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Bonusprogramme der Krankenkassen: Gesundheit vor allem für Gesunde

Bonusprogramme vom Kochkurs bis zur Vorsorgeuntersuchung sollen die Gesundheit fördern. Ob sie das tun, ist aber unklar. Oft erreichen sie vor allem die, die sie nicht brauchen.
Mehrere Personen auf einer Reihe von Crosstrainern.

Heute einen Antistresskurs besuchen, morgen das Hautkrebs-Screening wahrnehmen, übermorgen ab ins Fitnessstudio – viele Krankenkassen honorieren solch ein Gesundheitsverhalten mit Bonuspunkten. Den Versicherten werden mit den Vorsorgeprogrammen bis zu mehrere hundert Euro im Jahr oder auch Sachprämien in Aussicht gestellt. Denn: »Jeder ist für seine Gesundheit selbst verantwortlich«, so lautet die Parole in modernen Gesellschaften.

Der Gesetzgeber schreibt sogar vor, dass gesetzliche Krankenkassen Bonusprogramme anbieten sollten, um den Wettbewerb zu fördern. Laut einer Auswertung des Sachverständigenrats für Verbraucherfragen aus dem Jahr 2018 boten alle 45 befragten Krankenkassen Fleißsternchen für Vorsorgeuntersuchungen wie Krebsfrüherkennung oder Gesundheitschecks an. Je 91 Prozent der Kassen vergaben Bonuspunkte für Gesundheitskurse wie »Gesundes Kochen« oder »Rückenschule«, Mitgliedschaften in Sportverein oder Fitnessstudio oder auch für Impfungen. 18 Prozent der Versicherungen honorierten Normalgewicht, 16 Prozent Nichtraucherstatus und sieben Prozent Daten aus Fitness-Apps oder Wearables.

In seinem Gutachten äußerte der Sachverständigenrat auch Kritik an diesem Anreizsystem. Schließlich ist dessen Intention, dass es tatsächlich eine Gesundheitswirkung entfaltet. Wer es nutzt, sollte also auch seltener krank werden. Doch gemäß dem Gutachten des Sachverständigenrats gibt es nur »wenig klare Aussagen darüber, ob die Bonusprogramme wirklich den Gesundheitszustand verbessern«. Diese Kritik wurde nun kürzlich erneuert.

Kaum Belege für den Nutzen der Programme

Gerd Gigerenzer und sein Forscherteam vom Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung (MPIB) haben sich mit der Evidenz der angebotenen Programme beschäftigt und fällen ein vernichtendes Urteil: »Nur wenige der angebotenen Programme sind evidenzbasiert, also wirklich bewiesenermaßen gut für die Gesundheit«, so Gigerenzer. Beispiel: Krebsfrüherkennung. Dazu zählen etwa Screenings auf Brust-, Haut- oder Darmkrebs, die ab bestimmten Altersgrenzen oder auch bei Risikogruppen von den Kassen bezahlt werden. »In unseren Interviews mit deren Vertretern kannte jedoch kaum jemand die wissenschaftliche Evidenz dazu«, berichtet Gigerenzer.

Dabei sieht die Datenlage so aus: Die diversen Krebs-Screenings variieren in ihrem Nutzen-Risiko-Verhältnis, und es gibt keinen Beweis, dass diese die Sterblichkeit reduzieren. Das haben US-Fachleute im Jahr 2016 gezeigt. Neuere randomisierte kontrollierte Studien gibt es dazu nicht. Der Krebsinformationsdienst, angesiedelt beim Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ), sieht hingegen zumindest für Darm- und Gebärmutterkrebs einen sehr gut belegten Nutzen der Vorsorgeuntersuchungen.

»Nur wenige der angebotenen Programme sind evidenzbasiert, also wirklich bewiesenermaßen gut für die Gesundheit«Gerd Gigerenzer, Bildungsforscher

Gigerenzer will das so nicht unterschreiben. Zu einer guten Risikokommunikation gehörten alle Fakten auf den Tisch. Im Fall von Darmkrebs sieht es etwa so aus: Wenn 1000 Personen über zehn Jahre Stuhltests für Darmkrebsfrüherkennung machen, dann stirbt eine von 1000 Personen weniger an Darmtumoren. »Es wird jedoch oft nicht gesagt, dass dennoch kein Leben gerettet wird«, so Gigerenzer. »Denn die Gesamtzahl der Personen, die nach zehn Jahren noch am Leben sind, ändert sich nicht. Eine von den 1000 Personen in der Screening-Gruppe stirbt nämlich an etwas anderem, meist einem anderen Krebs.« Schließlich sei Krebs eine systemische Krankheit, die also nicht nur ein Organ befalle.

