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Biomimetik: Blutige Schwimmanfänger

Kraul, Brust, Schmetterling - nicht diese olympischen Disziplinen dienen französischen Bioingenieuren, die winzigen roten Blutkörperchen das Schwimmen beibringen, als Vorbild. Sie orientieren sich am Stil von Muscheln und Spermien. Und am Ende kommt heraus: eine Art Rückenschwimmen.
DSV-Seepferdchen
Sprung vom Beckenrand, 25 Meter schwimmen und dann noch einen Gegenstand mit den Händen aus schultertiefem Wasser heraus holen. Wollten unsere roten Blutkörperchen das Seepferdchen erwerben, würden sie wohl schon an Aufgabe Nummer eins scheitern. Denn um vom trockenen ins flüssige Element zu tauchen, müssten sie erst mal aus dem Nassen heraus, was ihnen sicher schwer fallen dürfte. Verdient hätten sich einige Erythrozyten das Schwimmabzeichen allemal. Jedenfalls diejenigen, denen französische Physiker nun beim Schwimmen auf die Sprünge geholfen haben.

Dabei ist Schwimmen lernen, wenn man so klein ist, alles andere als ein Kinderspiel. Für jemanden, dessen Körpergröße sich in Millionstel Metern misst, ist Wasser nicht der dünnflüssige und geschmeidige Stoff, als den wir es empfinden, wenn wir im Mittelmeer oder im Swimmingpool baden. In der Mikrowelt gelten beim Planschen eigene Gesetze.

Jakobsmuschel | Anders als ihre sesshaften Verwandten kommt die Jakobsmuschel auch als Erwachsene gut von der Stelle. Dazu öffnet und schließt sie aktiv ihre Schalenklappen.
Für eines dieser Gesetze gibt eine bekannte Schwimmerin die Namenspatin: die Jakobsmuschel oder scallop, wie sie im Englischen heißt. Allerdings gilt das von dem amerikanischen Physiker Edward Purcell formulierte Scallop-Theorem für die Muschel selbst gar nicht. Sie ist nämlich ein verhältnismäßig großes Wesen und lebt in punkto Schwimmphysik in der gleichen Dimension wie wir.

Mit ihrem unorthodoxen Schwimmstil – sie öffnet immer wieder langsam ihre Schalenklappen und presst sie dann ruckartig zusammen – kommt die mobile Muschel per Rückstoßprinzip erstaunlich gut voran. Ein paar Größenordnungen tiefer jedoch würde sie – so das Scallop-Theorem – mit dem gleichförmigen Klappe-auf-Klappe-zu nur auf der Stelle zappeln.

Im zähen Mikromilieu muss die ausholende Bewegung einen anderen Weg nehmen als die Schubbewegung, fordert Purcells Prinzip. Daher ist eine etwas kompliziertere Antriebstechnik gefragt, als sie der mit nur einem einzigen Gelenk ausgestatteten Jakobsmuschel möglich ist. Im Reich der Einzeller indes gibt es elegante Lösungen zuhauf.

Zilienschlag | Die Bewegung einer Zilie ähnelt der Armbewegung beim Brustschwimmen. Auf einem Pantoffeltierchen sitzt ein ganzes Meer dieser Wimpern.
Viele Bakterien besitzen einen rotierenden Schwanz, mit dessen Hilfe sie wie ein Torpedo umherjagen. Pantoffeltierchen wiederum sind mit zahllosen Wimpern bedeckt. Jede einzelne davon schlängelt sich, ähnlich wie die Arme beim Brustschwimmen, eng am Zellkörper entlang nach vorn und schlägt dann mit voller Breitseite nach hinten. Auf eine dritte Methode vertrauen unsere Spermien.

Für ihre Odyssee zum Ei haben männliche Keimzellen reichlich Bewegungsdrang im Reisegepäck. Der Blick ins Mikroskop entlarvt als Ursache des hektischen Gewimmels den immerzu peitschenartig ausschlagenden Schwanz. Biologen nennen den Schweif aus Proteinfilamenten daher die Geißel.

