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Epidemiologie: Bote des Bösen

Bald hundert Jahre liegt die verheerende Influenza-Pandemie des Winters 1918/1919 zurück, die Millionen an Todesopfern forderte. Sie ist aber längst noch nicht ad acta gelegt: Grippeviren sind ausgesprochen wandelbare Gesellen – jederzeit kann wieder eine ähnlich aggressive Variante entstehen wie damals. Deswegen versuchen Wissenschaftler, die Entstehungsgeschichte des Übeltäters von 1918 zu ergründen.
Es ist ein Killer, ein skrupelloser Massenmörder: In weniger als zwei Jahren tötete der Erreger der "Spanischen Grippe" von 1918, ein Influenza-Virus vom Typ A/H1N1, weltweit mehr als 40 Millionen Menschen. Seine Wirkung ist bekannt – seine Herkunft hingegen liegt nach wie vor im Dunkeln. Es könnte von einem Vogelgrippevirus abstammen, möglicherweise hat es seine außerordentliche Virulenz aber auf dem Umweg über einen anderen tierischen Wirt erworben – soviel kann man bisher aus Analysen der Virusgene und der Oberflächenproteine schließen. Doch wie und wo ihm das gelang und wo die verheerende Grippe-Pandemie von 1918 ihren Startpunkt hatte, von dem aus sie sich über den ganzen Globus ausbreitete, das kann niemand mit Sicherheit sagen.

Vermutlich begann das Übel als milde Grippewelle im Frühjahr 1918 in einer isolierten ländlichen Region in Kansas und nahm von dort aus seinen Lauf – so zumindest lautet die allgemein gültige Auffassung seiner Entstehung. Sicher ist dies allerdings nicht. Es wäre auch denkbar, dass sich das aggressive Virus aus einer im Frühjahr 1918 grassierenden, milder verlaufenden Grippe entwickelte.

Donald Olson von der Columbia Universität in New York ging nun mit Kollegen vom Nationalen Institut für Allergie und Infektionskrankheiten in Bethesda der Sache nach und durchforstete historische epidemiologische Daten, um einen genaueren Einblick in den Verlauf der spanischen Grippe zu erlangen.

Grippeepidemien zeigen eine bestimmte Altersverteilung der Opfer: Pandemien fallen auffällig viele junge Menschen zum Opfer, während in den Zeiträumen zwischen Pandemien in erster Linie alte Personen der Influenza erliegen. Die Wissenschaftler verfolgten nun anhand der historischen Daten die altersspezifische Verteilung der Grippeopfer in New York in den Jahren 1911 bis 1921. Dazu vertieften sie sich in die Todesstatistiken der New Yorker Gesundheitsbehörde und analysierten die Todesfälle durch Lungenentzündung und Grippe.

Zunächst entsprach die Verteilung der Todesfälle der Erwartung: In den Jahren 1915 bis 1917 starben vor allem Kinder und alte Menschen an den Folgen von Influenza-Infektionen, im Pandemiejahr 1918 jedoch vor allem kleine Kinder und junge Erwachsene, Alte hingegen blieben zumeist verschont. Als die Forscher die Daten nach dem zeitlichen Verlauf aufdröselten, gab es jedoch eine Überraschung: Die erste Grippewelle im März/April 1918 zeigte eine ganz ähnliche Altersverteilung wie die verheerende Pandemie im Winter 1918/1919 und traf besonders hart junge Erwachsene.

Offenbar gab es bereits im Frühjahr 1918 bereits eine erste Influenza-Welle, die alles andere als mild war. Möglicherweise ähnelte das Virus dieser Frühjahrsgrippe dem der Spanischen Grippe des darauffolgenden Winters. Da es alte Menschen verschonte, wäre es denkbar, dass es sich aus einem ähnlichen Virustyp entwickelt hatte, das ein halbes Jahrhundert früher wütete – die Alten hätten in diesem Fall als Einzige noch Antikörper gegen den Erreger.

Diese Ergebnisse stellen die Ansicht in Frage, die Spanische Grippe sei in den USA entstanden. Sie lassen es durchaus für möglich erscheinen, dass der Erreger über Truppenbewegungen im ersten Weltkrieg aus Europa eingeschleppt wurde.

Unabhängig davon, wo die Spanische Grippe nun tatsächlich entstand, raten die Wissenschaftler zu Wachsamkeit, sollte wieder irgendwo auf der Welt bei einer Influenza-Epidemie eine vergleichbare Verschiebung der Todesfälle wie im Frühjahr 1918 zu beobachten sein: Sie könnte der Vorbote einer großen Grippe-Pandemie sein. Dies gilt umso mehr, da Experten es nicht ausschließen, dass die aktuell in Südostasien grassierenden aggressiven Vogelgrippeviren die Fähigkeit erlangen könnten, sich zu einem gefährlichen humanpathogenen Virus zu entwickeln.

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