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Britanniens Pompeji: Im Dorf der Hartgesottenen

An einem Flüsschen im Sumpf erbauten Menschen vor fast 3000 Jahren eine Siedlung. Nach weniger als einem Jahr brannte das Dorf ab. Ein Unglück, das den englischen Fundplatz Must Farm heute weltberühmt macht.
Eine historische Darstellung eines prähistorischen Dorfes in einer sumpfigen Landschaft. Fünf runde Hütten mit grasbedeckten Dächern stehen innerhalb einer hölzernen Palisade. Aus jeder Hütte steigt Rauch auf, was auf bewohnte oder genutzte Räume hindeutet. Im Vordergrund ist ein Sumpf mit hohem Gras und Wasserflächen zu sehen. Im Hintergrund erstreckt sich eine flache Landschaft mit vereinzelten Bäumen.
Ganz England lebte in Häusern mit festem Untergrund. Ganz England? Nein, ein von unbeugsamen Sumpfbewohnern bevölkertes Dorf hörte nicht auf, dem Feuchtgebiet Widerstand zu leisten. Oder anders formuliert: Bei Grabungen im Südosten Englands wurde eine spätbronzezeitliche Pfahlbausiedlung nachgewiesen.

Der Mensch und das Moor hatten über Jahrtausende ein schwieriges Verhältnis. Man mied sich. Verständlich, denn was hat der Mensch in ewignassen und tristen Landstrichen verloren, wo es von Mücken nur so wimmelt? Erst seit einiger Zeit hat man den hohen Wert der Feuchtgebiete als Speicher von Treibhausgasen erkannt. Doch bevor im Europa des 18. Jahrhunderts die Ära der flächendeckenden Trockenlegungen begann, wagten sich Menschen maximal an die Ränder der Feuchtgebiete – oder? Möchte man meinen, aber es stimmt nicht so ganz. Mensch und Moor sind sich schon vor langer Zeit und über Jahrtausende hinweg überraschend nah gekommen.

Vielerorts in Europa haben Archäologen Überreste von Häusern entdeckt, die in Feuchtgebieten errichtet worden waren. Solche Pfahlbausiedlungen stammen aus der Vorgeschichte: Im Neolithikum, der Bronzezeit und bis in die Eisenzeit bauten Menschen ihre Behausungen an Flüsse, Seeufer, in Sümpfe oder Moore. Ein eindrucksvolles Zeugnis dieses Phänomens haben Archäologen um Mark Knight von der University of Cambridge im Osten Englands ausgegraben und 2024 in einem umfassenden Bericht beschrieben: die spätbronzezeitliche Pfahlbausiedlung Must Farm in den Fens, einer ausgedehnten Moor- und Marschlandschaft im Südosten Englands, die heute nahezu vollständig trockengelegt ist.

Das Besondere an der Stätte ist ihr außergewöhnlich guter Erhaltungszustand. Mitte des 9. Jahrhunderts v. Chr. an einem Flussufer in einem Sumpfgebiet errichtet, brannte Must Farm nach weniger als einem Jahr der Besiedlung ab. Die Bewohnerinnen und Bewohner hatten sich vor dem verheerenden Feuer wohl retten können – denn menschliche Überreste fanden sich keine. Ihre Habseligkeiten mussten die Menschen jedoch zurücklassen. Möbelstücke, Textilien, Holz- und Tongefäße, allerlei Haushaltsgegenstände und Nahrungsmittel versanken im sauerstoffarmen Schlamm und schlummerten in dem späteren Niedermoor fast drei Jahrtausende unberührt vor sich hin. Weil sie im Boden luftdicht verschlossen blieben, haben sie sich nahezu perfekt erhalten.

Die Tragödie von einst ist für die Archäologen von heute ein Glücksfall. Sie stießen auf eine – zwar – abgebrannte Siedlung, die dennoch in den Alltag der Sumpfbewohner einer schriftlosen Zeit blicken lässt. Dieser Umstand macht Must Farm, dessen einstiger Name unbekannt ist, zu einer der weltweit bedeutendsten Fundstätten der Bronzezeit. Nicht zu Unrecht verpassten ihr britische Medien den Spitznamen »Britain's Pompeii«.

