Stoffstrombilanzverordnung gestrichen: Regierung lockert Umweltschutzauflagen für die Bauernschaft

Landwirtinnen und Landwirte in Deutschland müssen künftig nicht mehr erfassen, welche Mengen an Stickstoff und Phosphor ihre Betriebe freisetzen. Das hat das Bundeskabinett beschlossen. Eine Verordnung, die die Bauernschaft seit dem Jahr 2018 verpflichtete, die Ströme an Nährstoffen auf ihren Höfen zu bilanzieren und zu dokumentieren, hat die Bundesregierung auf Initiative von Bundeslandwirtschaftsminister Alois Rainer (CSU) aufgehoben. Rainer begründete den Vorstoß damit, die Koalition habe versprochen, überbordende Bürokratie abzubauen. Der Bundestag soll keine Gelegenheit bekommen, diesen umweltpolitischen Einschnitt zu verhindern oder anders ausgestalten zu können.
Das Ende der so genannten Stoffstrombilanzierung ist vergleichbar damit, wenn Industriebetriebe nicht mehr erfassen müssten, wie viel Kohlendioxid sie ausstoßen oder welche Menge an Schwermetallen sie freisetzen. Die Bundesregierung begibt sich damit in einem wichtigen Feld der Umweltpolitik auf einen ähnlichen Kurs wie die US-Regierung von Donald Trump, die Unternehmen und Landwirte ebenfalls im Namen des Bürokratieabbaus von Umweltpflichten befreien will. Ein genaues Monitoring von problematischen Substanzen gilt seit Jahrzehnten als wichtige Voraussetzung dafür, umweltpolitische Entscheidungen auf der Basis belastbarer und genauer Zahlen zu treffen. Im Naturschutzabkommen von Montreal hatte sich Deutschland im Jahr 2022 verpflichtet, bis 2030 die Belastung der Umwelt mit Nährstoffen zu halbieren.
Landwirtschaftsminister Rainer erklärte anlässlich des Kabinettsbeschlusses, ein Zuviel an Bürokratie sei der größte Hemmschuh für wirtschaftliches Wachstum. Sieben Wochen nach Amtsantritt habe die neue Koalition geliefert. »Bislang waren Landwirtinnen und Landwirte verpflichtet, extrem detailliert zu dokumentieren, was sie wann und wo auf ihren Feldern ausbringen«, sagte Rainer. Das sei hochbürokratisch: »Also weg damit.« Damit befreie die Regierung »unsere Höfe von jährlich 18 Millionen Euro Bürokratieballast«. Die Abschaffung der Stoffstromverordnung war schon seit Längerem vom Deutschen Bauernverband gefordert worden. Bei 255 000 landwirtschaftlichen Betrieben in Deutschland entspricht die Entlastung im Schnitt sechs Euro pro Betrieb und Monat.
In Stellungnahmen für das Science Media Center kritisieren Wissenschaftler die Entscheidung. »Es gibt keine seriöse wissenschaftliche Institution in Deutschland, die nicht die Stoffstrombilanz als das Instrument fordert, um Stickstoff- und Phosphorüberschüsse auf den Betrieben zu identifizieren und gegebenenfalls zu sanktionieren«, erklärt etwa Friedhelm Taube, Professor für ökologischen Landbau und extensive Landnutzungssysteme an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.
Wegfall einer wichtigen Datenquelle
Für Klaus Dittert, Professor und Leiter der Abteilung für Pflanzenernährung und Ertragsphysiologie an der Georg-August-Universität Göttingen, kommt »die Aufhebung der Stoffstrombilanzierung faktisch einem Rückfall in die Gesetzlosigkeit im Bereich der Düngung gleich«. Unter großem Aufwand sei über mehrere Jahre ein Monitoring- und Kontrollsystem entwickelt und eingesetzt worden, welches den Betrieben, der Agrarverwaltung und der Agrarpolitik wertvolle Daten zur Verfügung stelle. Dies habe erheblich dazu beigetragen, Probleme der Überdüngung zu mindern. Trotz Klagen aus der Landwirtschaft habe der Aufwand in einem angemessenen Verhältnis zum Nutzen gestanden.
