Schwermetall in der Nahrungskette: Wie Bleimunition Europas Greifvögel vergiftet

Für Vogelfreunde war es eine Sensation als Anfang März im Unterallgäu ein Gänsegeier seine Kreise über dem Voralpenland zog. Viele machten sich auf den Weg, um das aus Frankreich oder Italien eingeflogene Tier zu bestaunen, das zu den größten flugfähigen Vögeln Europas zählt. Doch die Freude über den seltenen Gast währte nur kurz. Zwei Wochen nach seiner ersten Sichtung war der Geier tot. Eine pathologische Untersuchung ergab, dass er an einer Bleivergiftung starb. Mit Leber, Niere und Lunge waren gleich mehrere lebenswichtige Organe durch das Schwermetall zerstört. Alles deutet darauf hin, dass sich der Vogel vergiftete, als er die Überreste eines mit bleihaltiger Munition geschossenen Tieres entdeckt und gefressen hatte.
Naturschützer in Bayern sind auch deshalb über den Vorfall schockiert, weil sie derzeit nur ein paar Geierflugminuten vom Todesort entfernt mit großem Aufwand einer anderen Geierart zu einem Comeback verhelfen wollen. Im fünften Jahr läuft im Nationalpark Berchtesgaden die Wiederansiedlung des vor mehr als 100 Jahren in Deutschland ausgerotteten Bartgeiers. »Dass sich die von uns ausgewilderten Vögel an Blei vergiften, war von Anfang an unsere größte Sorge«, sagt Norbert Schäffer. Der Vorsitzende des Landesbunds für Vogelschutz (LBV) verweist auf Analysen, nach denen jeder dritte Todesfall bei Bartgeiern in den Alpen und den Pyrenäen auf eine Vergiftung mit Blei zurückgeht. Und auch für andere Vogelarten ist der sinnlose und qualvolle Bleitod alles andere als eine Ausnahme.
Nach Schätzungen der EU-Kommission laufen europaweit 135 Millionen Vögel Gefahr, sich durch das Aufpicken der winzigen, bleihaltigen Schrotkugeln zu vergiften. Etwa eine Million stirbt erwiesenermaßen derzeit jedes Jahr qualvoll auf diese Weise. Weitere 14 Millionen Vögel sind durch die indirekte Aufnahme des Schwermetalls über belastetes Aas oder mit Blei kontaminierte Beutetiere gefährdet.
Greifvögel wie Adler, Bussarde, Geier und Milane sind von dieser Form der Sekundärvergiftung besonders stark betroffen. Denn sie alle ernähren sich zu einem erheblichen Teil von Aas. Und wenn Jäger ihren Reh-, Gams-, oder Wildschweinbraten schießen, fällt häufig etwas für sie ab. Denn die Innereien der getöteten Wildtiere werden meist vor Ort entnommen und entsorgt, um das Fleisch vor Keimen zu schützen. Es dauert meist nicht lange, bis ein Greifvogel die Jagdabfälle entdeckt. Wurde ein Wildtier mit Bleimunition geschossen, wird der vermeintliche Festschmaus schnell zur Henkersmahlzeit.
Blei verringert nachweislich die Größe der Greifvogelpopulationen
Wie gravierend die Folgen der Jagd mit Bleimunition für Vögel sind, zeigt auch eine im Fachjournal »Science of the Total Environment« veröffentlichte Studie von Wissenschaftlern der University of Cambridge und des Berliner Leibniz-Instituts für Zoo- und Wildtierforschung (IZW). Der Studie zufolge sind die Populationen von Steinadler, Seeadler und Gänsegeier heute in Europa um bis zu 15 Prozent kleiner, als sie es in einer Welt ohne das Bleiproblem wären. Europaweit reißt Blei den Forschern zufolge eine Lücke von mehr als 50 000 Adlern, Bussarden und Habichten – mit Folgen für ganze Ökosysteme.
»Blei ist ein sehr wirksames Gift«, sagt Studienautor Oliver Krone. Schon in geringsten Mengen könne es Nerven und Nieren angreifen sowie zu Hirnschäden und Verhaltensstörungen führen, erklärt der Wildtoxikologe. Wie Blei auf betroffene Vögel wirkt, hat Krone schon häufig erlebt. Den Bleitod beschreibt er als »elendigen Kampf gegen das Ersticken bis zur totalen Erschöpfung und dem Tod«.