Spermium | Der Peitschenschlag seiner langen Geißel treibt das Spermium voran. Die Mitochondrien im Mittelstück liefern die Energie, die von den Motorproteinen im Schwanz verbraucht wird.
Für den Antrieb sorgen innerhalb der Geißel sitzende Motorproteine. Unter Energieverbrauch verformen sich diese zyklisch, verschieben dabei die einzelnen Schwanzfilamente gegeneinander und bewirken so eine lokale Biegung der Geißel. Als Ergebnis läuft eine Welle vom Schwanzansatz zur Schwanzspitze: der Peitschenschlag.

Eine Welle muss es sein. Das sagten sich auch Rémi Dreyfus und Jérôme Bibette von der Pariser Hochschule für industrielle Physik und Chemie, als sie überlegten, wie sie wohl roten Blutkörperchen am besten das Schwimmen beibringen könnten. Ein Paddel zu montieren, das sich nur steif auf und ab oder vor und zurück bewegt, würde nicht funktionieren, wie die Jakobsmuschel lehrt. Ein gelenkiger Zellfortsatz wie beim Spermium war also gefragt – und den erfanden die Bioingenieure auch.

Schwimmen | Der zeitliche Abstand zwischen den einzelnen Bildern der Folge beträgt fünf Millisekunden. Gezeigt ist ein Schlagzyklus des Schwanzes: Nach dem letzten Bild (t) geht es wieder von vorne los (a).
Als Schwanz konstruierten sie eine Kette von Mikrometer großen Kügelchen, die über DNA-Stränge zusammen gehalten werden. Die Nukleinsäure-Links zwischen den Gliedern stellen dabei gleichzeitig die Scharniere des künstlichen Zellfortsatzes. Der besondere Clou der Schwimmhilfe: Die Kügelchen lassen sich magnetisieren. Wenn Dreyfus und seine Kollegen ein oszillierendes äußeres Magnetfeld anlegen, versetzt das den Schwanz in peitschende Bewegung.

Erythrozyten | Erythrozyten-Stau in einer engen Kapillare. Hier ginge es auch mit Schwanzantrieb nicht schneller voran.
Tatsächlich kommen die normalerweise passiv im Blutstrom treibenden Erythrozyten mit dem angehefteten Magnetschweif vorwärts. Oder genauer gesagt rückwärts. Denn sie rudern in Richtung ihres Schwanzendes und nicht in Richtung des Kopfes, wie es die Spermien tun. Das liegt daran, dass bei den Blutkörperchen die Peitschenwelle von der freien Schwanzspitze her anläuft, bei den Spermien dagegen von der Geißelverankerung aus.

Auch was die Geschwindigkeit angeht, planschen die blutigen Anfänger mit ihrem Schwimmflügel noch hinter den Profis her. Etwa fünf Mikrometer legen sie pro Sekunde zurück – Spermien sind gut zehn mal so schnell. Deren Schwanz ist nämlich um einiges elastischer als der recht starre Fortsatz der Blutzellen.

Was der ganze Badespaß übrigens soll? Dreyfus meint, die Kugelkette könne man im Prinzip an jedes beliebige Mikroobjekt pappen. Damit sei es dann beispielsweise möglich, Medikamente durch die Adern ganz gezielt zu einem bestimmten Wirkort hin zu steuern. "So eine Anwendung liegt aber noch sehr weit in der Zukunft", räumt der Forscher ein.

Also fürs Erste zurück zur Seepferdchen-Prüfung. Der Bademeister sollte, um Aufgabe zwei abzunehmen, schon ein wenig Geduld mitbringen. Selbst wenn die Erythrozyten ihr im Labor gemessenes Tempo durchhalten könnten, bräuchten sie für die 25 Meter knapp zwei Monate. Und für die dritte Aufgabe müssten sich die französischen Physiker noch raffiniertere künstliche Gliedmaßen ausdenken.

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