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Anthropologie: Bissiges Kontra

Neandertaler hatten's ziemlich eilig, schlossen im vergangenen Jahr zwei Anthropologen aus fossilen Zahnüberresten: Das schnelle Wachstum der Beißerchen deute auf eine kurze Kindheit von Homo neanderthalensis hin. - "Alles Blödsinn!", kontern jetzt Kollegen.
Perikymatien
Eigentlich waren sie ziemlich erfolgreich. Vor etwa 150 000 Jahren tauchten sie erstmals auf und breiteten sich über ganz Europa bis zum Nahen Osten aus. Doch dann verschwanden sie plötzlich. Niemand weiß, warum es seit 30 000 Jahren keine Neandertaler mehr gibt.

Und niemand weiß, wie denn die Begegnung der beiden verwandten Spezies Homo neanderthalensis und Homo sapiens endete – wenn sie sich überhaupt jemals begegneten. Sicher ist nur, dass sie zur gleichen Zeit existierten. Dass es sich um zwei verschiedene Arten handelt, davon sind inzwischen die meisten Anthropologen überzeugt. Insbesondere genetische Differenzen untermauern den Anspruch unseres Vetters aus dem Neandertal auf einen Artstatus.

Perikymatien | Die Wachstumsgeschwindigkeit von Zähnen lässt anhand von Wachstumsrillen – so genannte Perikymatien – ablesen. Die Perikymatien bei Neandertaler-Zähnen unterscheiden sich jedoch nicht signifikant von denen anatomisch moderner Menschen. Das Wachstum verlief demnach bei beiden Arten etwa gleich schnell.
Ein weiteres Argument mit Biss für die Unterschiede zwischen Neandertalern und heutigen anatomisch modernen Menschen präsentierten Fernando Ramirez Rozzi und José Bermúdez de Castro im April 2004: Das französisch-spanische Forscherduo hatte sich das Wachstum von Neandertaler-Zähnen angeschaut und sich hierbei eine praktische Eigenschaft unserer Beißer zu Nutze gemacht. Denn diese sprießen nicht gleichmäßig, sondern hinterlassen im Zahnschmelz etwa alle sechs bis zwölf Tage winzige Wachstumsrillen, die der Zahnarzt als Perikymatien kennt. Wie bei den Jahresringen eines Baumes lässt sich anhand der Perikymatien ablesen, wie schnell der Zahn im Gebiss eines Kindes heranwuchs.

Und die unteren Perikymatien, so deuteten Ramirez Rozzi und Bermúdez de Castro, verlaufen bei Neandertalern weniger dicht als beim anatomisch modernen Menschen. Schlussfolgerung: Die Zähne wuchsen schneller; ein Neandertalerkind war viel früher erwachsen als die Jugend von heute. Eine lange Jugend gilt jedoch wiederum als besonders menschliche Eigenschaft unserer Spezies – ermöglicht sie doch erst die ausgeprägte Hirnreifung.

Klingt gut, meinen jetzt Kollegen aus den USA und aus Großbritannien, ist nur leider falsch. Denn die Forscher um Debra Guatelli-Steinberg von der Ohio State University haben der Sache noch einmal energisch auf den Zahn gefühlt: 55 Zähne von 30 Neandertalern verglichen sie mit den Kauwerkzeugen anatomisch moderner Menschen. 65 Zähne stammten von 17 Inuit, die in der Zeit von 500 v. Chr. bis heute in Alaska gelebt hatten; 114 Südafrikaner unterschiedlicher Volksgruppen hatten insgesamt 134 Zähne gespendet; und schließlich standen den Forschern noch 115 Zähne aus dem englischen Städtchen Newcastle zur Verfügung.

Und welche Unterschiede offenbarte die Dentalstudie? Keine. Zwar schienen die Neandertaler-Zähne ein wenig schneller zu sprießen als die der Inuit, doch zu den Bewohnern von Newcastle zeigten sich gar keine Differenzen. Und im Vergleich zu südafrikanischem Zahnwachstum hatten sich die Neandertaler sogar etwas mehr Zeit gegönnt.

Auch bei einzelnen Zahntypen mittelten sich die Unterschiede heraus: Die unteren Schneidezähne der Neandertaler wuchsen etwas langsamer als die südafrikanischen Pendants, bei den oberen Schneidezähnen sowie den Eckzähnen war wieder alles gleich.

Und das lässt wiederum auf doch größere Gemeinsamkeiten zwischen Homo neanderthalensis und Homo sapiens schließen. Die Kinder aus dem Neandertal schienen es zumindest ebenfalls nicht besonders eilig zu haben mit dem Erwachsenwerden.

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