Topffund | Grabungsleiter Mark Knight (links) und eine seiner Kolleginnen begutachten einen Tontopf, den sie aus den Überresten der Pfahlbausiedlung von Must Farm geborgen haben.

Must Farm war ein Zufallsfund

Die Entdeckung von Must Farm begann bereits im Jahr 1969. Damals kamen in einem Steinbruch bronzezeitliche Artefakte zum Vorschein, eine systematische Untersuchung des Fundorts blieb jedoch aus. Vermutlich hätte es sonst nicht noch 30 Jahre gedauert, ehe der ortsansässige Archäologe Martin Redding eines Tages entlang der inzwischen mit Wasser gefüllten Grube lief und Holzstümpfe aus dem Uferstreifen ragen sah. Er erkannte, dass die Hölzer deutlich älter sein müssen als der Baggersee. Bald darauf sammelte er Keramikfragmente, Bronze- und Feuersteinobjekte auf. Das gab Anlass zu weiteren Untersuchungen. Redding stieß schließlich Probegrabungen an, die bestätigten: Im alten Moorboden liegen die Überreste einer bronzezeitlichen Siedlung und eine erstaunliche Fülle erhaltener Artefakte. Weil die Stätte bereits zum Teil aus dem Wasser lugte und zu verfallen drohte, entschied man sich, Must Farm vollständig auszugraben. 2015 bis 2016 arbeitete an dem Ort die Cambridge Archeaological Unit (CAU), die der rund 70 Kilometer vom Fundplatz entfernten University of Cambridge angehört.

Aus der Vogelperspektive | Vermutlich bestand Must Farm aus neun Häusern. Erhalten haben sich die Überreste von fünf Bauten. Die übrigen vier waren wohl bei Arbeiten im benachbarten Steinbruch fortgeräumt, aber nicht zuvor dokumentiert worden.

Dabei profitierten die Archäologen von einer einmaligen Stratigrafie: Die Kulturschichten waren außergewöhnlich dünn, alle zusammen maßen nur zwischen 15 und 35 Zentimeter und umfassten die Phasen der Errichtung, Nutzung und Zerstörung. Holzspäne, die beim Zurichten der Bauhölzer herabgefallen waren, waren nur durch eine millimeterdünne Schicht Flussschlamm von den abgebrannten Hausteilen getrennt. Must Farm konnte demnach nicht lange existiert haben, wahrscheinlich nicht länger als ein Jahr.

Das Team rekonstruierte fünf Pfahlbauten, geht aber von vier weiteren aus, die im angrenzenden Steinbruch abgebaggert wurden. Die Häuser standen auf Stelzen, waren von einer zwei Meter hohen Palisade umgeben und über Stege miteinander verbunden. Besonders verblüffte die Archäologen, wie eng die Hütten beieinanderstanden: so nah, dass – auch auf Grund der Palisade – kaum Sonnenlicht in die Siedlung fiel. Gut möglich, so vermuten die Forscher, dass es für die Bewohner Wichtigeres gab, als ausreichend Licht zu haben, beispielsweise sich gegen etwaige Angreifer gut verteidigen zu können. Denn es ist klar, dass Must Farm eine durch und durch geplante Anlage war. Laut den Archäologen hatte man die Pfahlbauten nach dem immer selben Muster mit standardisierten Bauteilen errichtet; eine Hütte glich der anderen.