Stickstoff und Phosphor werden in der Landwirtschaft zum einen als Bestandteil von Düngemitteln eingesetzt, um das Pflanzenwachstum auf Äckern und Wiesen anzukurbeln. Wenn in Form von Gülle oder synthetisch erzeugten Körnern mehr Dünger ausgebracht wird als die angebauten Nutzpflanzen aufnehmen können, kommt es zu einem Überschuss. Die Nährstoffe reichern sich dann im Boden an oder gelangen über Seen, Bäche und Flüsse in Nord- und Ostsee. Zu einem Überschuss trägt auch bei, wenn chemische Verbindungen wie Ammoniak während der landwirtschaftlichen Produktion entstehen und freigesetzt werden.
Laut Umweltbundesamt und zahlreichen wissenschaftlichen Studien führt ein Überschuss an Stickstoff und Phosphor in der Umwelt zu einem breiten Spektrum schwer wiegender ökologischer Schäden.
So ist Überdüngung beispielweise eine der vorrangigsten Ursachen dafür, dass man in Deutschland und anderen Ländern kaum noch bunte Blumenwiesen sieht, sondern hauptsächlich monoton grüne Vegetation. Auf überdüngten Böden sinkt die Vielfalt der Blütenpflanzen stark, da Gräser die Nährstoffe besser ausnutzen können als zum Beispiel Orchideen oder Nelkengewächse. Die Gräser setzen sich auf Kosten anderer Blütenpflanzen durch und verdrängen diese dauerhaft. Das stickstoffhaltige Ammoniak kann Pflanzen auch direkt beeinträchtigen, da es die Blattorgane beschädigt. Analysen des Deutschen Zentrums für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) zufolge haben mehr als 70 Prozent aller untersuchten Pflanzenarten in den zurückliegenden 60 Jahren in ihrer Verbreitung abgenommen. Nach Angaben des Rote-Liste-Zentrums sind von den 3651 in Deutschland etablierten Farn- und Blütenpflanzen 1000 Arten in ihrem Bestand gefährdet, 65 Arten bereits ausgestorben oder verschollen. Nur 44 Prozent der Arten gelten als ungefährdet.
Die Ostsee ist bereits in weiten Teilen eine Totzone
Ein Nährstoffüberschuss in Gewässern führt dazu, dass vor allem kleine Algen explosionsartig wachsen. Werden sie anschließend durch Mikroorganismen abgebaut, entziehen diese dem Wasser den für alle Organismen lebenswichtigen Sauerstoff. Der Prozess wird Eutrophierung genannt. Er sorgt sowohl in Tümpeln und Fließgewässern als auch in den Meeresgebieten, in welche die Flüsse münden, für große ökologische Schäden. Laut Umweltbundesamt lässt eine hohe Algenbiomasse zudem weniger Licht zu den auf dem Sediment wachsenden Großalgen und Seegräsern durch, was diesen schadet. Der anschließende Sauerstoffmangel führt dazu, dass die Ostsee auf mindestens einem Fünftel ihrer Fläche abgestorben ist und als Totzone gilt. Sichtbar wird die Eutrophierung an den Schaumbergen und Schleimspuren, die die Wellen an die Strände tragen.
Zu viel Nitrat kann insbesondere für Säuglinge gefährlich werden, weil es sich im Körper zu Nitrit umwandeln kann
Stickstoff aus der Landwirtschaft trägt zudem zur Erderwärmung bei. Verantwortlich dafür ist Lachgas (N2O), von dem ein Kilogramm eine so starke Erwärmungswirkung hat wie 265 Kilogramm Kohlendioxid. Lachgas entsteht, wenn organische und mineralische Düngemittel im Boden abgebaut werden. Laut Bundeslandwirtschaftsministerium entsprechen die Lachgaemissionen von deutschen Agrarbetrieben rund 20 Millionen Tonnen CO2. Das sind immerhin 0,03 Prozent des gesamten deutschen CO2-Ausstoßes.