»Weil das Blei die Sauerstoffversorgung des Blutkreislaufs blockiert, reißen viele Vögel im Überlebenskampf den Schnabel verzweifelt zum Atmen auf und ersticken dennoch«, sagt Krone. Auch von der Flugfertigkeit und Eleganz der Greifvögel bleibe nichts übrig. Krone hat schon beobachtet, wie Seeadler, die durch bleibedingte Nervenschädigungen fast blind waren, einfach gegen einen Baum geflogen sind.
Dass Blei eine ernste Gefahr für die Gesundheit von Mensch, Tier und ganzen Ökosysteme darstellt, ist seit Langem bekannt. Die Weltgesundheitsorganisation listet es unter den Top Ten der gefährlichsten Stoffe; die EU hat den Einsatz des Schwermetalls weitgehend verboten. Farben, Buntstifte, Benzin und Wasserleitungen – alles muss seit Langem bleifrei sein. Einzig Jagd und Fischerei sind bis heute in weiten Teilen noch immer ausgenommen. Zwar gibt es auch hier seit einigen Jahren ein Umdenken, und immer mehr Jäger steigen aus eigenem Antrieb auf bleifreie Munition um. Der rechtliche Rahmen für die Jagd mit Blei gleicht hier zu Lande aber einem Flickenteppich. Je nach Bundesland, Besitzform, Schutzgebietskategorie und Munitionstyp gelten andere Bestimmungen. Die Verwendung bleihaltiger Kugeln in Jagdgewehren, die so genannte Büchsenmunition, ist bislang erst in vier Bundesländern vollständig verboten. Flächendeckende Verbote jeglicher Bleimunition gibt es in der EU bisher nur in Dänemark und den Niederlanden.
EU-weite Verbotsregelung liegt auf dem Tisch
Das will die EU-Kommission nun ändern. Vor wenigen Wochen hat das Gremium unter Leitung von Ursula von der Leyen nach jahrelangen Vorarbeiten einen Entwurf für eine Verbotsregelung vorgelegt, der noch in den Mitgliedstaaten beraten und vom Europaparlament gebilligt werden muss. Der Plan sieht ein Vermarktungsverbot bleihaltiger Jagdmunition und Fischereiutensilien wie Senkbleie vor. Ohne ein Verbot werde die Umwelt in den nächsten 20 Jahren mit zusätzlichen fast 900 000 Tonnen Blei belastet, heißt es von der Kommission.
Allerdings will sie lange Übergangsfristen einräumen – je nach Munitionsart zwischen 18 Monaten und zehn Jahren.
Neben dem Tierwohl und dem Artenschutz argumentieren die EU-Fachleute auch mit der menschlichen Gesundheit. So gefährde Blei fast 20 Millionen Menschen direkt. Nicht zuletzt würde ein Bleiverbot Jägern und deren Familien zugutekommen, denn vor allem für Kinder und schwangere Frauen, die häufig Wildfleisch verzehren, das mit bleihaltiger Munition gejagt wurde, sei das Risiko für Vergiftungserscheinungen besonders groß.
Auf Basis von Studien errechneten die Experten des wissenschaftlichen Beirats der Europäischen Chemikalienbehörde ECHA, dass mehr als eine Million Kinder davon betroffen sind.
Das Blei nehmen die Betroffenen nicht nur über Wildfleisch auf, sondern auch durch Kontakt mit belasteten Gegenständen oder indem sie es einatmen. US-Wissenschaftler fanden in einer Untersuchung heraus, dass Kinder aus Haushalten mit Schusswaffen eine um ein Vielfaches erhöhte Bleibelastung im Blut aufwiesen als ihre Altersgenossen, in deren Elternhaus sich keine Waffen fanden. Die Forscher vermuten, dass das Schwermetall über Anhaftungen an Gewehren und Pistolen oder der Kleidung in die Haushalte gebracht wurde. Auch Sportangler seien durch den Umgang mit Utensilien wie bleihaltigen Angelgewichten und Ködern gefährdet, warnen die EU-Experten.
