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»Bolsonaro-Effekt«: Für Brasiliens Indigene geht der Kampf wieder los

Gewalt, Hetze, Entrechtung: Unter Bolsonaro sehen sich Brasiliens Ureinwohner in vergangene Zeiten zurückversetzt. In Brasília werden heute Tausende zur Großdemo erwartet.
Schon 2018 demonstrierten Indigene für ihre Rechte in Brasilia

Schon während des Wahlkampfs teilte Jair Bolsonaro heftig aus gegen die Ureinwohner Brasiliens. Sie riechen schlecht und sprechen nicht unsere Sprache, »warum sollten wir sie Reservaten halten, als seien sie Tiere im Zoo?«. Neben Beleidigungen und Hetze geht es dem Präsidenten von Brasilien vor allem um eins: um Landrechte. Schon seit Langem sind Indianerschutzgebiete dem Agrobusiness ein Dorn im Auge. So war es Bolsonaros Wahlkampfversprechen, dass es unter seiner Präsidentschaft nicht einen Millimeter mehr Land für Indianer geben würde.

War das nur überhitzte Wahlkampfrhetorik? Offenbar nicht. Alles deutet darauf hin, dass Bolsonaro seine Versprechen einhalten wird. Einen Tag nach seiner Amtsübernahme, am 2. Januar, twitterte der neu ernannte Präsident: »Mehr als 15 Prozent des Staatsgebiets ist als Land der Indigenen und Quilombos ausgewiesen. Dort leben weniger als eine Million Personen, die von NGOs ausgebeutet und manipuliert werden. Lasst uns gemeinsam diese Bürger integrieren und alle Brasilianer wertschätzen.«

Doch auf diese Art der Wertschätzung ihres Präsidenten wollen die Indigenen offenbar lieber verzichten. Für eine Großdemonstration und die Belagerung des Kongresses von Brasília werden aktuell rund 5000 Teilnehmer erwartet. »Acampamento Terra Livre« läuft vom 24. bis zum 26. April und soll im In- und Ausland auf die indianerfeindliche Politik der Regierung Bolsonaros aufmerksam machen.

Bauernopfer FUNAI

Dessen Politik zielt ganz klar auf die Schwächung und Demontage der FUNAI, der nationalen Indianerschutzbehörde mit Sitz in Brasília. Zu deren Hauptaufgaben und Kompetenzen gehörte bisher, die Rechte der Indigenen zu vertreten sowie deren Landgebiete zu identifizieren und deren Grenzen offiziell festzulegen. Das Vorantreiben dieser so genannten Demarkation ist in der Verfassung von 1988 festgeschrieben. Doch genau hier legte Bolsonaro ohne Zögern als Erstes die Axt an: Unterstand die FUNAI bisher dem Justizministerium, so ordnet er sie in einer vorläufigen Maßnahme dem Frauen-, Familien- und Menschenrechtsministerium zu. »Die Übertragung an das Ministerium von Damares Regina Alves, einer evangelikalen Pastorin, bedeutet einen klaren Prestigeverlust der FUNAI und der gesamten Indianerpolitik«, sagt Peter Schröder, Ethnologe und Professor an der Universität von Pernambuco: »Und das hat nicht erst mit Bolsonaro angefangen. Es begann ganz leicht unter Lula da Silva, setzte sich ziemlich deutlich unter Dilma Rousseff fort und dann vor allem unter Michel Temer, der am 12. Mai 2016 die Regierungsgeschäfte als Vizepräsident übernommen hatte. Mit dem Zusammenlegen der Ministerien unter einer evangelikalen Pastorin versucht man im Grunde die ›bancada evangélica‹, also die einflussreiche parlamentarische Front evangelikaler Politiker im Nationalkongress, für sich zu gewinnen, und dabei ist die FUNAI ein Bauernopfer«, so Schröder.

Ebenso verfuhr Bolsonaro mit dem Nationalen Rat für indigene Politik (Conselho Nacional de Política Indigenista, CNPI), einem beratenden Organ, das von den indigenen Völkern rechtmäßig gewählt wurde und das bis dato verantwortlich war für die Vorbereitung, Begleitung und Umsetzung der öffentlichen Politik in indigenen Gemeinschaften.

Flächenfraß und Entwaldung | Die wirtschaftlich ungenutzten Indianergebiete wecken die Begehrlichkeiten der Holzindustrie und Viehwirtschaft.

