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Stereotype: Bloß keine Vorurteile?

Stereotype Ansichten über Frauen oder Migranten lässt sich niemand gern vorwerfen. Wie kann man sie überwinden? Vermutlich niemals ganz, sagen inzwischen viele Psychologen.
Mann telefoniert am Bahnsteig

Männer mit türkischem Namen finden in Deutschland schwerer eine Mitfahrgelegenheit. Das berichteten im Herbst 2019 Forscher der Universität zu Köln. Sie hatten knapp 1000 Anfragen mit fiktiven Nutzerprofilen online verschickt. Ein »Hamid Yilmaz« durfte demnach nur in 44 Prozent der Fälle auf dem Beifahrersitz Platz nehmen. Im Durchschnitt betrug die Quote der Zusagen dagegen 59 Prozent, bei deutschen Frauennamen sogar 71.

Warum wollen etliche Autofahrer lieber keinen Türken mitnehmen? Womöglich glauben sie, der fremde Begleiter könne nicht gut Deutsch, sei vielleicht »bildungsfern« oder respektlos gegenüber Frauen – allesamt gängige Vorurteile.

Und Sie selbst, hegen Sie keine Vorurteile? Wie sieht es etwa mit Annahmen aus, die oft unausgesprochen bleiben, aber weit verbreitet sind: Italiener sind Machos, Franzosen versnobt, Russen trinkfreudig und Deutsche humorlos. Leute vom Land sind konservativ, Großstädter »abgehoben« und Arbeitslose an ihrem Los im Grunde selbst schuld. Oder, falls Ihnen diese Sichtweisen eher entgegenkommen: SUV-Fahrer sind egoistisch, verschleierte Frauen tragen ihr Kopftuch kaum freiwillig, und Männer denken doch nur an Sex. Hand aufs Herz: Wer von uns ist frei von Stereotypen dieser oder einer anderen Art?

In den westlichen Gesellschaften herrscht heute weitgehend Konsens darüber, dass Vorurteile schlecht sind und man sie vermeiden sollte. Entsprechend großen Wert legen viele darauf, als aufgeschlossen zu gelten. Da überlegt man zweimal, ob eine pauschale Aussage über Ausländer, Frauen oder Homosexuelle angebracht ist. Fast scheint es, als gehörten Vorurteile unter aufgeklärten Bildungsbürgern der Vergangenheit an und hielten sich nur noch unter den »Abgehängten« der Gesellschaft. Was wiederum selbst ein beliebtes Stereotyp ist.

Die experimentelle Psychologie nährt jedoch Zweifel daran, ob wir uns von Vorurteilen frei machen können. Laut Forschern ist es kaum möglich, seiner Umwelt unvoreingenommen zu begegnen. »Sobald wir über zu wenig Informationen verfügen, greifen wir auf einfache Faustregeln und Heuristiken zurück«, erklärt der Sozialpsychologe Ulrich Wagner von der Universität Marburg. »Und diese sind in der Regel verzerrt.« Vorurteile werden dem Einzelfall selten gerecht, sie gründen häufig sogar auf Fehlannahmen. Allerdings dienen solche Abkürzungen des Denkens auch nicht dazu, die Wahrheit zu erkennen oder das Gegenüber in seiner Individualität zu würdigen. Vielmehr ermöglichen es Stereotype bei einem überschaubaren Verlust an Genauigkeit, sich in der Welt zurechtzufinden. Wann werden solche Schnellschüsse gefährlich? Und wie beugt man dem vor?

Gehirn&Geist Artikel-Serie: Alltagsmoral

Die Artikelserie »Alltagsmoral« untersucht drei häufig erhobene moralische Imperative und deren Realisierbarkeit. Im Fokus stehen dabei Vorurteile, Toleranz und Verzicht.

TEIL 1 AUSGABE 4/2020
Hab keine Vorurteile!
Stereotype sind schlecht – aber unvermeidlich, sagen Psychologen. Wie soll man sich beispielsweise gegen implizite, also unbewusste Vorbehalte gegenüber Minderheiten wappnen? Und fördert das Bohren nach denselben nicht bloß die Bigotterie?