Stickstoffverbindungen aus der Landwirtschaft können zudem der Gesundheit von Menschen schaden – hauptsächlich als Ammoniak in der Luft und als Nitrat im Trinkwasser. Zu viel Nitrat kann insbesondere für Säuglinge gefährlich werden, weil es sich im Körper zu Nitrit umwandeln kann, das die Aufnahme von Sauerstoff ins Blut hemmt. Zwar bestehen in Deutschland keine akuten Probleme damit – das Trinkwasser gilt als sicher – doch bis zu ein Viertel der deutschen Grundwasservorkommen ist übermäßig mit Nitrat belastet, vor allem in Regionen mit intensiver Viehhaltung. Die deutschen Wasserversorger müssen deshalb zu aufwändigen Verfahren greifen, damit beim Verbraucher gesundheitlich unbedenkliches Trinkwasser ankommt. Der Aufwand, etwa belastetes mit unbelastetem Wasser zu verdünnen, verteuert das Trinkwasser.
Stickstoffüberschuss ist rückläufig
Beim Phosphor fällt besonders ins Gewicht, dass es sich um eine lebenswichtige, aber zugleich endliche Ressource handelt. Ein Großteil des Phosphors, der in der Landwirtschaft zum Einsatz kommt, stammt aus weltweit wenigen geologischen Vorkommen. Gingen diese in Zukunft zur Neige, würde dies unweigerlich eine weltweite Ernährungskrise nach sich ziehen. Sparsam mit Phosphor umzugehen und diesen nach Möglichkeit wiederzuverwerten, gilt deshalb als wichtige umweltpolitische Maxime.
Trotz des Kabinettsbeschlusses sind Landwirte weiterhin verpflichtet, Dünger maßvoll einzusetzen und die Umwelt nicht mit Überschüssen zu belasten. Das Ausbringen von Stickstoff und Phosphor zu bilanzieren, galt bisher aber als nötig und als umweltpolitischer Erfolg, weil sie Landwirten vor Augen geführt hat, was sie in die Umwelt freisetzen, und zusätzlich dazu motiviert hat, sparsam und effizient mit den Nährstoffen umzugehen.
Über ganz Deutschland gemittelt ist der Überschuss an Stickstoff von 117 Kilogramm pro Hektar und Jahr in den 1990er Jahren auf heute rund 75 Kilogramm gesunken. Zuletzt wurde sogar der Zielwert der Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung von 70 Kilogramm pro Hektar erreicht. Zu den Ursachen zählen neben Umweltauflagen auch hohe Preise für Kunstdünger infolge des Ukrainekriegs sowie Fortschritte in der Pflanzenzucht, derentwegen Anbaupflanzen Nährstoffe effektiver verwerten.
Experten des Umweltbundesamts fordern niedrigeren Zielwert
Allerdings sagt der Mittelwert wenig über ökologische Schäden aus – denn in den Agrarregionen Norddeutschlands und auch am Alpenrand wird besonders viel Stickstoff freigesetzt und gelangt dann in Fließgewässer und ins Meer. Regional liegt die Stickstoffbelastung der Umwelt also deutlich über den Zielwerten. Um die Umweltbelastung zu reduzieren, fordert die Kommission Landwirtschaft am Umweltbundesamt (KLU) einen gemittelten Überschuss von maximal 50 Kilogramm pro Hektar und Jahr. Zudem hat sich Deutschland verpflichtet, die Emissionen von Ammoniak in die Luft bis zum Jahr 2030 um 29 Prozent im Vergleich zu 2005 zu reduzieren. Bis 2022 wurde aber nur ein Minus von 18 Prozent erreicht.