Doch damit nicht genug: Die Hauptaufgabe der FUNAI, die rechtliche Vertretung der Indigenen in Fragen der Landvermessung, schlug der Präsident ausgerechnet dem Agrarministerium zu. Damit macht er den Wolf zum Schäfer. Der neue Sondersekretär für Bodenangelegenheiten, Luiz Nabhan Garcia, kündigte umgehend eine Überprüfung der Demarkation von indigenen und Quilombo-Gebieten an. Nabhan ist für seine Verbindungen zu paramilitärischen Siedlern zum Schutz der Latifundien bekannt. »Wir nennen diese Leute ja häufig ›ruralistas‹«, erklärt Schröder, »aber das ist eine recht ungenaue Bezeichnung, weil alle Leute, die von der Landwirtschaft leben, irgendwie ›ruralistas‹ sind. Hier sitzen die Vertreter der Großgrundbesitzer. Die parteiübergreifende Frente Parlamentar Agropecuario (FPA) ist eine der stärksten Kräfte in der größten Volkswirtschaft Lateinamerikas. Und obwohl nicht alle Sektoren der Agrarlobby auf der gleichen Linie liegen, wenn es um die Indianergebiete geht, so wenden sich ihre politischen Anführer doch sehr klar gegen weitere Demarkationen.«

Die ersten Maßnahmen Bolsonaros kommen also einer Zerschlagung der Kompetenzen der FUNAI gleich und könnten ihr Todesurteil sein. »Die FUNAI direkt durch Dekret abzuschaffen, dazu hat die Regierung nicht den Mut gehabt«, kommentiert Schröder. »Das hätte ja auch international ziemlich Aufsehen erregt und würde womöglich als ein sehr, sehr deutlicher, feindlicher Akt gegen die Indigenen interpretiert; stattdessen legt man die FUNAI ganz trocken und lässt sie allmählich vor sich hin sterben.«

Demarkation ist keine Gefälligkeit

Der Streit um Land ist in Brasilien ein Dauerbrenner. Zwar hat die Verfassung von 1988 mit der Demarkation von Land für Indigene und Quilombolas (die traditionellen afroamerikanischen Gemeinden) der ungebremsten privaten Aneignung von Land einen Riegel vorgeschoben. Dass die Begehrlichkeiten des Agrobusiness in all den Jahren weiterwuchsen, konnte diese Maßnahme nicht verhindern. Bolsonaro versprach sogar die Demarkationen rückgängig zu machen. Doch das erscheint Schröder kaum durchführbar: »Dafür müsste er verfassungswidrig handeln und würde Schwierigkeiten mit bestimmten Sektoren der Justiz bekommen. Denn im Artikel 231 der Verfassung von 1988 ist das Recht der indigenen Völker verankert, sich zu organisieren, ihre Kultur zu pflegen und ihr angestammtes Land zu besitzen. Der brasilianische Staat ist daher zur Anerkennung ihrer ursprünglichen Territorien verpflichtet.«

»Demarkation ist keine Gefälligkeit«, fasst es Joênia Wapichana gegenüber »BBC News Brasil« zusammen. Wapichana ist die erste indigene Anwältin Brasiliens. Im Dezember 2018 erhielt sie den Menschenrechtspreis der Vereinten Nationen, seit Oktober 2018 sitzt sie als erste gewählte indigene Frau im brasilianischen Parlament.

Einen Namen hatte sich Wapichana mit ihrem erfolgreichen Engagement im Prozess um die Demarkation von indigenem Land in Raposa Serra do Sol im Bundesstaat Roraima gemacht. Und sie ist bereit, Bolsonaro die Stirn zu bieten. Denn das Überleben der indigenen Völker hänge direkt von der Aufrechterhaltung der Schutzgebiete ab, die ihnen die notwendigen Ressourcen garantieren. »Wir sind die Ureinwohner dieses Landes«, sagt Wapichana, »und wir verlangen Respekt!«

Wiederauflage alter Diskurse

Besorgnis erregend ist auch Bolsonaros ständige Wiederholung des Begriffs der »Integration«, der in Brasilien einen ganz eigenen Beigeschmack hat. Denn eine erzwungene Integration der Indigenen per Gesetz war schon einmal geplant, und zwar gegen Ende der Militärdiktatur (1964-1985). Bolsonaros aggressive Wortwahl ist also eine klare Wiederauflage alter Diskurse und Ziele. Schröder fühlt sich an frühere Zeiten erinnert: »Es sieht wirklich so aus, als sei es der Plan der Regierung Bolsonaro, sie in Landarbeiter oder in eine abhängige Landbevölkerung zu verwandeln.« Diesen Plan prangert auch der Indigenenmissionsrat (CIMI) an und erinnert an die Menschen verachtende Ideologie der Militärs, die zur Ermordung von mindestens 8000 Indigenen durch staatliche und private Akteure geführt hatte. Bolsonaro hingegen hält mit seinen Sympathien für die Diktatur nicht hinter dem Berg: Gerade hat er den 31. März zum Gedenktag für den Militärputsch in den Kasernen Brasiliens erklärt.