TEIL 2 AUSGABE 5/2020
Bleib tolerant!
Toleranz etwa gegenüber anderen Lebens- und Glaubensformen wird heute großgeschrieben. Klingt auch erst einmal gut, aber wo genau endet die Toleranz? Und was gilt es stattdessen zu tun, wenn etwa manche gegen das Impfen oder die Schulpflicht opponieren oder aus alter Tradition minderjährige Kinder verheiraten?

TEIL 3 AUSGABE 6/2020
Übe Verzicht!
Mal eben die Welt retten, indem man das Auto stehen lässt, kein Fleisch isst und auf Fernreisen verzichtet? Im Zuge der Klimadebatte geriet jeder ins Visier einer permanenten Gewissensprüfung – und manche haben schon deshalb keine Lust darauf. Der moralische Zeigefinger erzeugt allzu oft Trotz und Abwehr. Doch soll man deshalb aufhören, an die Vernunft zu appellieren?

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Warum man Vorurteile nicht »abfragen« kann

Da Vorurteile einen schlechten Ruf haben, halten Menschen in Meinungsumfragen damit eher hinter dem Berg. Es bringt also wenig, eine Person einfach schildern zu lassen, wie sie zum anderen Geschlecht oder zu einer fremden Kultur steht – die soziale Erwünschtheit gibt die Antwort bereits vor. Daher greifen Vorurteilsforscher meist zu verdeckten Methoden.

Ein unter Psychologen beliebtes Verfahren, um geheime Stereotype zu Tage zu fördern, ist der Implizite Assoziationstest (IAT). Er wurde erstmals 1998 von einem Team um Anthony Greenwald von der Washington University in Seattle vorgestellt. Im Kern geht es dabei um die Geschwindigkeit, mit der Testpersonen positive oder negative Begriffe bestimmten Gruppen zuordnen (siehe »Kurz erklärt«). Zunächst trainiert man Probanden darauf, eine von zwei Tasten zu drücken, wenn ein negativer beziehungsweise ein positiver Begriff auf dem Computerbildschirm erscheint. Beispiel: linke Taste bei »hinterhältig« oder »geizig«; rechte Taste bei »liebenswert«, »hilfsbereit« und so weiter. Im nächsten Schritt sollen die Betreffenden dann statt auf Wörter auf präsentierte Namen oder Gesichter reagieren, mit einer jeweils vorgegebenen Taste. Siehe da: Ausländisch klingende Namen oder Porträts von Schwarzen werden im Schnitt einige Millisekunden schneller mit der linken, negativ besetzten Taste beantwortet als mit der rechten.

Kurz erklärt:

IMPLIZITER ASSOZIATIONSTEST (IAT)

Von Psychologen der Washington University in Seattle Ende der 1990er Jahren entwickeltes Verfahren, das unbewusste Einstellungen misst. Auf einem Bildschirm erscheinen Gesichter und Wörter, auf die der Proband so schnell wie möglich durch Drücken einer von zwei Tasten reagieren soll. Zuvor wurde den Tasten in Trainingsdurchläufen (verdeckt) ein positiver oder negativer Wert zugewiesen. Soll man nun etwa beim Gesicht eines Schwarzen die »negative« Taste drücken, erfolgt dies oft rascher als beim Porträt eines Weißen. Forscher schließen daraus auf »automatische Präferenzen«. Machen Sie den Selbsttest unter: https://implicit.harvard.edu

UNBEWUSSTES

Laut Sigmund Freud (1856–1939) eine nicht unmittelbar zugängliche Sphäre geistiger Prozesse, die unser Denken und Handeln maßgeblich beeinflusst. Sie enthalte verdrängte Erfahrungen und unterdrückte Wünsche. Heutige Forscher sprechen dagegen von »impliziter Informationsverarbeitung«.

MIKROAGGRESSIONEN

Äußerungen oder Gesten gegenüber Angehörigen von Minderheiten, die diese als implizit beleidigend oder herabwürdigend empfinden. Beispiel: Eine Frau umklammert ihre Handtasche, wenn sie mit einem Ausländer im Aufzug steht. Das Konzept ist umstritten, da es Aggression allein am Empfinden des »Opfers« festmacht.

