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News: 'Brüchige Tarifrealität' im Osten

Eine Studie zur Tarifgestaltungspraxis in ostdeutschen Industriebetrieben hat ein Team unter Leitung von Prof. Dr. Rudi Schmidt am Institut für Soziologie der Universität Jena durchgeführt. Die Wissenschaftler kommen zu dem Ergebnis, daß die ostdeutschen Betriebe inzwischen wesentlich differenziertere und flexiblere Tarifmuster praktizieren, als die Debatte in den öffentlichen Medien vermuten läßt.
Die Autoren Ingrid Artus, Rudi Schmidt und Gabriele Sterkel haben im ersten Halbjahr 1997 rund 100 Interviews mit Vertretern der Tarifverbände sowie mit Geschäftsleitungen und Betriebsräten von 38 Industriebetrieben der ostdeutschen Metall-, Bau- und Chemieindustrie geführt. Ziel der von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Studie war es, den gegenwärtigen Zustand des Flächentarifvertrags in Ostdeutschland zu erforschen. Welche Gestaltungskraft besitzen die von den Tarifparteien ausgehandelten Normen auf betrieblicher Ebene? Bei welchen Themen wird gegen die tariflichen Normen verstoßen? Wie verhalten sich die Betriebsräte und Belegschaften bei Abweichungen vom Flächentarifvertrag?

Der Forschungsbericht mit dem Titel "Brüchige Tarifrealität" bestätigt zunächst die Diagnose, wonach in bestimmten Industriebereichen der Flächentarifvertrag nur eingeschränkte oder geringe Gestaltungsmacht besitzt. Besonders prekaer ist demnach die Situation in kleineren, nicht konzerngebundenen Betrieben der Metall- und Bauindustrie. Von betrieblichen "Sparmaßnahmen" betroffen sind vorrangig "zusätzliche" Leistungen zum Grundentgelt, wie z. B. Weihnachtsgeld, Urlaubsgeld und Leistungszuschläge. In vielen Betrieben werden aber auch untertarifliche Grundentgelte gezahlt, und die Beschäftigten sind in zu niedrige Lohngruppen eingestuft. Zudem werden gängige Normen des Verhältnisses von Lohn und Leistung, wie sie etwa in Westdeutschland üblich sind, aufgekündigt und die Leistungsintensivierung ist teilweise beträchtlich, monierten die Jenaer Soziologen.

Hintergrund dieser tarifwidrigen Beschäftigungsbedingungen sind laut Studie – häufig, aber nicht in erster Linie – die schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen der Betriebe. Diese These werde u. a. gestützt durch diverse Forschungsbefunde, wonach die wirtschaftliche Situation kleinerer Betriebe, die besonders häufig vom Tarifniveau nach unten abweichen, in Ostdeutschland eher besser sei als die größerer Betriebe. Allerdings würden von ihnen auch durchschnittlich niedrigere Löhne gezahlt.

Ausschlaggebend für den Tarifbruch sei die ausgeprägte Machtasymmetrie in vielen Kleinbetrieben: Bei den Beziehungen zwischen Geschäftsleitung und Belegschaft handle es sich oft um autoritäre Anordnungsstrukturen; die Betriebsratsarbeit finde unter schwierigen Bedingungen statt und sei oft wenig professionell; es bestehe kaum Kontakt zur Gewerkschaft. Mit dem Argument der Arbeitsplatzsicherung gelinge es den Geschäftsführungen zudem häufig, die Akzeptanz der Beschäftigten gegenüber untertariflichen Beschäftigungsbedingungen zu sichern.

Zugleich macht die Studie auch darauf aufmerksam, daß der Flächentarifvertrag in anderen industriellen Segmenten durchaus noch "das Maß der Dinge" darstellt: In der ostdeutschen Großchemie ist die Orientierung am Tarif stark; es werden sogar teilweise übertarifliche Leistungen erbracht. Auch in den ostdeutschen Filialen der großen Baukonzerne werde im Interesse bundesweit einheitlicher Konzernnormen weitgehend "Tarif gezahlt" – wobei zugleich viele Aufträge an Subunternehmer vergeben werden, deren Beschäftigten es deutlich schlechter gehe, so die Autoren der Studie. Abweichungen vom Flächentarifvertrag beträfen in diesen Industriesegmenten jedoch insgesamt ähnliche Regelungsbereiche wie auch in Westdeutschland: Die Arbeitszeiten seien in hohem Maße flexibilisiert, was z. B. auch die Abschaffung lukrativer Überstundenzuschläge für die Beschäftigten zur Folge habe.

Große Bedeutung besitze in der ostdeutschen Industrie zudem die Praxis einer "regulierten Flexibilisierung" des Flächentarifvertrags. Damit sind Formen der Tarifabweichung gemeint, die von den Tarifverbänden oder auch nur von der Gewerkschaft offiziell vereinbart werden. In der Metallindustrie sei die Praxis von Härtefalltarifvereinbarungen zwischen IG Metall und Arbeitgeberverband inzwischen weit verbreitet.

Die IG Chemie hingegen versuche über den Abschluß von Haustarifverträgen ihre betriebliche Normsetzungsfähigkeit zu erhalten – und stimme zu diesem Zweck nicht selten auch untertariflichen Bedingungen zu. Wichtig ist in den Augen der Jenaer Industriesoziologen, daß trotz temporärer und/oder partieller Abweichung vom Tarif in diesen Fällen der Flächentarifvertrag noch immer die Leitlinie und prägende Norm fuer die getroffenen Vereinbarungen darstellt – auch wenn die Inflation solcher "Ausnahmeregelungen" langfristig die Standardsierungsfunktion des Flächentarifvertrags untergraben könnte.

Trotz vorhandener Tendenzen zur Aufweichung des Flächentarifvertrags zeichnet die Studie insgesamt also ein durchaus differenziertes Bild der ostdeutschen Tarifrealität. Die Flexibilisierungsmuster sind branchenspezifisch deutlich verschieden. Zugleich existiert auch innerhalb der Branchen ein mehr oder weniger stabiles tarifliches Zentrum – vor allem von konzerngebundenen Großbetrieben – und eine prekäre Peripherie – vor allem von kleineren Eigentümerbetrieben. Selbst in tarifbrüchigen oder nicht tarifgebundenen Betrieben stelle der Flächentarif jedoch im Regelfall noch eine Orientierungsnorm dar, einen Vergleichsmaßstab, an dem Beschäftigte und Geschäftsleitung die realen betrieblichen Bedingungen messen, resümierte das Team um Prof. Schmidt. Schließlich beschreibt die Studie sogar einige Fälle, in denen es gelang, den Flächentarifvertrag wieder als verbindliche Norm in den Betrieben durchzusetzen.

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