Gezielte Aushebelung indigener Rechte

Ende März 2019 erfolgte der nächste Angriff auf die Rechte der Indigenen: Der Gesundheitsminister Luiz Henrique Mandetta kündigte an, das Sondersekretariat für indigene Gesundheit (SESAI) den Gemeinden unterzuordnen. Das seit 2010 etablierte indigene Gesundheitssystem, das eine spezifische und differenzierte, qualitativ hochwertige Grundversorgung der indigenen Bevölkerung vorsieht, versorgt derzeit rund 720 000 Personen in mehr als 5000 Dörfern. Dieses komplexe System indigener Gesundheitsversorgung den Gemeinden zu übertragen, die über kein spezialisiertes Personal verfügen, bedeutet nichts weniger als dessen Zerschlagung. Der Präsident führt für diese Maßnahme angebliche Missbräuche innerhalb der SESAI ins Feld. In diesem Fall wäre jedoch die korrekte Vorgehensweise, wie die Anwältin Wapichana anmerkt, die Vorfälle durch die zuständigen Organe zu untersuchen und strafrechtlich zu verfolgen. Die Aufdeckung von Mängeln sollte dazu dienen, den Service zu verbessern. Eine Lähmung der Gesundheitsversorgung aber könnte schlimme Folgen haben.

Der Bolsonaro-Effekt

Schon wenige Monate nach der Regierungsübernahme durch Bolsonaro ist bereits ein beträchtlicher Verlust der institutionellen Autonomie in der Indianerpolitik zu verzeichnen. Historische Errungenschaften auf dem Gebiet des Umwelt- und Indigenenschutzes werden gezielt ausgehebelt.

Eigenes Land | Seit dem Jahr 1988 schreibt die brasilianische Verfassung dem Staat vor, die Gebiete der Ureinwohner fest- und unter Schutz zu stellen.

Dazu kommt ein vergifteter Diskurs: Mit seinen Hassreden heizt der brasilianische Präsident einen bereits brodelnden Kessel immer weiter an. Seit Jahresbeginn nehmen gewaltsame Übergriffe auf indigene Gemeinschaften und ihre Reservate zu.

In einem Brief an den Inspektor der Umweltbehörde Ibama im Bundesstaat Rondônia vom 14. Januar 2019 berichten die Uru-eu-wau-wau vom Eindringen weißer Siedler und der Abholzung »von 20 Kilometern« ihres Walds. Als die Indigenen die Eindringlinge vertrieben hätten, sei ihnen die Ermordung ihrer Kinder angedroht worden.

Auch George de Vasconcelos, Sprecher der Pankararu, berichtet von Übergriffen durch Siedler. »Am Tag der Wahl Bolsonaros wurde das indigene Land der Pankararu in der Gemeinde Jatobá in Pernambuco angegriffen.« Ein Gesundheitszentrum und eine Schule wurden niedergebrannt. »Hier hatten Invasoren jahrelang auf den Gebieten der Pankararu gehockt und mussten nach langem Kampf das Land verlassen«, erklärt Schröder. »Sie sollten Entschädigung bekommen, aber jetzt kamen sie zurück und haben Rache genommen.«

In Olivença im Bundesstaat Bahia planten Kleinbauern und Lokalpolitiker offenbar sogar mehrfachen Mord, um ihre Interessen durchzusetzen. Ende Januar berichtete Rosivaldo Ferreira da Silva, ein bekannter indigener Anführer der Tupinamba-Indianer, den Behörden von einem geplanten Attentat auf ihn und Mitglieder seiner Familie. Ein Informant habe ihm glaubwürdige Belege dafür geliefert, dass der Häuptling und seine Brüder und Nichten bei einem fingierten Anti-Drogen-Einsatz erschossen werden sollten. Hintergrund des Anschlags könnte Streit um das Territorium der Tupinamba sein. Die 47 000 Hektar ihres angestammten Landes wurden bereits vor zehn Jahren durch die FUNAI demarkiert, doch seit 2016 steht der offizielle Abschluss der Deklarationsverordnung durch das Justizministerium aus.