Auch Prävention birgt Risiken

Dazu kommt, dass Screenings für die Teilnehmer auch Risiken bergen. Sie können etwa unnötige Operationen nach sich ziehen, weil die Diagnose falsch positiv war. Ein Tumor kann auch schlicht übersehen werden. Eine Krebsdiagnose erhöht zudem deutlich die Gefahr eines Suizids in den ersten Wochen und Monaten danach. Schließlich ist ein Krebsbefund für viele Betroffene eine traumatische Erfahrung. Gemäß dem Krebsinformationsdienst sind die Untersuchungen auf Brust-, Haut- und Prostatakrebs wegen solcher Risiken umstritten.

Die so genannten Gesundheits-Check-ups, die Versicherte ab einem Alter von 35 Jahren alle drei Jahre gezahlt bekommen, helfen laut einem Übersichtsartikel der Cochrane Stiftung weder, Krankheiten wie Krebs oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen frühzeitig zu erkennen und ihnen vorzubeugen, noch verlängern sie die Lebenszeit. Auch diese Checks, bei denen Blut und Urin untersucht werden, sind keineswegs harmlos, da sie falsch positive Ergebnisse liefern können. Es gibt auch hier also keine Belege, dass der Nutzen größer ist als der Schaden. Dennoch werden diese Check-ups teilweise mit Slogans beworben wie: »Vorsorge kann Leben retten.«

Auch das Honorieren von Normalgewicht auf Grundlage des Body-Mass-Indexes (BMI) sei umstritten, schreibt das Team um Gigerenzer. Schließlich ist die Diskussion über die Schädlichkeit von zu viel Pfunden auf den Rippen seit Jahren Gegenstand wissenschaftlicher Kontroversen. Manche Fachleute wie Katherine Flegal von der amerikanischen Gesundheitsbehörde CDC sagen, dass leichtes Übergewicht zwischen 25 und 29,5 BMI-Punkten am gesündesten sei, während Walter Willett und Frank Hu von der Harvard University Normalgewicht, also einen BMI zwischen 18,5 und 24,9, auch als Idealgewicht ansehen. Klar belegt ist hingegen, dass Bewegungsprogramme der Gesundheit zuträglich sind. »Ein Abo beim Fitnessstudio ist jedoch kein Beleg dafür, dass jemand dort wirklich trainiert«, sagt Gigerenzer. Nur eine Mitgliedschaft mit Bonuspunkten zu prämieren, sei darum etwas kurzsichtig.

Sport ist Mord?

Zu den digitalen Angeboten, die Gesundheit über Apps und Wearables zu verbessern, gibt es bislang nur wenige Studien. Bonuspunkte kann etwa sammeln, wer per Fitnesstracker Schrittzahl, Herzfrequenz und Kalorienverbrauch erfasst und die Daten an seine Kasse übermittelt. Der Sachverständigenrat fragte in seinem Gutachten: »Haben die Krankenkassen wirklich Belege dafür, dass die mittels Fitnesstrackern erfassten Aktivitäten tatsächlich präventiv wirken?« Aus aktuellen Studien gibt es zumindest Hinweise auf positive Effekte in Sachen Bewegung. So zeigte ein Schweizer Review kürzlich: Die Nutzung von Gesundheits-Apps förderte das Bewegungsverhalten in kleinem bis mittlerem Maßstab. Auch machten die Probanden über einen längeren Zeitraum Sport, allerdings verringerte sich das Ausmaß mit der Zeit wieder.

Die Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen weist jedoch in einem Marktcheck aus 2017 auch hier auf Risiken hin: »Falsch angewandte Übungen, übermäßige Fitness oder nicht zielführende Diäten können ebenfalls mehr Schaden als Nutzen anrichten.« Das Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung warnte zudem im Jahr 2016 vor einer drohenden Datenabhängigkeit. Hierdurch ginge die subjektive Körperwahrnehmung verloren. Im Extremfall droht durch das Bio-Hacking eine Messsucht. Zudem gibt es bei der digitalen Selbstoptimierung Diskussionen um Datenschutz, weil Schrittzahlen oder Herzfrequenzen oft kaum anonymisiert versandt werden.