Selbst wer sich von Vorurteilen gegenüber Fremden frei wähnt, offenbart meist stabile Muster: Bestimmte Assoziationen fallen einem einfach leichter. Forscher bezeichnen dies als implizite Voreingenommenheit (englisch: implicit bias). Sie beeinflusst das Wahrnehmungstempo und fördert entsprechend schnellere oder langsamere Reaktionen. So verknüpfen Probanden – Männer wie Frauen – weibliche Vornamen eher mit dem Konzept »Mutter« als mit »Chefin«. Auch wenn man Frauen in Führungspositionen im Prinzip gutheißt, ordnet man sie intuitiv rascher der Familie zu als Männer. Ähnliche Resultate spuckt der IAT aus, wenn es darum geht, wie gut Menschen negative Eigenschaften mit Übergewichtigen oder Alten verbinden. Doch was steckt hinter solchen »automatischen Präferenzen«? Offenbaren sie tatsächlich unbewusste Vorurteile? Und wie lassen sich diese überwinden, wenn das Bemühen, nicht in Schubladen zu denken, dafür nicht genügt?

In der Geschichte galt das rationale Denken als probates Gegenmittel. So sahen es etwa die Aufklärer des 18. Jahrhunderts, die den Vorurteilen den Kampf ansagten und damit sowohl ethische als auch erkenntnistheoretische Debatten auslösten. Im Zentrum stand dabei die Idee der geistigen Selbstbestimmung. Schließlich seien Vorurteile einfach Meinungen, die man von anderen übernommen habe, ohne sie selbst geprüft zu haben. Der Königsberger Philosoph Immanuel Kant (1724–1804) beklagte in seinem Aufsatz »Was ist Aufklärung?« von 1784, dass sich viele, statt selbst zu denken, darauf verlassen, »andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen«. Sich die eigenen Überzeugungen von anderen diktieren zu lassen, war für Kant Unmündigkeit – also das »Unvermögen, sich seines Verstands ohne Leitung eines anderen zu bedienen«.

Die breite Masse der Menschen wird auf diese Weise von anderen bevormundet, erklärte etwa zur gleichen Zeit, genauer gesagt in seinem (posthum erschienenen) Essay über die Vorurteile von 1769, der französische Denker César Chesneau Dumarsais (1676–1756): »Nachdenken, die Erfahrung befragen, seine Vernunft üben, sie auf das Verhalten anwenden, alle diese Tätigkeiten sind der Mehrheit der Sterblichen unbekannt.« Wie für Kant blieb auch für ihn das Gros der Menschen ein Leben lang in der Unmündigkeit verhaftet.

Homosexuelles Pärchen | Sympathisch oder nicht? Selbst wer überzeugt ist, er »habe nichts gegen Schwule«, hegt womöglich dennoch Vorbehalte.

Diesem Übel abhelfen könne nur, wer erlernte Meinungen immer auf eigene Faust hinterfrage, und zwar mittels Verstand und Erfahrung, der universellen Erkenntnismittel. Wirklich frei von Vorurteilen wäre demnach, wer sein Handeln ausschließlich auf selbst nachvollzogene und erprobte Meinungen stützt. Allerdings führten etliche Kritiker diese Prämisse später ad absurdum. Denn es ist schlicht unmöglich, all seine Kenntnisse aus erster Hand zu beziehen – ein Einzelner hat dafür weder die nötige Zeit noch die Kapazität. Selbst Forscher müssen sich bei ihrer Arbeit immer auf einen Bestand anerkannten, aber nicht selbst überprüften Wissens stützen. Zudem müssen wir oft schnell entscheiden und handeln. Genaues Überlegen und Prüfen dauern einfach zu lange. Der Glaube, man könne allein mit einem »Privatvorrat an Vernunfturteilen« zu gründlichen Kenntnissen über die Welt gelangen, entpuppte sich als Anmaßung.

Zement des sittlichen Handelns

Manche Denker warnten sogar vor geistiger Anarchie, wenn jeder beginne, für sich selbst entscheiden zu wollen, was richtig und was falsch sei. In seinen Betrachtungen über die Revolution in Frankreich schrieb der britische Philosoph Edmund Burke (1729–1797): »Statt unsere alten Vorurteile wegzuwerfen, (sollten wir) sie vielmehr mit Zärtlichkeit lieben, und zwar ebendarum, weil sie Vorurteile sind, und umso mehr, je länger und je weiter sie sich verbreitet haben.« Die Vernunft allein liefere keine solide Basis für gemeinschaftliches Handeln. Dazu bedürfe es fester Übereinkünfte, die dem Volk nur durch Gewöhnung in Fleisch und Blut übergehen. Konventionelle Anschauungen bilden daher laut Burke den Zement des sittlichen Handelns.