Übergriffe, Einschüchterungen und die Ermordungen indigener Führer haben zugenommen. Wie sehr, kann man beispielsweise in einem Schreiben indianischer Interessenvertreter an die Interamerikanische Menschenrechtskommission nachlesen. Es sind die Auswirkungen der Politik Bolsonaros.

Überall im Land hat sich ein Klima der Gewalt breitgemacht, und der Staat, der früher die Funktion eines Vermittlers zwischen den Interessen der Agrarlobby und den Indigenen ausfüllte, hat sich deutlich auf die Seite der Großgrundbesitzer geschlagen. Damit signalisiert er Straffreiheit für Übergriffe auf Indianer und öffnet damit indirekt ihr Land für die Ausbeutung von Holz, Bergbau und einem wachsenden Zustrom von Siedlern. Unter dem Motto »Bala, Boi, Bíblia« (Kugel, Vieh und Bibel) setzt sich in Brasilien eine autoritäre und rückwärtsgewandte Politik durch, die für liberalere Waffengesetze, eine ungehindert agierende Agroindustrie und evangelikale Kirchen steht. Die Ureinwohner wirken dabei wie ein letztes Bollwerk vor der eskalierenden Gewalt gegen Mensch und Natur. Ihre alternativen Lebensweisen und ihr Wald werden einem aggressiven und zunehmend ungehinderten Raubbau an Ressourcen geopfert, der letztendlich westlicher Nachfrage nach billigem Fleisch und Soja geschuldet ist.

Widerstand

»Ein ganz wichtiges Ziel«, sagt Schröder, sei für die Indigenen, sich im Nationalkongress Gehör zu verschaffen. »Sie wollen über die Medien auch die Zivilgesellschaft sensibilisieren, was aber gar nicht so einfach ist, weil auch in Brasilien die Medien unter Generalverdacht geraten sind, Fake News zu produzieren.«

Mit einem gewissen Fatalismus reagiert Joênia Wapichana: Als Indigene seien sie seit mehr als 500 Jahren gewöhnt, Widerstand zu leisten, um zu überleben, da seien die vier Jahre Bolsonaro eine vergleichsweise kurze Periode. Am 31. Januar 2019 gab es bereits eine große Demonstration in São Paulo, zu der sich etwa vier Millionen Menschen versammelt hatten, um gegen die Maßnahmen Bolsonaros zu protestieren. Sie forderten unter anderem, dass die FUNAI an das Justizministerium zurückkehrt. Auch über die sozialen Medien verbreiten sich die Aufrufe und Hilferufe international. Dabei mischen sich moderne und traditionelle Praktiken – Tänze und Beschwörungen auf der einen und politische Argumente, Protestbriefe und -aktionen auf der anderen Seite.

Mit ihren Mobilisierungen während einer ganzen Woche Ende März haben die Indigenen zumindest einen Rückzieher des Gesundheitsministers erreicht. Momentan wird das Sondersekretariat für Indigene Gesundheit aufrechterhalten. »Wir haben keine Garantie dafür, dass er sein Wort halten wird, denn er hat seine öffentliche Meinung immer wieder geändert«, so die indigene Aktivistin Sônia Guajajara. »Deshalb müssen wir wachsam bleiben, das wird ein Jahr des Kampfes. Wir müssen in dieser Konfrontation weiterhin standhaft bleiben.«

Noch besteht leise Hoffnung, dass die Generalstaatsanwaltschaft unparteilich handeln und der Nationalkongress die vorläufigen Maßnahmen rückgängig machen wird. Denn diese werden von Fachleuten als illegal bewertet, da sie ohne vorherige Konsultation oder Information der betroffenen indigenen und traditionellen Gemeinschaften festgelegt und durchgeführt wurden. Peter Schröder zieht das Fazit: »Die Zukunft sieht allerdings düster aus, was indigene Rechte anbelangt. Wir haben eine Regierung, die nicht mehr neutral ist in ihrer gesellschaftlichen Position. Sie hat sich ganz eindeutig gegen die Indigenen entschieden, macht daraus Politik und mobilisiert Emotionen. Und das ist wirklich etwas Perverses.«

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