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Brasilien: Der Highway der Zerstörung

Die Dürre lässt Brasiliens Wasserwege versiegen, daher soll es nun eine Schnellstraße richten. Doch die vermeintlich harmlose Verkehrsanbindung könnte Amazonien endgültig kippen lassen.
Rauch steigt von einem Waldbrand in einem dichten Waldgebiet auf, das sich entlang einer unbefestigten Straße erstreckt. Die Flammen sind teilweise sichtbar, während der Rauch in den Himmel zieht. Im Hintergrund erstreckt sich der Wald bis zum Horizont. Das Bild vermittelt die Dringlichkeit und das Ausmaß der Umweltzerstörung durch Brände.
Noch ist die BR-319 eine einfache Piste durch den Regenwald. Doch je besser sie ausgebaut ist, desto mehr illegale Aktivitäten werden entlang ihrer Ränder stattfinden, fürchten Fachleute.

Die BR-319 ist eine Geisterstraße. Ausgebrannte Wracks liegen am Rand der knapp 900 Kilometer langen Strecke. Besonders auf dem rund 400 Kilometer langen mittleren Abschnitt, wo es schnurgerade durch den Regenwald geht, kommt nur ab und an mal ein Auto vorbei. Regnet es, bleiben Laster und Busse im roten Schlamm der Amazonaserde stecken.

All das soll sich jetzt ändern. Der brasilianische Präsident Lula da Silva will aus der Piste einen asphaltierten Highway machen. Damit der Verkehr rollt zwischen den Großstädten Manaus im Norden und Porto Velho im Süden.

Dass der Verkehr dies nicht tat, als der Präsident am 10. September 2024 diese Ankündigung machte, war Zeichen der tiefen Klimakrise, in der das Amazonasgebiet steckt: Normalerweise verläuft der Warenverkehr zwischen Manaus und Porto Velho über den Rio Madeira, den größten Zufluss des Amazonas. Ende 2024 war der Pegel allerdings auf einen Stand gesunken, der alle Schifffahrt zum Erliegen brachte. Schuld war die extreme Dürre im Land. Waldbrände an 3500 Stellen untermalten Lulas Ankündigung mit einer apokalyptisch anmutenden Kulisse.

Waldbrände im ganzen Land | Die außergewöhnliche Dürre, die das Land heimsuchte, hat zu zahlreichen Bränden in Brasilien geführt. Einer aktuellen Auswertung zufolge brannte im Jahr 2024 ein Gebiet von der Größe Italiens ab.

Über jedem Kilometer der rotbraunen Schotterpiste schwebt der Geist der Vergangenheit. Ihr Bau war noch 1973 unter der brasilianischen Militärdiktatur begonnen worden. Damals trieb man die Öffnung des Amazonasgebiets unter dem Slogan »Amazônia: Ein Land ohne Leute für Leute ohne Land« voran. Eine Million Siedler sollten billig 100 Hektar Land erstehen können, um es abzuholzen. Entlang der BR-319 entstanden bald Straßendörfer im Stil des amerikanischen Wilden Westens. Doch Ende der 1980er Jahre wurde das Projekt abgebrochen und vom Regenwald überwuchert.

Dass die Strecke nun in einen dauerhaft befahrbaren Highway verwandelt werden soll, hat zu einem Aufschrei unter Natur- und Umweltschützern geführt. Denn welche Folgen das haben kann, zeigte sich an einem kurzen Intermezzo im Jahr 2020: Die damalige Regierung Bolsonaro kündigte an, einen Teil der Straße asphaltieren zu wollen. Prompt stieg die Abholzung innerhalb eines 50 Kilometer breiten Streifens beiderseits der Straße sprunghaft in die Höhe. Zwischen 2020 und 2022 war die Entwaldung stellenweise 2,5-mal höher als im Durchschnitt des restlichen brasilianischen Amazonasgebiets. Mit dem Amtsantritt von Lula da Silva, der Maßnahmen zur Bekämpfung der Umweltkriminalität wieder aufgenommen hatte, beruhigte sich diese Entwicklung 2023 leicht.

