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Riddoch-Syndrom: Blinde Patientin sieht noch Bewegungen

Im Fachmagazin »Neuropsychologia« haben Forscher den Fall einer ungewöhnlichen Patientin beschrieben: Milena Canning hat ihr Augenlicht verloren, erkennt aber Bewegungen.
Marathonläufer in Bewegung

Milena Canning kann den Dampf aus einer Kaffeetasse aufsteigen sehen, nicht jedoch die Tasse selbst. Sie sieht, wie der Pferdeschwanz ihrer Tochter von einer Seite zur anderen wippt, sonst bleibt ihre Tochter aber vor ihr verborgen. Canning ist blind, bewegte Objekte allerdings finden irgendwie einen Weg in ihre Wahrnehmung.

Im Alter von 29 Jahren zerstörte ein Schlaganfall ihren gesamten Okzipitallappen, jenen Teil des Gehirns, in dem sich das visuelle System befindet. Durch das Ereignis verlor sie ihr Augenlicht, doch eines Tages sah sie plötzlich eine Geschenktüte neben sich aufblitzen. Ihre Ärzte erzählten ihr, sie würde lediglich halluzinieren, Canning aber war davon überzeugt, dass sich in ihrem Gehirn irgendetwas abspielen musste, was ihr dennoch erlaubte zu sehen. Sie ging von Arzt zu Arzt, bis sie schließlich Gordon Dutton traf, einen Augenarzt in Glasgow, Schottland. Das mysteriöse Phänomen war Dutton schon einmal begegnet – in einer Studie des Neurologen George Riddoch aus dem Jahr 1917, die sich mit Soldaten befasste, die im Ersten Weltkrieg Hirnschäden davongetragen hatten. Um Cannings bewegungsbasiertes Sehen zu verbessern, verschrieb Dutton ihr einen Schaukelstuhl.

Die Patientin gehört zu einer Hand voll Menschen, bei denen das »Riddoch-Phänomen« oder »Riddoch-Syndrom« diagnostiziert wurde, die Fähigkeit, Bewegung wahrzunehmen, während man für andere visuelle Reize blind ist. Die Neurowissenschaftlerin Jody Culham von der University of Western Ontario in Kanada untersuchte Canning gemeinsam mit ihren Kollegen, die Ergebnisse haben sie im Fachmagazin »Neuropsychologia« veröffentlicht. Im Rahmen ihrer Arbeit bestätigten die Forscher dabei zunächst, dass Canning tatsächlich in der Lage ist, Bewegungen und deren Richtung zu erkennen. Sie konnte sehen, wie sich eine Hand auf sie zu bewegte, aber nicht, ob jemand den Daumen nach oben oder nach unten streckte. Zudem schaffte sie es, Hindernisse zu umgehen oder einen Ball zu fangen, der ihr zugeworfen wurde.

Die Nebenstraßen im Gehirn

Scans von Cannings Kopf offenbarten ein apfelgroßes Loch, wo sich eigentlich ihr visueller Kortex befinden sollte. Ihr mediotemporaler Kortex (MT), der für die Verarbeitung von Bewegungen zuständig ist, war allerdings intakt. »Cannings außergewöhnliche Wahrnehmung ist der Verdienst dieses Areals«, sagt die Neurowissenschaftlerin Beatrice de Gelder von der Universität Maastricht in den Niederlanden, die nicht an der Studie beteiligt ist.

Doch wie gelangen die Informationen von den Augen zum MT, ohne vorher den visuellen Kortex zu passieren? »Ich stelle mir den primären visuellen Pfad wie eine Autobahn vor. In Milenas Fall endet diese Autobahn in einer Sackgasse; es gibt jedoch zahlreiche Nebenstraßen, die zum MT führen«, sagt Culham. »Eine dieser indirekten Routen muss der Schlüssel sein, aber wir sind uns noch nicht sicher, welche es ist.« Solche Nebenstraßen existieren höchstwahrscheinlich im Gehirn aller Menschen als Überbleibsel eines frühen visuellen Systems, das sich nähernde Bedrohungen auch ohne eine vollständig ausgeprägte Sicht erkennen konnte, so Culham.

Dieser Artikel ist unter dem Titel »Blind Except for Movement: Woman's Injury Offers Insight into How the Brain Works« bei »Scientific American« erschienen.

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