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Bologna-Prozess: "Chancen bleiben häufig ungenutzt"

Die Umstellung auf Bachelor- und Master-Abschlüsse an den deutschen Universitäten stößt beileibe nicht nur auf Zustimmung. Wie beurteilt die Wirtschaft den Erfolg der Reform? Zum zehnjährigen Jubiläum des "Bologna-Prozesses" sprach spektrumdirekt mit Martin Wansleben, dem Hauptgeschäftsführer des Deutschen Industrie- und Handelskammertags.
Bologna-Bloggewitter
spektrumdirekt: Genau zehn Jahre ist es her, dass sich europäische Hochschulen das Ziel gesetzt haben, im Rahmen des Bologna-Prozesses das Dickicht der unterschiedlichen Studiengänge zu entwirren und zu vereinheitlichen. Für Deutschland bedeutet dies vor allem: Statt des klassischen Magister oder Diploms bieten die Unis vielfach nur noch die Abschlüsse Bachelor und Master an. Halten Sie die Umsetzung der Reform für gelungen?

Martin Wansleben: Ziel der Reform war es, einen gemeinsamen europäischen Hochschulraum zu schaffen, womit man auch inzwischen weit vorangekommen ist. Bachelor- und Master-Studiengänge überwiegen an den Unis, und die klassische deutsche "Marke" unter den Abschlüssen, der Diplom-Ingenieur, wird wohl bald der Vergangenheit angehören. Die eigentlichen Ziele des Bologna-Prozesses sind allerdings nur teilweise erreicht worden.

Martin Wansleben | Dr. Martin Wansleben ist seit 2001 Hauptgeschäftsführer des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK), der Dachorganisation der Deutschen Industrie- und Handelskammern. Der promovierte Volkswirtschaftler studierte an den Universitäten Bonn, Köln und Tübingen.
spektrumdirekt: Woran fehlt es noch?

Wansleben: Ich vermisse ein wirklich konsequentes Vorgehen. Die Studienreform bietet die Chance, ein Umdenken bei den Hochschulen in Gang zu setzen und Studienstrukturen zu verbessern. Teilweise ist das auch geschehen, aber Bologna-Reform bedeutet leider noch zu oft: alte Strukturen in neuer Verpackung.

spektrumdirekt: Wo sehen Sie ganz konkrete Versäumnisse?

Wansleben: Die Möglichkeit, neue Studienkonzepte zu integrieren und veraltete Lernstrukturen aufzulösen, wurde nicht konsequent genutzt. Was wir brauchen, sind mehr innovative Lehrkonzepte. Das ist kein Wunschdenken, sondern funktioniert auch in der Praxis – auch heute schon, wie einige wenige herausragende Hochschullehrer zeigen, die zu Recht mit zahlreichen Lehrpreisen gewürdigt werden. Nur muss hier noch deutlich mehr unternommen werden. Wir fordern deshalb eine neue Lehrkultur an den Hochschulen. Statt passiver Belehrung sollte aktives Lernen angeregt werden in einem forschungs- und praxisbezogenen Umfeld.

spektrumdirekt: Aber Professoren werden in den meisten Fällen anhand ihrer fachlichen Qualifikation ausgewählt. Nicht jedem liegt es, darüber hinaus auch noch in Rhetorik und Didaktik zu glänzen.

Wansleben: Zum einen müssen Hochschulkarrieren auch über den Weg herausragender Lehrleistungen möglich sein. Nicht nur Forschung allein darf Reputation verschaffen. Im Übrigen gilt: Wo es Defizite gibt, können sie behoben werden, beispielsweise durch eine konsequente Weiterbildung für die Lehrenden. Wer eine Lehrverpflichtung übernimmt, muss didaktische Kompetenzen nachweisen. Gleichzeitig bedarf es neuer Anreize für gute Lehre. Und wo die Lehre mangelhaft ist, muss institutionelle Unterstützung angeboten werden.

"Die Verkürzung der Studiendauer darf nicht zu Lasten von Praxisphasen gehen."

spektrumdirekt: Viele Studierende in den neuen Bachelor- und Master-Studiengängen beklagen sich über zu knapp bemessene Zeit. Um alle Inhalte zu vermitteln, greifen die meisten Unis zu einem rigiden und stark verschulten Stundenplan.

Wansleben: Die Regelstudienzeit und der Aufbau des Studiums sollen an den jeweiligen Studienzielen ausgerichtet werden. Nicht immer muss der Bachelor sechs Semester dauern. Wo mehr Inhalte zur Vermittlung anstehen, sind auch sieben oder acht Semester möglich. Das zeigen nicht zuletzt Vergleiche mit unseren europäischen Nachbarn. Mit dem Bologna-Prozess sollte ja auch die Studiendauer verkürzt werden. Das begrüßen wir. Was uns allerdings Sorgen macht, ist, wenn diese Verkürzung einseitig zu Lasten von Praxisphasen oder der Vermittlung von Schlüsselkompetenzen geht.

spektrumdirekt: Gerade diesen vermeintlich höheren Praxisbezug des Bachelor-/Master-Systems führen ja Befürworter des Bologna-Prozesses als Vorteil gegenüber den klassischen Abschlüssen an. Zu Recht?

