Ein Teil gab an, dem sozialen Druck aus der Familie nachgegeben und danach eine Veränderung vorgetäuscht zu haben.
Nicht nur deshalb ist es fraglich, ob der Trend zu mehr Menschen mit vielfältigen sexuellen Orientierungen Bestand haben wird. In manchen jüngeren Befragungen nimmt die Zahl der Personen, die nicht heterosexuelle Lebensweisen ablehnen, wieder zu. Fast jedes zweite Mitglied der LGBTQ+-Gemeinschaft in Deutschland berichtet, schon einmal wegen der eigenen sexuellen Orientierung diskriminiert oder belästigt worden zu sein.
Dahinter könnte so manche falsche Vorstellung über deren Lebensweise stecken, etwa dass sich bisexuelle Menschen mit Monogamie schwertun. Die LGBTQ Community Survey 2023 ergab, dass in den USA lediglich ein bis zwei Prozent der bisexuellen Menschen polyamor leben. Über die Hälfte hat eine feste Partnerschaft oder ist verheiratet.
2023 wurden in Deutschland laut Statistik der Kriminalpolizei rund 1500 Delikte gegen die sexuelle Orientierung gemeldet – knapp zwei Drittel davon mit unklarem Motiv. Fast ein Drittel der Übergriffe waren »rechts motiviert«. Die übrigen, darunter religiös motivierte, machen nur wenige Prozent aus. Der britische Soziologe Lawton-Westerland sagt, die AfD nutze Plattformen wie Tiktok, indem sie Diskurse über eine angeblich verlorene Männlichkeit einsetzt, um insbesondere junge Männer für sich zu gewinnen. Im Vereinigten Königreich habe es Bestrebungen der vorherigen konservativen Regierung gegeben, den Sexual- und Beziehungsunterricht weniger inklusiv zu gestalten. Das bereite ihm Sorge: »Ich möchte nicht, dass der Beginn des 21. Jahrhunderts von zukünftigen Historikern als eine Anomalie in Bezug auf Toleranz betrachtet wird.« Der schwedische Forscher Zhang empfiehlt, schon in der Schule zu lehren, dass sich die sexuelle Orientierung verändern kann. Gesetze sollten nicht nur verschiedene sexuelle Identitäten schützen, sondern auch das Recht, sie zu wechseln.
Prominente wie Angelina Jolie, die sich schon früh zu ihrer Bisexualität bekannten, tragen dazu bei. Die Schauspielerin sagt über ihren eigenen Wandel: »Ich wollte die Leute wissen lassen, dass ich mit einer Frau zusammen war. Ich habe darüber gesprochen, weil ich etwas Wunderbares entdeckt hatte und fand, dass die Leute wissen sollten, dass meine Erfahrung sehr real und ganz normal war.«
Bi- und Pansexuelle: Mehr Stress, weniger Wohlbefinden
Bisexuelle Menschen leiden überproportional häufig unter Stress und psychischen Problemen, wie zwei große Studien zeigen. In einer Provinz in Südschweden beantworteten mehr als 28 000 zufällig ausgewählte Erwachsene Fragen zum psychischen Wohlbefinden, zum Beispiel zu Selbstvertrauen, Schlaf- und Konzentrationsproblemen. Insgesamt ging es rund jedem Fünften psychisch nicht gut. Verglichen mit den Durchschnittswerten war das Risiko bei bisexuellen Männern um rund zwei Drittel erhöht, bei bisexuellen Frauen ungefähr verdoppelt. Eine US-Studie belegte 2025 auch Anzeichen für vermehrten Stress. Rund 30 000 Erwachsene trugen dafür drei Wochen lang Sensoren, die physiologische Daten erfassten. Bi- und pansexuelle Teilnehmende berichteten nicht nur über mehr Stress im Alltag als heterosexuelle. Sie hatten, ebenso wie homosexuelle Befragte, auch einen erhöhten Puls. Diskriminierende Erfahrungen könnten die Ursache sein; die genannten Studien erlaubten darauf allerdings keinen Rückschluss.
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