Heimatland Sumpf

Nach Plan, auf engstem Raum und in relativ kurzer Zeit erbaut, noch dazu über einem Fluss in einem Feuchtgebiet. Was trieb die Menschen nur an diesen Ort? Menschen, die offenbar genau wussten, wie sie eine Siedlung über einen Sumpf zu bauen hatten. »Es gibt eine lange Siedlungstradition in dieser Landschaft«, sagt Christopher Wakefield, Archäologe der CAU, der auch an den Ausgrabungen in Must Farm beteiligt war. Den Bewohnern der späten Bronzezeit kam die Landschaft also nicht feindlich vor, ganz im Gegenteil: »Sie waren in der Lage, die feuchte Umgebung zu ihrem Vorteil zu nutzen.«

Tatsächlich, so die Ausgräber, hatten sich die Menschen schon um die Mitte des 3. Jahrtausends v. Chr. an die Ränder der Fens gewagt. Danach, zwischen zirka 2200 und 1500 v. Chr., entstanden immer mehr Siedlungen um das damalige Moor. Vor allem in der anschließenden Phase der mittleren Bronzezeit hat die Bevölkerung immer mehr und immer ausgedehntere Ackerflächen am Rand der Fens erschlossen. Da Archäologen die Gegend schon länger intensiv untersuchen, kennen sie die bronzezeitlichen Stätten in der Nähe von Must Farm. Daraus wird klar: Erst als in der späten Bronzezeit das Klima kälter und feuchter wurde, veränderten die Menschen ihre Lebensgewohnheiten, allerdings nicht einheitlich. Ein Teil migrierte in trockenere Landstriche, ein anderer Teil zog tiefer in die Fens und siedelte direkt im Sumpf, denn auch das Feuchtgebiet war nasser geworden. Die Ausgräber schreiben von einer »Feuchtgebietskolonisierung«, und Must Farm sei das Paradebeispiel dafür.

Die Archäologen vermuten, dass die natürlichen Ressourcen die Pfahlbaubewohner vom Bleiben überzeugten. Lebten sie doch zwischen zwei Ökosystemen: dem Feuchtgebiet und dem Land mit festem Boden. In diesem Umfeld fanden sie sowohl robuste Eichen und Eschen zum Bau von Hütten als auch biegsames Weiden- oder Erlenholz für Alltagsgegenstände wie Körbe oder Fischfallen. Das Leben in zwei Welten spiegelt sich auch in der Ernährung. Wie zig Knochenfunde aus Must Farm, Pflanzenreste und Dung zeigen, zehrten die Menschen von einem ausgewählten Speiseplan, vor allem aßen sie viel Fleisch. Im Feuchtgebiet jagten sie Fische, Blässhühner und Stockenten, verspeisten aber überwiegend domestizierte und wilde Tiere aus den trockeneren Gebieten wie Schafe, Ziegen, Schweine und Wildschweine sowie Rehe. Dabei brachten sie die Tiere offenbar bereits geschlachtet und zerteilt in die Siedlung.

Außergewöhnlich ist die schiere Menge: Mehr als 7500 Knochenfragmente, die von Säugetieren stammen, und mehr als 9000 Überbleibsel von Fischen sammelten die Archäologen aus den Kulturschichten in Must Farm. Mit dieser Bilanz rückten die Forscher auch eine länger bestehende Annahme zurecht, wonach die Menschen auf den Britischen Inseln während der Bronze- und Eisenzeit weitgehend auf Fisch und Wild verzichtet hätten. Die einstige Lebenswirklichkeit scheint deutlich vielfältiger gewesen zu sein, als es die Hinterlassenschaften bisher erahnen ließen.

Im Schlamm von Must Farm blieben organische Materialien hervorragend erhalten – auch menschliche Ausscheidungen. Aus ihnen fischten die Forscher Darmparasiten, Steinchen und Stücke von Tierknochen. Diese Funde, so schreiben die Ausgräber um Knight in ihrem Bericht, verrieten einiges über »die ›Standards der Lebensmittelhygiene‹, die sich etwas von den unsrigen unterschieden«. Ganz offensichtlich hatte man das Fleisch nicht sauber zubereitet und Abrieb, der beim Getreidemahlen ins Mehl gelangte, nicht ausgesiebt.