Womöglich ist es also doch nicht so leicht, ohne übernommene Meinungen zu leben, wie uns die Aufklärer in ihrem Idealismus glauben machen wollten. Vielleicht ist es sogar nicht einmal wünschenswert?

Nehmen wir zum Beispiel die Kindererziehung. Einige Aufklärer betrachteten sie als wichtigste Quelle hartnäckiger Vorurteile, da uns von Kindesbeinen an Irrtümer eingepflanzt würden. Doch erzieht man dem Nachwuchs folglich besser gar keine Prinzipien an, ehe er nicht selbst urteilen kann? Darauf entgegnete der englische Dichter Samuel Taylor Coleridge (1772–1834) einmal ironisch, die Wiese vor seinem Haus habe einfach noch nicht das nötige Alter erreicht, um selbst urteilen zu können – daher habe er das Unkraut sprießen lassen, statt dem Boden eine Vorliebe für Rosen und Erdbeeren aufzuzwingen.

Zudem ist nicht jede objektiv falsche Annahme gleich ein Vorurteil. Glaubt ein Kind, die Erde sei eine Scheibe, kennt es eben nur die Wahrheit noch nicht. Vorläufige Annahmen sind Bestandteil jedes Lernprozesses, auch bei Erwachsenen. Vorurteile werden daraus erst, wenn man an ihnen festhält, obwohl berechtigte Einwände oder Fakten dagegensprechen. Das Problem sind nicht die Annahmen an sich, sondern wie man zu ihnen steht.

Die Aufklärer des 18. Jahrhunderts entlarvten Vorurteile erstmals im großen Stil – darunter solche gegenüber anderen Rassen, Religionen oder im Verhältnis der Geschlechter. Allerdings muss man ihren Appell heute differenzierter betrachten. Wenn wir uns zum Beispiel hinsichtlich der Weltpolitik auf Journalisten verlassen oder bei medizinischen Fragen auf Ärzte, sind wir deshalb nicht unmündig. In vielen Fällen muss und kann man auf Experten und andere Autoritäten zurückgreifen. Entscheidend ist, wessen Meinung wir einholen, etwa die von anerkannten Experten. Lässt man seine Waschmaschine reparieren, scheint es weniger bedenklich, falls man einem »Pseudoexperten« aufsitzt; man muss höchstens damit leben, dass die Socken nicht richtig sauber werden. Bei gesellschaftlichen Fragen dagegen läuft man leicht Gefahr, andere ungerecht zu behandeln. Seien es dunkelhäutige Angeklagte, die vor Gericht eher verurteilt werden als weiße, oder Ahmeds, die schwerer eine Wohnung finden als Antons.

Beeinflusst, aber nicht gesteuert

In viele unserer Urteile und Entscheidungen spielen unbewusste Denkmuster hinein. Dennoch werden sie nicht unbedingt von ihnen gesteuert. Man kann die Geschwindigkeit einer mentalen Verknüpfung im IAT schließlich auch anders interpretieren: Wer Schwarze leichter mit negativen Begriffen assoziiert, hat vielleicht nur viel über Rassismus gelesen und sich damit auseinandergesetzt. Wer Vorurteile allein an Reaktionszeiten festmacht, verkennt, dass menschliches Handeln stets in gemeinschaftliche Prozesse eingebunden ist.

Dass unser Gehirn unter Zeitdruck eher stereotype Denkmuster abruft, ist einerseits natürlich: Das rasche Kategorisieren dient dazu, Gefahren zu erkennen und ihnen zu begegnen, ohne ausführlich abwägen zu müssen. Das war evolutionsbiologisch durchaus wichtig und hilft uns noch heute, in kniffligen Situationen eine grobe Orientierung zu behalten. Unserem Unbewussten ausgeliefert sind wir deshalb noch lange nicht.

