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Neurowissenschaften: Das Gehirn auf dem Fließband

Ein chinesisches Institut will Brain Mapping im Industriemaßstab anbieten und so zum Standardtool der Neurowissenschaften machen. Damit wollen die Forscher herausfinden, wie genau die Neuronen im Gehirn zusammenarbeiten. Das könnte auch die künstliche Intelligenz voranbringen. Die Rechenleistung macht den Forschern noch einen Strich durch die Rechnung.
Hirnscan

Brain Mapping – sprich die Kartierung des Gehirns – bedarf bisher mühevoller Kleinarbeit, bei der Neurowissenschaftler all die Schleifen und Windungen im Gehirn einzeln auswerten und zu einem Gesamtbild zusammenfügen. Nun könnte sich im Osten Chinas daraus ein echter Industriezweig entwickeln: Die Stadt Suzhou will nämlich noch im September ein riesiges Imaging-Zentrum eröffnen und könnte so das hochauflösende Brain Mapping revolutionieren.

Während ein typisches Labor bisher nicht mehr als ein oder zwei Imaging-Systeme besitzt, soll das neue Zentrum gleich 50 automatisierte Geräte bieten, die mit rasanter Geschwindigkeit Mäusegehirne in Scheibchen schneiden und 3-D-Bilder erstellen. Der Fließbandbetrieb wird das Verfahren "dramatisch beschleunigen", erklärt Hongkui Zeng, die als Molekularbiologin am Allen Institute for Brain Science in Seattle in Washington mit dem chinesischen Zentrum kooperiert. "Die standardisierte Datenproduktion im industriellen Maßstab wird die Neurowissenschaften verändern", prophezeit sie.

Das Zentrum soll auch Scans des menschlichen Gehirns erstellen und möchte international ganz vorne mit dabei sein, wenn es um das Mapping neuronaler Verbindungen im Zusammenhang mit der Alzheimerdemenz oder künstlichen Intelligenz-Projekten geht, die sich am menschlichen Gehirn orientieren, schildert Qingming Luo. Er ist Experte für Biomedical Imaging an der Huazhong University of Science and Technology (HUST) im chinesischen Wuhan und leitet dort das neue Zentrum namens HUST-Suzhou Institute for Brainsmatics. Das Institut hat ein Fünfjahresbudget von 450 Millionen Yuan (etwa 57 Millionen Euro) und soll einmal etwa 120 Wissenschaftler und Techniker beschäftigen. Luo ist unter anderem an der Entwicklung des High-Speed-Imaging-Systems HOP TOPIC beteiligt und nennt sich selbst einen "brainsmatician”, sprich eine Art Gehirntüftler.

Milliarden Zellen arbeiten im Gehirn

"Die Nachfrage wird riesig sein", meint der Neurowissenschaftler Josh Huang vom Cold Spring Harbor Laboratory in New York, der ebenfalls mit dem chinesischen Institut zusammenarbeitet. So ließe sich mittels schnellem Hochdurchsatz Brain Mapping besser aufklären, wie die Neurone im Gehirn untereinander in Verbindung stehen. Die Methode könnte damit die Neurowissenschaften ähnlich voranbringen, wie Anfang 2000 das High-Throughput-Sequencing die Analyse des humanen Genoms beschleunigt hat. "Auch das Erstellen von Gehirnatlanten auf zellulärer Ebene und von verschiedenen Spezies könnte enorm davon profitieren", erläutert er.

So besteht das Gehirn eines Säugers aus Millionen von Zellen – das Gehirn eines Menschen sogar aus Milliarden. Dabei gibt es etwa 10 000 verschiedene Zelltypen unterschiedlichster Form, Größe und Genexpression, deren Funktion die Wissenschaftler anhand der neuen Daten zur Struktur und Interaktion bestimmen wollen (siehe Nature 548, 150–152; 2017). Sie wollen die verschiedenen Typen auch an unterschiedlichsten Gehirnen untersuchen und herausfinden, wie sich Krankheiten oder erlerntes Verhalten auf zelluläre Strukturen auswirken, erklärt Jürgen Goldschmidt, Experte für Brain-Imaging vom Leibniz Institut für Neurobiologie in Magdeburg.

"Die standardisierte Datenproduktion im industriellen Maßstab wird die Neurowissenschaften verändern"
Hongkui Zeng

Das Mapping dauert allerdings bisher Monate und ist sehr aufwändig. Als Erstes muss das Gehirn einer nur wenige Zentimeter großen Maus mit Hilfe eines Diamantmessers in 15 000 ultradünne Schnitte zerlegt werden. Die Schnitte werden dann mittels Chemikalien oder fluoreszierender Markersubstanzen angefärbt, um sie im Anschluss auf strukturelle Besonderheiten zu untersuchen. Danach werden die einzelnen Schnitte mit dem Mikroskop aufgenommen und daraus 3-D-Bilder erstellt.

Neurone

Nun kommt Luos Institut ins Spiel, dessen Geräte mit imposanter Geschwindigkeit und Auflösung arbeiten, wie seine Kooperationspartner berichten. Laut Zeng können die Instrumente innerhalb von nur zwei Wochen so viele Details über ein Mäusegehirn sammeln, wie es mit bisherigem hochauflösendem konfokalen Imaging nur innerhalb von Monaten möglich war.

Acht Terabyte Daten für ein Mäusegehirn

Im Februar demonstrierte die amerikanische BRAIN Initiative (Brain Research through Advancing Innovative Neurotechnologies) in Bethesda in Maryland ihre Technologien und präsentierte unter anderem die Aufnahme eines Neurons, das sich über das gesamte Mäusegehirn erstreckte (siehe Nature 543, 14–15; 2017). An dem Projekt war auch der Neurowissenschaftler Christof Koch vom Allen Institute in Kooperation mit Luos Gruppe beteiligt. Für ihn deutet die große Ausdehnung des Neurons auf dessen Rolle in der Koordination des Informationsflusses in und aus dem Gehirn und damit auf die Bildung des Bewusstseins eines Lebewesens hin.

Das Institut in Suzhou wird einmal riesige Datenmengen generieren, denn laut Luo liefert allein die Karte eines Mäusegehirns schon acht Terabyte. Nachdem das Gehirn des Menschen fast 1500-mal größer ist, bräuchte ein derzeitig verfügbares Gerät zum Mapping etwa 20 Jahre. Deshalb möchte Luo nun auch die Geschwindigkeit und Rechenleistung der Instrumente steigern und mehrere Geräte parallel nutzen.

Luo ist sehr offen für weltweite Kooperationen und ging neben dem Allen Institute auch mit dem Cold Spring Harbor Laboratory der Stanford University in Kalifornien eine Partnerschaft ein. Das internationale Interesse ist groß – seinen Worten nach so groß, dass er gar nicht allen Kooperationsanfragen nachkommen kann. "Wir lehnen schon jetzt so manche ab."

Der Text ist unter dem Titel "China launches brain imaging factory" im Original am 16. August 2017 in "Nature" erschienen (548, 268–269; doi:10.1038/548268a).

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