Viel Fleisch, kaum Obst und Gemüse

Die Fachleute überraschte insbesondere der geringe Anteil pflanzlicher Ernährung. Angebauter Emmer und auch Gerste waren Grundnahrungsmittel in Must Farm. Daraus kochten die Siedler Brei und Eintopf, oftmals mit Honig gesüßt, oder sie backten Brot. Das Getreide bezogen sie aus dem Landesinneren. Was die Archäologen in ihren Funden jedoch vermissen, sind Hinweise auf Obst und Nüsse. Den Umstand erklären sie bislang mit der kurzen Lebensdauer der Siedlung: Sie brannte vermutlich ab, bevor man im Spätsommer und Herbst Obst pflückte und Nüsse sammelte. Für diese These sprechen auch die großen Mengen an Leinsamen, die sich in Must Farm fanden. Leinsamen werden von Mitte bis Ende August geerntet. Ebenso machen die Überreste von drei bis sechs Monate alten Lämmern dieses Zeitfenster als Zerstörungszeitpunkt wahrscheinlich. Das Holz der Hütten wiederum verrät, wann die Bäume gefällt und als Bauteile verwendet wurden. Demzufolge könnte die Pfahlbausiedlung vom Winter bis Spätsommer existiert haben.

Holzspäne | Die Bewohner von Must Farm hatten Baumstämme herangeschafft und sie am Ort ihrer Siedlung zugerichtet. Das leiten die Archäologen aus den unzähligen Holzspänen ab, die sie bei den Grabungen entdeckt haben.

Klar ist, dass die Bewohner von Must Farm keine Außenseiter waren. »Sie lebten definitiv in einer Landschaft, die mehrere Gemeinschaften bewohnten«, sagt Wakefield. Darauf weise allein schon der große Fundreichtum hin. Die Archäologen dokumentierten fast 500 Einzelobjekte – Tongefäße, Holzschüsseln, Bronzebeile, Mahl- und Schleifsteine. Dazu kommen 155 Faser- und Textilfragmente, darunter fein gewobene Leinentücher. Den Einwohnern mangelte es offenbar an nichts, ihre Häuser waren vollgepackt und die Räume wohl strukturiert: Es waren klar Bereiche für die tägliche Arbeit, fürs Kochen und fürs Schlafen ausgewiesen. Und die Kontakte zu anderen Gemeinschaften reichten weit: Glasperlen aus Must Farm kamen ursprünglich aus dem heutigen Iran, wie naturwissenschaftliche Analysen ergaben. Bronzeeimer, die sich als Fragmente fanden, dürften von der irischen Insel stammen.

Diese Erkenntnisse sind vermutlich der Schlüssel, um den speziellen Wohnort zu verstehen. Laut den Ausgräbern sei es gut möglich, dass die über dem Fluss errichtete Pfahlbausiedlung eine wichtige Handelsroute kontrollierte: Must Farm war das Tor zu den Fens und von dort zum Meer. Zugleich war der Ort ans Landesinnere angebunden. Eine Siedlung auf dem Wasser bot somit klare Vorteile: Zum einen lag sie direkt an der Route – »mit Booten konnten die Menschen leicht über die Wasserwege reisen«, so Christopher Wakefield. Zum anderen ließ sich Must Farm an dieser Stelle gut verteidigen. Dass das nötig war, legt die Palisade rund um das Dorf nahe. Nur gegen das Feuer waren die Bewohner machtlos. Warum sie nicht zurückkamen, um ihr Hab und Gut zu retten oder die Siedlung wieder aufzubauen, bleibt ein Rätsel.

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  • Quellen

Dobney, K., Ervynck, A.: To fish or not to fish? Evidence for the possible avoidance of fish consumption during the Iron Age around the North Sea. In: Haselgrove, C., Moore, T. (Hg.): The Later Iron Age in Britain and beyond. Oxbow Books, 2017, S. 403–418

Knight, M. et. al.: Must Farm pile-dwelling settlement. Volume I. Landscape, architecture and occupation. McDonald Institute for Archaeological Research, 2024

Sykes, N.: Fair game: Exploring the dynamics, perception and environmental impact of ›surplus‹ wild foods in England 10kya-present. World Archeology 49, 2017

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