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Essen mit allen Sinnen: Blindekuh beim Abendessen

Ein Abendessen, das wir nicht sehen sondern nur schmecken können. Eingenommen in Gesellschaft von Menschen, die wir nur hören können. Serviert von einem Kellner, dessen Anwesenheit wir nur durch seine Stimme wahrnehmen. Wer im Restaurant Taste of Darkness speist muss sich ganz auf Nase und Mund verlassen, denn im Restaurant ist es völlig dunkel. Damit sich im Dunkeln niemand verirrt, werden wir als Polonaise an einen Tisch geleitet. Dort steht bereits für jeden ein Teller mit einer Vorspeise. Das bemerken wir jedoch erst, als der Kellner uns darauf hinweist.

Keiner weiß so recht, wie er beginnen soll. Am Besten ist es wohl, erst einmal danach zu tasten… "Oh, ich habe genau reingefasst!" Aber das spielt keine Rolle, denn niemand hat es gesehen. Nachdem Messer und Gabel ein paar Mal ins Leere gestochen haben, beginnen wir zaghaft, mit den Händen zu essen. Nach einer Weile hat sich herumgesprochen, dass drei "Teile" auf jedem Teller liegen müssten. Wir schmecken ein Stück Brot, offenbar mit einer Käsecreme. Dazu gibt es zwei Teigrollen, bei denen wir unterschiedliche Füllungen herausschmecken. Genau genommen sind es ein Crostino mit Gorgonzolacreme, sowie zwei Wraps – einer gefüllt mit Maronencreme und ein weiterer mit Zucchinimousse. Doch das erfahren wir erst nach dem Essen.

Menü im Dunkeln | Ein Vier-Gänge-Menü, serviert in völliger Dunkelheit.
Wenn Laien vom "Geschmack" einer Speise sprechen, dann meinen sie ihr "Flavour". Das Flavour entsteht, indem Geschmackssinn, Geruchsinn, Hörsinn und Tastsinn zusammenwirken. Der Tastsinn bezieht sich dabei nicht nur darauf, wie sich ein Produkt in den Händen anfühlt, sondern auch darauf, wie es sich im Mund verhält. Ist es knusprig, heiß, weich oder hart? Zergeht es auf der Zunge? Dieses Herantasten nennen Wissenschaftler die haptische Bewertung, bei der auch akustische Signale wie Kaugeräusche eine Rolle spielen. Übrigens beschreibt das "Aroma" eines Produktes im wissenschaftlichen Sprachgebrauch nur seine olfaktorischen Sinneseindrücke, also solche, die die Nase wahrnimmt. All diese einzelnen Reize werden vom Gehirn als ein verschmolzener Gesamteindruck wahrgenommen. So stellt man beim Abbeißen, Kauen und Schlucken schnell fest, dass man zum Beispiel gerade eine Tomate isst. Allerdings es ist viel schwerer, die Sinneseindrücke einzeln wahrzunehmen. Bisher ist noch nicht vollständig geklärt welche Gehirnareale an dieser Verarbeitung beteiligt sind und welche Bedeutungen sie dabei haben. Allerdings vermuten Forscher, dass die Amygdala, ein Teil des Hypothalamus, dabei eine Rolle spielt. Sie dient zur Wiedererkennung von Situationen oder Gegenständen und trägt somit zum Lernen bei.

Das Auge als Warnsystem

Damit der Laie also schmecken kann, muss er das Flavour wahrnehmen. Dazu ist die visuelle Information, die das Auge liefert, eigentlich überflüssig. Dennoch können wir Lebensmittel mit verbundenen Augen nicht oder erst nach längerem Nachdenken erkennen. Der Mensch hat im Laufe seiner Entwicklungsgeschichte gelernt, dem Auge in puncto Nahrungsbewertung einen hohen Stellenwert zuzusprechen. Schließlich ist es das Auge, das uns vor verdorbenen Lebensmitteln wie grünlich verfärbtem Fleisch warnt – oft noch bevor die Nase ihr Urteil abgeben kann. Genauso gibt das Auge Aufschluss darüber, wie es um den Reifegrad einer Frucht steht. Ist die visuelle Information aber nicht gegeben, muss das Gehirn auf die restlichen Sinne ausweichen. Ob und wie schnell jemand nun ein bestimmtes Lebensmittel mit verbundenen Augen wieder erkennt, hängt vor allem davon ab, wie weit der individuelle Geschmacksinn geschult ist. "Ein Sommelier kann beispielsweise aus einem Wein herauszuschmecken, ob in der Nähe der Rebe Brombeersträucher standen", erklärt Klara Kletzka, Leiterin des Dialogmuseums und Mitbegründerin des Essens im Dunkeln.