Doch nun der U-Turn. »Wir sind uns bewusst, dass die Schnellstraße, als der Fluss noch schiffbar war und genügend Wasser führte, nicht die Bedeutung hatte, die sie jetzt hat«, sagte Lula bei seinem Besuch einer indigenen Gemeinde in Manaquiri im Bundesstaat Amazonas. Noch innerhalb seiner Amtszeit, also bis Anfang 2027, wolle er den Bau der Bundesstraße zu Ende führen. »Wir können nicht zwei Hauptstädte isolieren.«

Zwei Hauptstädte, das ist zum einen die 1,8-Millionen-Metropole Manaus, die Hauptstadt des Bundesstaats Amazonas, zum anderen Porto Velho am Südende der BR-319, die Hauptstadt von Rondônia und Heimat von rund einer halben Million Menschen.

Dass Lula versprach, dabei »äußerst verantwortungsvoll« vorzugehen, hat die Kritiker in der Wissenschaft und den indigenen Communitys bislang nicht beruhigt.

Die Arterien der Zerstörung

Was der Bau einer Fernstraße im Herzen von Amazonas bedeutet, weiß in Brasilien jeder: Er fördert wirtschaftliche Aktivitäten. Nur sind diese Aktivitäten in Amazonien fast ausnahmslos kriminell. Eine Studie von Imazon – einer NGO, die mit Hilfe von Satellitenbildern die Abholzung und andere Formen des menschlichen Einflusses überwacht – hatte 2022 gezeigt, wie diese Art von Straßen illegalen Holzeinschlag, Bergbau, Landraub und das Eindringen des organisierten Verbrechens begünstigen.

Diese Straßen seien Arterien der Zerstörung, sagt Koautor Carlos Souza Jr., der das Programm des Instituts zur Überwachung des Amazonas koordiniert. »Die Straßen werden angelegt, um Holz zu gewinnen, und sie verästeln sich von der Hauptstrecke ab, wo sich die Lastwagen und die schweren Maschinen befinden.« Das Muster wird als »Fischgräteneffekt« bezeichnet. Es degradiert den Wald und lässt ihn am Ende brennen. Der Prozess setzt große Mengen der Treibhausgase Kohlendioxid und Methan frei.

Dieser Effekt wurde bereits entlang der Schnellstraße BR-163 beobachtet, die Mato Grosso mit Pará verbindet. Die beiden Bundesstaaten führen nach Angaben des Nationalen Instituts für Weltraumforschung (INPE) die Rangliste der Entwaldung im Amazonasgebiet an.

Quadratkilometerweise Kahlschlag | An ihrem südlichen Ende unweit der Ortschaft Humaitá ist die BR-319 bereits asphaltiert. Hier zeigt sich das Ausmaß an Zerstörung, das eine gute Verkehrsanbindung für den Wald bedeutet.

Waldgebiete von entscheidender Bedeutung

Von einer »großen Bedrohung für die Region« spricht denn auch einer der bekanntesten Wissenschaftler im brasilianischen Amazonasgebiet, der Biologe Philip M. Fearnside. Er ist leitender Forscher am Nationalen Institut für Amazonasforschung (INPA) in Manaus, wo er seit 1978 lebt. 2007 wurde er mit dem Friedenspreis des Weltklimarats ausgezeichnet.

Mit der Öffnung der BR-319 für den Schwerlastverkehr werde sich der so genannte Abholzungsbogen weiter voranschieben. So wird in Brasilien die vorderste Front des Forst- und Agribusiness bezeichnet. Er reicht vom bereits stark degradierten südlichen Teil des Amazonasgebiets bis an dessen östlichen Rand. Je weiter westlich davon ein Gebiet liegt, desto unberührter ist es in der Regel noch.

Nun aber reicht der Bogen an Waldgebiete, die laut Fearnside von entscheidender Bedeutung für die Ökosystemdienstleistungen sind, von denen ganz Brasilien profitiert. Auch die Lebensweise der indigenen und lokalen Bevölkerung hänge maßgeblich davon ab, dass diese Waldgebiete intakt blieben.