Klar belegt ist, dass Nichtrauchen oder ein geringer Alkoholkonsum gesundheitsförderlich ist. »Doch von 45 Kassen berücksichtigen nur acht das Nichtrauchen«, sagt Gigerenzer. Und wenn etwa Nichtrauchen honoriert wurde, dann reichte es in der Regel, wenn der Versicherte ein entsprechendes Kreuzchen bei dieser Frage machte. Zu weiteren Angeboten wie Kochkursen zur gesunden Ernährung oder auch Stressmanagement gibt es keine verlässlichen Ergebnisse, ob sie die Versicherten wirklich gegen Volksleiden wie starkes Übergewicht, Herzkrankheiten oder Depressionen feien.

Die so gestalteten Bonusprogramme gehen nun allerdings komplett an der Zielgruppe vorbei: Denn es werden kaum diejenigen erreicht, die wirklich einen Nutzen von gesundheitsförderlichen Maßnahmen wie mehr Bewegung oder weniger Rauchen haben, und das sind vor allem Geringverdiener, Ältere und Menschen mit chronischen Krankheiten.

»Gesundheit als Aktivleistung und Krankheit als passive Fehlleistung zu konzeptionieren, dient vor allem den gehobenen Sozialschichten«Friedrich Schorb, Sozialwissenschaftler

Dagegen profitieren vor allem Gesunde aus der Mittel- und Oberschicht, die sowieso schon viel Sport treiben, sich gesund ernähren oder nicht rauchen. Sie hätten bestimmte Präventionsmaßnahmen auch ohne Punktesystem wahrgenommen. Dies hat etwa eine Auswertung von Susanne Jordan vom Robert Koch-Institut im Jahr 2019 gezeigt. Menschen aus mittleren und oberen Bildungsschichten nutzten etwa um den Faktor 1,3 bis 1,5 häufiger die Bonusprogramme als Menschen aus prekären Verhältnissen.

Die Bonusprogramme fördern Ungleichheit

Warum ist das so? Chronisch Kranke können beispielsweise nicht an Fitnessprogrammen teilnehmen, finanziell schlecht gestellte Menschen können sich das Fitnessabo oder die Smartwatch möglicherweise nicht leisten. »Der »freiwillige« Besuch von Präventionsprogrammen oder Kursen zur Gesundheitsförderung verweist bereits auf einen bildungsgewohnten Lebensstil, der nicht für alle gesellschaftlichen Schichten zugänglich ist, weil hier spezifische symbolische Barrieren eingezogen sind«, schreibt Friedrich Schorb, Soziologe an der Universität Bremen. Denn: Der Besuch in einer Muckibude verlangt etwa oft eine spezielle Kleidung, für das Yogastudio braucht man diverses Zubehör.

Wer übergewichtig ist, schämt sich möglicherweise, öffentlich Sport zu treiben. Auch das Bundesversicherungsamt bemängelte in einem Gutachten 2018, dass Bonusprogramme häufig in der Mitgliederwerbung unzulässig eingesetzt würden. Dagegen würde das Ziel, gesundheitsbewusstes Verhalten zu stärken, nicht erfüllt. Gigerenzer sagt: »Es geht den Krankenkassen nicht immer in erster Linie um die Förderung der Gesundheit, sondern um Maßnahmen zur Kundenbindung und Neukundenwerbung.«

Ein weiteres Problem: Bonusprogramme erhöhen gemeinsam mit anderen gesellschaftlichen Trends den Druck auf Menschen, sich gesundheitsfördernd zu verhalten. Das Individuum muss sich um seine Gesundheit kümmern, wer krank wird, ist selbst schuld. Das mündet in einen regelrechten Gesundheitsterror und diskriminiert untere soziale Schichten. »Gesundheit als Aktivleistung und Krankheit als passive Fehlleistung zu konzipieren, dient vor allem den gehobenen Sozialschichten, die in der Regel unter gesünderen Bedingungen leben und darum über einen guten Gesundheitszustand verfügen«, schreibt Schorb.

Dabei weiß man schon lange, dass Verhältnisprävention, also beispielsweise grünere Städte, um zu mehr Bewegung zu animieren, oder Schulen mit Wasserspendern anstatt Softdrink-Automaten auszustatten, vielversprechender ist. »Allerdings beziehen sich die meisten Maßnahmen der Gesundheitspolitik eben nicht auf die Verhältnisebene und strukturelle Problematiken«, so Schorb. Und dies verstärkt soziale Ungleichheit.

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