Wir Laien erkennen immerhin sofort, dass der zweite Gang eine Suppe ist. Sie ist cremig, schmeckt süßlich und ist scharf gewürzt. Ist das Ingwer? Könnte sein, doch aus was ist die Suppe? Die Gäste sind sich einig: Es muss Gemüse sein. Ein Gemüsepüree? Vielleicht ein Gemisch aus verschiedenen Gemüsesorten? Am Tisch wird es still und einige Löffel später folgt die Vermutung: Kürbissuppe! Na, klar. Alle stimmen zu. Da das Auge nicht mitessen darf, sind zum Erkennen der Suppe die haptischen Eigenschaften besonders wichtig. Wir haben vorsichtig getastet, gekaut und geschlürft. Wie sich später herausstellte, sind wir alle große Kürbisliebhaber und wissen, wie sich Kürbissuppe im Mund anzufühlen hat. So haben wir viel schneller erkannt, um was es sich bei unserem zweiten Gang handelt. Hätte man uns etwa ein Steak in Breiform vorgesetzt, wäre uns das Erkennen viel schwerer gefallen. Da ein Brei nicht der gewohnten Steak-Konsistenz entspricht, würden ihn die meisten Menschen sogar als ekelhaft empfinden.

Schmecken braucht multisensuale Information

Beim Hauptgang sind wir bereits zu Geschmacksprofis gereift. Wir haben gelernt, dass unser Gehirn eine multisensuale Information braucht, um zu schmecken. Nachdem wir die Kürbissuppe auf ihre haptischen Eigenschaften sehr genau untersucht haben, wollen wir beim Hauptgang zuerst unsere Nasen ins Spiel bringen. Wir riechen einen herzhaften, leicht würzigen und intensiven Duft, der frische Kräuter vermuten lässt. Es könnte Kartoffelbrei sein. Wir probieren und erschmecken schnell, dass auf unseren Tellern auch Bohnen und Fleisch liegen. Hinterher sehen wir, dass wir goldrichtig lagen. In der Tat gab es Stampfkartoffeln mit Petersilie, dazu Prinzessbohnen und Kalbstafelspitz.

Ein uneingeschränkter Geruchsinn ist für das Schmecken wesentlich. Das weiß jeder, der schon einmal erkältet war und eine verstopfte Nase hatte. Ohne den Geruchsinn kann man das Aroma seines Essens nicht wahrnehmen, sondern nur die fünf Grundgeschmacksrichtungen: süß, sauer, salzig, bitter und umami, also fleischig und herzhaft. Gerüche können über zwei Wege in die Nase gelangen. Riecht man beispielsweise an einer Papaya im Laden, wird ihr Duft von außen in die Nase gesogen. Man spricht hier von orthonasal. Den zweiten Weg gehen die Duftmoleküle, wenn man die Papaya bereits im Mund hat. Durch das Atmen bewegen sie sich vom Mund durch den Nasenrachenraum zu den Sinneszellen der Nasenschleimhäute. Man riecht die Papaya "retronasal". Wissenschaftler bezeichnen diesen Vorgang als den "retronasalen Effekt". Bereits 1969 beschäftigten sich der US-Forscher Maxwell Mozell und sein Team mit der Frage, wie bedeutend dieser für den Geschmack ist. Sie setzten ihren Probanden 21 Nahrungs- und Genussmittel als flüssige Proben vor. Im ersten Durchgang mussten die Versuchspersonen die Flüssigkeiten unter normalen Bedingungen identifizieren, in einem zweiten Durchgang mit abgeklemmter Nase. Die größten Unterschiede wurden bei Lebensmitteln festgestellt, die als besonders aromatisch gelten. So erkannten im ersten Durchgang circa 90 Prozent der Befragten die wässrigen Lösungen von Kaffee und Schokolade. Im zweiten Durchgang, mit abgeklemmter Nase, kein einziger. Da sich einige Duftmoleküle erst durch das Kauen und in Verbindung mit Speichel lösen, kann ein Duft, der retronasal wahrgenommen wird, völlig andere Eigenschaften entwickeln, als ein orthonasal wahrgenommener.