Teilweises Verbot bereits eingeführt
Einen ersten Schritt zu weniger Blei hatte die Staatengemeinschaft mit dem seit 2023 geltenden Verbot von Bleischrot bei der Jagd in Feuchtgebieten getan. Schrot wird vor allem für die Jagd auf Enten, Gänse und kleinere Säugetiere verwendet. Dem Verbot ging ein jahrelanger Kampf mit denselben Argumenten voraus, die Verbotsgegner auch dieses Mal vorbringen – und die nach Überzeugung der EU-Kommission und einer Mehrheit der Regierungen der Mitgliedsstaaten längst wissenschaftlich widerlegt sind. Eines davon lautet, dass bleifreie Munition eine schlechtere Wirkung habe und die damit erlegten Tiere deshalb länger leiden müssten. »Dieses Argument taugt seit vielen Jahren nicht mehr«, sagt Wissenschaftler Krone, selbst ein Jäger. »Die Munitionsindustrie hat seit Jahren exzellente bleifreie Munition auf dem Markt, die die bleihaltige heute in vielen Bereichen deutlich übertrifft.«
Dass die »bleifreie Jagd« klappt, zeigen die Erfahrungen aus Dänemark, wo bleihaltige Munition seit Längerem verboten ist. Untersuchungen zufolge sind dort auch die Bleiwerte in Wildtieren deutlich gesunken.
Bleifreie Munition ist allerdings oft teurer als Bleimunition. Ihr Einsatz verlangt nach Anpassungen an der Waffe und eine Eingewöhnungsphase. Manch einer wird sein altes Gewehr auch gar nicht mehr nutzen können. Besonders kritisch beurteilen Vertreter von Jagd- und Schützenverbänden die notwendigen Umrüstungsmaßnahmen an den Schießständen: Weil bleifreie Munition härter ist, müssen neue Sicherheitsmechanismen eingebaut werden, mit denen zum Beispiel verhindert wird, dass die Geschosse unkontrolliert abprallen. Vereine sehen sich von Kosten und Aufwand überfordert und verlangen eine »weitreichende finanzielle Unterstützung« bei Umrüstungsmaßnahmen sowie eine Verlängerung der Übergangsfristen.
Insbesondere aus den Reihen des konservativen bis rechtsextremen Parteienspektrums wird auch mit der Verteidigungsfähigkeit Europas Stimmung gegen das Bleiverbot gemacht. Es könne Auswirkungen auf die Munitionsversorgung für Armeen haben, heißt es. Tatsächlich läuft dieses Argument aber ins Leere, denn militärische Munition ist komplett von den Verboten ausgenommen.
»Unzählige Ausnahmen«
Auch Befürworter eines Bleiverbots sehen Schwächen im Kommissionsentwurf. Sie kritisieren zu viele Zugeständnisse an die Interessenverbände von Jagd und Fischerei. »Der Vorschlag ist eine Meisterleistung im Versuch, alle Mitgliedstaaten über unzählige Ausnahmen und außergewöhnlich lange Übergangsfristen zu ungiftigen Alternativen zufrieden zu stellen«, sagt Ruth Cromie vom britischen Wildfowl and Wetlands Trust (WWT). Cromie hat kein Verständnis für die neuerlichen Versuche, das Verbot »entgegen überwältigenden wissenschaftlichen Beweisen für seinen Nutzen mit unhaltbaren Scheinargumenten« hinauszuzögern oder gar zu Fall zu bringen.
»Ein Skandal, wenn es interessierten Gruppen aus purem Eigeninteresse gelingen würde, die riesigen Vorteile des Verbots für die Allgemeinheit erneut zu verzögern«Ruth Cromie, Wildfowl and Wetlands Trust
»Es wäre ein Skandal, wenn es interessierten Gruppen aus purem Eigeninteresse gelingen würde, die riesigen Vorteile des Verbots für die Allgemeinheit erneut zu verzögern«, sagt sie. »Künftige Generationen werden sich fragen, warum wir so lange gebraucht haben.«
Tatsächlich waren andere Regionen der Welt im Kampf gegen Blei in der Jagd deutlich schneller. In den USA verbot Präsident George W. Bush schon 1991 Blei bei der Wasservogeljagd, und in Kalifornien erließ Arnold Schwarzenegger als Gouverneur 2007 ein Gesetz, mit dem Bleimunition im Siedlungsgebiet des vom Aussterben bedrohten Kalifornischen Kondors verboten wurde.
In Bayern hoffen die Naturschützer unterdessen, dass der Fall des vergifteten Gänsegeiers noch vor einem EU-weiten Beschluss Konsequenzen hat. Als das Bartgeier-Programm vor fünf Jahren begann, unterstützte die Landesregierung das Projekt mit einem Verbot von Bleimunition in seinen Staatsforsten. Dies müsse nun auch auf die Wälder im kommunalen Besitz ausgeweitet werden, fordert Schäffer. »Blei ist die größte Gefahr für das Comeback der Bartgeier«, sagt der Vogelschützer. »Aber es ist auch das Problem, das wir am leichtesten aus der Welt schaffen könnten, wenn der politische Wille da ist.«
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