Wansleben: Auch hier bleiben Chancen ungenutzt. Wenn wir unsere Mitgliedsunternehmen befragen, welche Qualifikationen sie bei Hochschulabsolventen am meisten schätzen, dann heißt es: Sie müssen ihr Fachwissen in der Praxis anwenden können. Gerade hier sehen die Unternehmen aber oft große Defizite. Studieren muss deshalb mehr sein, als das „Pauken“ von Fakten. Daher gehören in jedes Studium Praxisphasen. Auch aus der Wirtschaft kommt die Forderung nach Mentoring-Programmen, bei denen die Studierenden in einen Dialog mit den Unternehmen treten.

spektrumdirekt: Die wesentliche Motivation hinter der Bologna-Reform besteht darin, die Bedingungen für einen internationalen Austausch zu erleichtern. Sehen Sie dieses Vorhaben als geglückt an?

Wansleben: Bedingt. Zum einen lassen die oft überfrachteten und unflexiblen Lehrpläne wenig Freiraum für internationale Erfahrungen. Zum anderen scheitern viele Studierende immer noch daran, sich ihre zuvor erbrachten Leistungen an einer anderen Uni anrechnen zu lassen. Universitäten und Fachhochschulen müssen gleichwertige Studienleistungen anerkennen. Die Kriterien dafür müssen europaweit transparent und klar sein. Nur so können wir die interkulturellen und sprachlichen Chancen nutzen, die ein paneuropäisches Studium bietet.

spektrumdirekt: Welche weiteren Entwicklungen halten Sie aus Sicht der Wirtschaft für notwendig?

"Notwendig sind berufsbegleitende Studiengänge"

Wansleben: Wir dürfen nicht vergessen, dass wir in Deutschland ein qualitativ hochwertiges Aus- und Weiterbildungssystem haben. Allein aus Gründen der demografischen Entwicklung werden wir es uns nicht länger leisten können, auf das Fachwissen und die Kompetenzen der Absolventen aus diesen Programmen zu verzichten.

spektrumdirekt: Was heißt das für die Unis und FHs?

Wansleben: Die Hochschulen müssen sich stärker auf Studienbewerber mit Berufserfahrung einstellen. Notwendig sind deshalb vor allem Studiengänge, die berufsbegleitend studiert werden können und die sich in ihrem Aufbau an unterschiedliche Lebenssituationen anpassen lassen. Auch Berufstätige mit akademischem Hintergrund, die sich noch wissenschaftlich weiterbilden wollen, können von solchen Angeboten profitieren.

spektrumdirekt: Was erwartet der DIHK von den Universitäten und in welcher Form wollen Sie Ihrerseits einen Beitrag leisten?

Wansleben: Damit die Studienreform insgesamt ein Erfolg wird, müssen Lehrende, Studierende und die Unternehmen zusammenarbeiten. Wir fordern von den Hochschulen, dass sie sich für neue Ideen, neue Studierende und für Kooperationen mit den Unternehmen öffnen.
Bologna

10 Jahre Bologna

Auf den Seiten der SciLogs findet ab dem 15.06.2009 eine Woche lang ein Bloggewitter zum Thema Bologna-Reform statt. Neben den Bloggern der SciLogs ziehen renommierte Gastautoren Bilanz und kommentieren.

Mehr Informationen finden Sie unter:
www.scilogs.de/bologna
Im Gegenzug müssen sich auch die Unternehmen für eine qualifizierte Weiterbildung der Bachelor-Absolventen mitverantwortlich fühlen. Vor allem aber heißt es, Vertrauen in die Bachelor-Abschlüsse zu setzen.

spektrumdirekt: Viele Studierende treibt die Angst um, dass sie mit ihrem Bachelor oder Master gegenüber Konkurrenten mit Diplom zurückstecken müssen. Freuen Sie sich auf die neuen Bewerber?

Wansleben: Seit Ende 2008 veranstalten die Industrie- und Handelskammern gemeinsam mit der Hochschulrektorenkonferenz eine "Bachelor/Master-Roadshow" quer durch Deutschland. Damit wollen wir den Unternehmen die Vorteile der neuen Studiengänge näher bringen. Die Erfahrungen sind durchaus positiv: Viele Unternehmen haben bereits signalisiert, dass ihnen die Bachelor-Absolventen willkommen sind.

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