Verfolgt man die Debatte in Brasilien, kann man den Eindruck gewinnen, dass die schwerwiegendsten Folgen für die Umwelt nur ihre unmittelbaren Säume beträfen. Fachleute warnen jedoch davor, dass eine womöglich noch größere Gefahr in dem lauert, was weiter links und rechts davon geschieht. Wenn Straßen Arterien der Zerstörung sind, dann ist die BR-319 die Hauptschlagader. Doch erst das Netz von größeren oder kleineren Kapillaren trägt die Zerstörung in den Wald.

Hinter dem Ausbau stecken mächtige Interessen

Eine dieser Kapillaren ist die geplante Nebenstraße AM-366. Sie würde nahe bei Manaus abzweigen und die Region TransPurus, den ökologisch wertvollen westlichen Teil von Amazonas, erschließen – ein riesiges Gebiet von etwa 740 000 Quadratkilometern.

In dieser TransPurus-Region ist ein gigantisches Gas- und Ölprojekt geplant. Es würde am stärksten vom Ausbau der BR-319 profitieren. Das Areal im Sedimentbecken des Solimões, wie der Amazonas dort heißt, umfasst mit mehr als 40 000 Quadratkilometern knapp sechs Prozent der Fläche der gesamten Region und ist in 16 Lizenzblöcke aufgeteilt. »Die ersten Bohrblöcke wurden von dem russischen Ölgiganten Rosneft gekauft«, sagt Fearnside.

Sollte die große BR-319 erst einmal ausgebaut sein, dann steige das Risiko für das westliche Amazonasgebiet beträchtlich. Denn die Genehmigungsverfahren für die Nebenstraßen lägen bei den Bundesstaaten. Diese Verfahren seien »weit weniger streng und unterliegen eher der politischen Einflussnahme«.

Besonders wenn eine Firma wie Rosneft an die Tür klopft. »Ein so mächtiges Unternehmen wäre wahrscheinlich in der Lage, den Gouverneur von Amazonas zu überzeugen, die AM-366 zu bauen«, sagt der Biologe.

»Stoppt die Zerstörung« | Das Wandgemälde in São Paulo hat der Künstler Mundano mit Farben aus der Asche von Waldbränden und dem Lehm ausgetrockneter Flussbetten angefertigt. Es zeigt die indigene Aktivistin Alessandra Korap.

Folgen für den gesamten Planeten

Offiziell befindet sich das Bohrprojekt noch in der Prüfung. Sein weiteres Schicksal ist allerdings eng mit dem der BR-319 verknüpft, weil sie den Zugang zu Ölexplorationsgebieten im westlichen Amazonas wesentlich erleichtert. Dadurch könnte ihr Ausbau den Planeten noch weiter an den Rand des Klimakollapses bringen, warnt der Ökologe Lucas Ferrante von der Universität São Paulo (USP) und der Bundesuniversität Manaus (UFAM). Entwaldung und Erdölförderung würden einen enormen Verlust von Kohlenstoffspeichern bedeuten und zugleich die Klimakrise verschärfen: »Die Folgen dieses Schadens werden auf dem ganzen Planeten zu spüren sein.«

Am südlichen Ende des Abholzungsbogens stößt der Amazonas-Regenwald bereits heute mehr Kohlenstoff aus, als er absorbiert. Wo er nicht ohnehin schon abgeholzt ist, gilt sein ökologischer Zustand an vielen Stellen als schlecht – als degradiert, wie es im Fachjargon heißt. Das verändert den Wasserkreislauf, erhöht die Brandgefahr und hat womöglich Folgen über die lokalen Auswirkungen hinaus für das gesamte südamerikanische Land.

Denn die Abholzungs- und Bergbauaktivitäten bedrohen eine Waldregion, in der Brasiliens »fliegende Flüsse« entspringen – gewaltige atmosphärische Feuchtigkeitsströme, die Wasser in entfernte Regionen bringen. Versiegen diese Flüsse, stehen ganze Landstriche, über denen sie bislang abregneten, ohne ausreichend Wasser da. Der drohende Verlust intakter Waldgebiete im westlichen Amazonas erhöhe dementsprechend das Risiko einer enormen Umweltkatastrophe, sagt Philip Fearnside.