Eine Möglichkeit, eventuellen Vorurteilen weniger Einflussmöglichkeiten zu bieten, besteht in institutionell festgelegten Regeln, die etwa sensible Informationen aus bestimmten Entscheidungsprozessen heraushalten. Zum Beispiel verhindern anonymisierte Bewerbungsverfahren Rückschlüsse auf Alter, Geschlecht oder Herkunft der Kandidaten. Analog zum eingangs erwähnten Experiment lässt ein ausländischer Name auch die Chancen auf ein Bewerbungsgespräch in Deutschland sinken, wie eine Gruppe von Wirtschaftswissenschaftlern der Universität Konstanz 2010 berichtete. Anonymität könnte die Diskriminierung von Bewerbern mit Migrationshintergrund vermeiden helfen. Darauf weisen Pilotprojekte unter Beteiligung des Bundesfamilienministeriums in Berlin oder der Agentur für Arbeit, aber auch von Firmen wie der Deutschen Post hin. »Anonymisierte Verfahren erhöhen die Chance für Frauen und Bewerber mit Migrationshintergrund, eingeladen zu werden«, erklärt Sebastian Bickerich von der Antidiskriminierungsstelle des Bundes. Doch sensible Daten nur auszublenden, ändert noch nichts an den Vorurteilen selbst.

Frau fühlt sich ausgegrenzt | Andere auszugrenzen, erfordert keine offen geäußerte Ablehnung. Mitunter genügen schon Getuschel oder abschätzige Blicke, von manchen auch »Mikroaggressionen« genannt.

Zumal das Abschneiden im IAT durchaus mit dem konkreten Handeln von Personen zusammenhängt. So befragte ein Team von US-amerikanischen Gesundheitsforschern um Michelle van Ryn Mediziner, die einen IAT absolviert hatten, zusätzlich zu ihren Therapieempfehlungen in einer Reihe fiktiver Szenarien. In der Studie von 2006 ging es sowohl um afroamerikanische als auch um weiße Patienten mit Verdacht auf Herzinsuffizienz. Laut den Daten rieten Ärzte, die im IAT eine »Präferenz für Weiße« zeigten, weißen Patienten eher zu Medikamenten als Afroamerikanern.

Der Stuttgarter Philosoph Philipp Hübl hält die Idee vom allmächtigen Unbewussten gleichwohl für einen Mythos. Wie er in seinem Buch »Der Untergrund des Denkens« erklärt, in dem er die empirische Forschung zur impliziten Informationsverarbeitung sichtete, können wir trotz aller automatischen Denkmuster und Neigungen rational abwägen und unsere möglichen Vorurteile reflektieren. Dass diese umso stärker durchschlagen, je mehr wir unter Zeitdruck stehen oder je abgelenkter wir sind, bedeute umgekehrt nur, dass wir Vorsichtsmaßnahmen ergreifen sollten. Gehen wir mit einem Einkaufszettel in den Supermarkt, sind wir etwa den Verlockungen der Werbung weniger ausgeliefert, als wenn wir beim Shoppen telefonieren. Ablenkung macht anfällig für Manipulation. Dagegen helfe Konzentration.

Psychologen wie Ulrich Wagner sind da weniger optimistisch. »Menschen sind keine rationalen Informationssucher. Sie gehen immer schon von gewissen Vorannahmen aus.« Vor allem denken wir in der Regel nicht ergebnisoffen, sondern lauern auf Antworten, die unsere Weltsicht bestätigen. Kommen zusätzlich Emotionen ins Spiel, ist die Tendenz, die eigenen Hypothesen bestätigen zu wollen, häufig noch stärker ausgeprägt. »Deshalb ist der rationale Ansatz schwierig«, glaubt der Sozialpsychologe.

Wichtige Begegnung mit anderen Ansichten

Infolge der Tendenz, Bestätigung für bereits bestehende Annahmen zu suchen, umgeben wir uns bevorzugt mit Personen, deren Ansichten unseren ähneln. Aus diesem Grund sind Begegnungen mit fremden Menschen und Meinungen wichtig. »Alles, was uns mit konträren Ansichten in Kontakt bringt, weicht Vorurteile auf«, so Wagner. Der persönliche Austausch etwa mit Migranten reduziert nicht nur Berührungsängste, er macht auch viele vorschnelle Annahmen als solche erkennbar.