Das Auge liegt auch mal falsch

Da wir uns vom Auge leiten lassen, wenn wir Lebensmittel auf ihre Frische oder ihren Reifegrad bewerten müssen, passiert es auch mal, dass das Auge uns verleitet. Seit den 1970er Jahren konnten viele psychologische Studien zeigen, dass die Farbe eines Produktes einen Einfluss auf die Geschmackswahrnehmung hat. Doch fast genauso viele Studien bewiesen das Gegenteil. Die Wissenschaft ist sich bis heute nicht einig.

Interessante Ergebnisse lieferten unter anderem die US-Forscher Fergus M. Clydesdale und J. Johnson im Jahre 1982. Ihre Studie zeigte, dass ein intensiver roter Farbton die Versuchspersonen dazu verleitete, eine Probe als sehr süß zu bewerten. Eine mit einem schwächeren Rot-Ton empfanden sie als weniger süß, obwohl die Proben die gleiche Menge an Süßungsmittel enthielten. Die Wissenschaftler erklärten dieses Phänomen damit, dass tiefes Rot vor allem mit Reife assoziiert wird. Reife bedeutet einen höheren Zuckeranteil und damit auch einen süßeren Geschmack.

1995 beobachtete Jennifer Stillman von der Universität in Auckland in Neuseeland, dass die Geschmackswahrnehmung vor allem bei Lebensmitteln, die eine ganz bestimmte Farbe haben, durch eine Farbänderung beeinflusst wird. Sie färbte Getränke mit Orangen- und Himbeergeschmack entweder rot, orange, grün oder ließ sie farblos. Beim Test mit 310 Probanden stellte sich heraus, dass die Farbe half, die Getränke zu identifizieren, wenn orange und Orangengeschmack oder rot und Himbeergeschmack aufeinander trafen. Sobald aber die Farbe des Getränks nicht zur natürlichen Farbe der Frucht passte oder die Lösung farblos war, hatten die Versuchspersonen erhebliche Probleme, die Geschmäcker richtig zu erkennen.

Farbe macht fruchtig

Genauso wurde beobachtet, dass die Farbe einen Einfluss auf den orthonasalen sowie den retronasalen Effekt hat. Im Jahr 2005 führten Forscher der Montclair State University in den USA eine Studie durch, in der sie Versuchspersonen die Fruchtigkeit von farblosen und rot gefärbten Lösungen beurteilen ließen. Beide Proben enthielten die gleiche Menge an Geruchsstoffen. Dabei zeigte sich, dass die Teilnehmer beim orthonasalen Riechen die rot gefärbten Proben fruchtiger als die farblosen empfanden. Die Forscher erklärten das damit, dass farblose Flüssigkeiten meistens keine Duftstoffe haben und daher mit Wasser assoziiert werden. Farbige Getränke enthalten in der Regel aber Duftstoffe. Wieder kam die Macht der Gewohnheit ins Spiel. Doch nun ein Rätsel: Als die Probanden die Proben aber retronasal bewerten sollten, empfanden sie die farblosen Proben als fruchtiger gegenüber den farbigen. Der Farbzusatz erhöhte also die wahrgenommene Fruchtigkeit, sobald etwas orthonasal gerochen wurde und verminderte die Fruchtigkeit, wenn retronsasal gerochen wurde. Die Forscher vermuten, dass der retronasale Duft anders verarbeitet, als der orthonasale. Kommt ein Duftmolekül durch den Mund in den Körper, schenken wir ihm weitaus mehr Beachtung als einem, das sich außerhalb unseres Körpers in der Luft befindet. Denn der Mund entscheidet, was wir schlucken werden und was nicht. Durch die Farbe vermuteten die Versuchteilnehmer wahrscheinlich einen besonders intensiven und fruchtigen Duft. Dadurch entstand ein Kontrast zwischen der erwarteten Empfindung und der tatsächlichen. Dieser war so stark, dass für die Probanden die farbigen Proben sogar als schwächer duftend gegenüber den farblosen schienen. Ob diese Theorie so stimmt, ist allerdings nicht geklärt.