Hinzu kommt, dass mit jedem weiteren Quadratkilometer, der entwaldet wird, jener Kipppunkt überschritten werden könnte, ab dem das Ökosystem Amazonas-Regenwald instabil wird und kollabiert. Eine Gefahr, vor der Klimaforscher seit Jahren warnen.

Auch Indigene sehen sich durch das Verkehrsnetz rund um die BR-319 in ihren Lebensgrundlagen bedroht. Die Schnellstraße durchquert gleich mehrere ihrer Schutzgebiete. Fachleute haben berechnet, dass insgesamt 64 indigene Gebiete, darunter auch solche von noch nicht kontaktierten Gruppen, und damit mehr als 18 000 indigene Menschen und ihre Lebensräume betroffen wären. Trotzdem habe es keine oder nur unvollständige Konsultationen mit den indigenen Communitys gegeben – obwohl diese vorgeschrieben sind: von der Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) und auch vom brasilianischen Gesetz.

Auf Präsident Lulas Versprechen, »besonders verantwortungsvoll« vorzugehen und weder Abholzung noch Landraub zuzulassen, blickt Mariazinha Baré darum mit Skepsis. Das zentrale Problem, sagt die Koordinatorin des Zusammenschlusses der indigenen Organisationen und Völker des Amazonas (Apiam), sei die Unfähigkeit des Staats, die von ihm selbst aufgestellten Bedingungen zu erfüllen und die Gebiete zu schützen.

Das sieht auch Philip Fearnside so. »Das meiste, was nach dem Bau der Straßen geschieht, liegt außerhalb der Kontrolle der Regierung«, so der Forscher.

Abgeschnittene Hauptstadt | Niedrige Pegelstände – hier am Rio Negro bei Manaus – erschweren die Versorgung der Millionenstadt Manaus auf dem Wasserweg. Dürreereignisse dieses Ausmaßes könnten künftig zu einer regelmäßigen Erscheinung werden.

Geld aus dem Amazonienfonds für Straßenbau?

An der Entschlossenheit der Verantwortlichen haben diese Warnungen bislang nichts geändert. Im Gegenteil, nun sollen sogar Fördermittel aus dem Amazonienfonds für Wald- und Klimaschutz für den Bau der Schnellstraße verwendet werden. Das freilich wäre ein handfester Skandal.

Denn damit drohen Mittel, die für die Bekämpfung der Entwaldung vorgesehen waren, in ein Projekt umgeleitet zu werden, »das eines der größten Entwaldungsrisiken im Amazonasgebiet darstellt«, so Lucas Ferrante. Doch bereits im Oktober 2023 verabschiedete der Bundesstaat Amazonas ein Gesetz, das den Weg ebendafür frei machte.

An dem 2008 aufgelegten Fonds hat sich unter anderem Deutschland mit Millionenbeträgen beteiligt, um lokale Umweltschutz- und Nachhaltigkeitsinitiativen finanziell zu unterstützen. Neben der Bundesrepublik haben inzwischen auch die Vereinigten Staaten darauf hingewiesen, dass der Fonds nicht für den Straßenbau verwendet werden dürfe. Aber die Politiker des Bundesstaats Amazonas treiben das Vorhaben weiter voran.

Mit Haushaltstricks könnten etwa die Umweltfolgekosten der Straße auf den Amazonienfonds abgewälzt werden, während der brasilianische Staatsetat nur die unmittelbaren Baukosten zu tragen hätte. Dann wäre der Amazonas-Highway auch noch besonders günstig zu haben.

Über den Einsatz der Mittel entscheide letztlich ein Ausschuss, dem verschiedene Bundesbehörden und Vertreter der Wissenschaft angehören, sagt Fearnside. Dessen Mitglieder seien zweifellos nicht immun gegen Einflüsse unterschiedlicher Art. Aber entschieden sei noch nichts.

Was nicht zur Debatte steht: ein Umweltprogramm, das die tatsächlichen Auswirkungen der Straße auffangen würde. Kein Wunder. »Die Kosten wären astronomisch«, ist sich der Forscher sicher. Der beste Schutz sei, die Straße gar nicht erst zu bauen.

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