Vor diesem Hintergrund beurteilen die meisten der vom Science Media Center befragten Experten es kritisch, dass das Bundeskabinett nun die Stoffstromverordnung aufgehoben und damit die Pflicht abgeschafft hat, dass Landwirte ihre betrieblichen Stickstoff- und Phosphorüberschüsse erfassen. Benjamin Leon Bodirsky, Leitender Wissenschaftler in der Arbeitsgruppe Landnutzung und Resilienz am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, argwöhnt, der Erfolg der Stoffstrombilanzverordnung scheine ihr zum Verhängnis geworden zu sein: »Endlich wurde robust erfasst und begrenzt, wie viel Stickstoff ein Betrieb an die Umwelt verliert.« Trotz der lockeren Grenzwerte habe die Verordnung eine enorme positive Lenkungswirkung für die Umwelt entfacht. Seit ihrer Einführung sei die Menge an Stickstoff, die von landwirtschaftlichen Flächen in die Umwelt gelangt sei, um fast ein Drittel gefallen, und das trotz stark steigender Wertschöpfung in der Landwirtschaft.
Henning Kage, Direktor des Instituts für Pflanzenbau und Pflanzenzüchtung an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, erklärte, es gebe unter Landwirten und Landwirtinnen eine »in vielen Teilen berechtigten Frustration über die überbordende Bürokratie im Bereich der Düngegesetzgebung«. Die umfangreichen Dokumentationspflichten und Anwendungsbeschränkungen seien nur zum Teil als wissenschaftlich belegt und zielführend zu bezeichnen. Kage hob hervor, dass die Nitratkonzentration im Grundwasser Niedersachsens und Schleswig-Holsteins sowie in den Zuflüssen von Nord- und Ostsee langsam sinke. Ein Ende der Bilanzierung führe deshalb nicht zu einer direkten Gefährdung der Qualität deutscher Gewässer. Wichtig wäre seiner Einschätzung nach »eine Vereinheitlichung der Messmethoden zur Bewertung der Zielerreichung der Nitratrichtlinie innerhalb der EU«.
»Minister Rainer macht nun erst einmal ein politisches Zugeständnis an eine Lobbyforderung, ohne zu signalisieren, welche Schritte zum Schutz der Umwelt er einleiten will«Philipp Maurischat, Umweltwissenschaftler
Philipp Maurischat, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Biologie und Umweltwissenschaften der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, dagegen betonte, mehr als 90 Prozent aller deutschen Gewässer wiesen keinen guten ökologischen Zustand auf: »Weite Teile Deutschlands sind mit Nährstoffen nicht nur überversorgt, sondern durch ineffiziente Nutzung sogar belastet.« Wenn das Bundeslandwirtschaftsministerium den Schutz von Ernährung und Heimat ernst nehmen wolle, müsse es die negativen Auswirkungen der Nährstoffbelastung, die überwiegend aus der Landwirtschaft stammen, aktiv angehen: »Minister Rainer macht nun erst einmal ein politisches Zugeständnis an eine Lobbyforderung, ohne zu signalisieren, welche Schritte zum Schutz der Umwelt er einleiten will.« Für den Umweltschutz sei die Abschaffung der Stoffstrombilanz kein guter Tag.
Das Aus für die Stoffstromverordnung reiht sich ein in eine Serie von agrarpolitischen Entscheidungen und Initiativen, die gegen den Klima- und Naturschutz gerichtet sind. Nach den Bauernprotesten im Winter 2023/2024 hatte die EU-Kommission bereits eine Reihe von umweltpolitischen Zielen, wie zum Beispiel eine Halbierung des Pestizideinsatzes, wieder einkassiert. Anschließend wurden Auflagen beseitigt, jährlich einen Teil der Agrarflächen brach liegen zu lassen, damit sich Böden und Biodiversität erholen können. In den zurückliegenden Monaten forderte schließlich eine wachsende Zahl von Agrarministern der Länder, das EU-Gesetz zur Wiederherstellung der Natur zu übergehen. Das Gesetz war nach langem Ringen zwischen den Mitgliedsstaaten erst im Jahr 2024 verabschiedet worden und sieht vor, dass Maßnahmen ergriffen werden, um geschädigte Ökosysteme zu restaurieren.
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