Was wir für uns klären können ist, dass die Farbe uns im Dunkeln nicht verwirren konnte. Daher waren wir uns einig, dass das Fleisch der Hauptspeise Rind sein musste. Wirklich verwirrt wurden wir erst nach dem Essen. Das Fleisch ist ja hell! Hatten wir etwa doch falsch gelegen? War es Schwein oder Pute? Doch dann hören wir: das Fleisch war vom Kalb, einem sehr jungen Rind also. Unser Riecher war richtig. Jedoch ist bis heute unklar, welchem Verarbeitungsmuster das Erkennen eines Duftes tatsächlich folgt. Zur Erklärung dienen daher zwei verschiedene Modelle. Eines davon ist das labelled-line Modell, was so viel wie "gekennzeichnete Linie" heißt. Dabei sollen alle Rezeptorzellen jeweils nur eine Geschmacksrichtung erkennen können, nämlich süß, sauer, bitter, salzig oder umami. Die Zellen leiten die Reize einzeln ins Gehirn weiter, wo dann ein Geschmack entsteht. Eine anderes ist das across-fibre Modell, was "gekreuzte Faser" bedeutet. Es besagt, dass eine Sinneszelle durch alle fünf Geschmacksrichtungen aktiviert werden kann und den Reiz über eine Nervenfaser ins Gehirn weiterleitet. "Die Wahrheit liegt wahrscheinlich irgendwo in der Mitte. Es gibt Hinweise, dass beide Theorien stimmen können", erklärt hierzu Thomas Hummel von der HNO-Universitätsklinik in Dresden.

Leere Teller? Fehlanzeige!

Wir befinden: All unsere Sinneszellen haben Großartiges geleistet. Wir haben geschnuppert, gefühlt, mit dem Fleisch gekämpft und auf den Tellern nach Bohnen gefischt. Alle haben wir zwar nicht erwischt, aber wir fühlen uns rundum satt. Ob wir nun mehr gegessen hätten, wenn wir den kleinen Rest an Bohnen gesehen hätten? Auf die Frage, ob bei Taste of Darkness viele halbvolle Teller in die Küche zurückgehen, sagt Kletzka entschieden: "Nein. Es gibt sogar erstaunlich viele Teller, die unglaublich sauber sind."

Zurück bleibt Chaos | Die Gabel hat im Dunkeln nicht annähernd alle Bohnen erwischt.
Als die Nachspeise kommt, sind wir uns einig: Sie ist cremig und schmeckt herrlich süß – wie eine Nachspeise sein muss. Wir tippen auf eine Quarkcreme mit Keksstückchen. Doch später erfahren wir, dass wir hier am weitesten daneben lagen. Unser Dessert war eine Ricotta- Kastanien-Creme mit Amarettinistückchen und geraspelter weißer und schwarzer Schokolade.

Ein Besuch im Dunkelrestaurant Taste of Darkness hat uns leider noch nicht zu den Geschmacksexperten gemacht, die wir gerne wären. Ohne unsere Augen waren wir zeitweise so hilflos, dass es uns schwer fiel, Dinge zu erschmecken, die wir eigentlich oft und gerne essen. Die Erfahrung zeigte uns, welchen Stellenwert Nase, Mund und unsere Finger beim Essen haben und dass man vor manchen Dingen ruhig auch mal die Augen verschließen sollte.

Anja Szerdi

Dieser Beitrag ist Teil eines Projektes der Studenten des 3. und 5. Semester Wissenschaftsjournalismus der Hochschule Darmstadt zum Thema "Ernährung":
Das große Fressen

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