Einen Beleg für diese »Kontakthypothese« lieferten Trainings, die der Sozialpsychologe Herbert Kelman bereits in den 1970er Jahren mit Israelis und Palästinensern durchführte. Die Teilnehmer brauchten oft einige Zeit, um Hemmungen und Vorbehalte zu überwinden – doch dann nahmen sie die anderen als Menschen wahr, die ganz ähnliche Sorgen und Wünsche hatten wie sie selbst.

Sein Gegenüber des Vorurteils zu bezichtigen, ist ein zweischneidiges Schwert. Denn damit gibt man dem anderen zu verstehen, man nehme seine Position nicht ernst. Erklärt jemand zum Beispiel, zu viele Geflüchtete gefährdeten unser Land, so schrillen bei vielen die Alarmglocken: Fremdenfeindlichkeit! Der Sprecher gilt als kompromittiert. Das hat oft das Gegenteil dessen zur Folge, was helfen könnte. Denn der Dialog endet, ehe er überhaupt begann.

Besonders heikel ist das, wenn es nicht um offen geäußerte Ressentiments oder Diskriminierungen geht, sondern um Gesten, die auch rein zufällig sein könnten. Der chinesisch-amerikanische Psychologe Derald Wing Sue von der Columbia University in New York prägte den Begriff der Mikroaggressionen (siehe »Kurz erklärt«). Vor einem Flug mit einer kleinen Propellermaschine wurden er und seine ebenfalls asiatisch aussehende Begleitung von der Stewardess gebeten, sich einen anderen Platz zu suchen, damit sich das Gewicht im Flieger besser verteile. Dass ausgerechnet sie beide zum Platzwechsel aufgefordert wurden, jedoch keiner der anderen, zumeist weißen Geschäftsleute, wertete Sue als versteckte Diskriminierung. Kann sein, kann aber auch nicht sein. Wer wollte sagen, wo bloßer Zufall aufhört und (womöglich unbewusste) Ungleichbehandlung beginnt?

So naheliegend es für Betroffene sein mag, hinter solchen Vorfällen System zu vermuten – die »Übeltäterin« war sich der Demütigung wohl gar nicht bewusst. Sieht sie sich in die Ecke von Rassisten gedrängt, könnte sie entsprechend gereizt reagieren oder den Spieß umdrehen und dem Ankläger selbst ein Vorurteil unterstellen: Wer einen fremdländisch aussehenden Menschen fragt, ob er den Platz wechseln würde, ist deshalb noch kein Rassist. Wer als Mann einer Frau die Tür aufhält, ist deswegen noch kein Macho.

Niemand ist frei von Vorurteilen, egal wie gut wir sie kaschieren. Dagegen helfen kritisches Reflektieren, zwischenmenschliche Begegnungen sowie institutionelle Regeln wie das Anonymitätsgebot. Ob es Vorurteilen abhilft, wenn man andere ihrer bezichtigt, scheint dagegen fraglich. Oft setzt dies nur eine Spirale der gegenseitigen Verdächtigung in Gang, mit der kaum jemandem gedient ist. Aus Angst vor Vorurteilen den Meinungsaustausch zu meiden, trägt sicherlich nicht zur Verständigung bei. So wichtig es ist, Stereotype abzubauen, es sollte einen nicht daran hindern, mit Menschen im Dialog zu bleiben, nur weil sie anderer Ansicht sind als man selbst.

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  • Quellen

Literaturtipps

Hübl, P.: Der Untergrund des Denkens. Eine Philosophie des Unbewussten. Rowohlt, 2015. Warum die Allmacht des Unbewussten ein Mythos ist

Kant, I.: Was ist Aufklärung? Ausgewählte kleine Schriften. In: Brandt, H. D. (Hg.): Philosophische Bibliothek 512. Meiner, 1999. Immanuel Kants klassischer Appell zur »geistigen Selbstbestimmung«

Quellen

Banaji, M. R., Greenwald, A. G.: Blindspot. Hidden biases of good people. Bantam, 2013

Ryn, M. v.: Physicians’ perceptions of patients’ social and behavioral characteristics and race disparities in treatment recommendations for men with coronary artery disease. American Journal of Public Health 96, 2006

Sue, D. W.: Microaggrassions in everyday life: Race, gender and sexual orientation. Wiley, 2010

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