Direkt zum Inhalt

C.G. Jung: Der Mann, den sie Siegfried nannten

Am 26. Juli 1875 Jahren wurde Carl Gustav Jung geboren. Bis zum Bruch mit Sigmund Freud im Jahr 1913 galt der Schweizer Psychiater als dessen legitimer »Kronprinz« und wichtigster Fürsprecher der jungen Psychoanalyse. Eine Spurensuche in C.G. Jungs frühen Jahren.
Ein Schwarz-Weiß-Porträt eines Mannes mit Brille und Schnurrbart. Der Mann schaut direkt in die Kamera.
Carl Gustav Jung (1875–1961) ist der Begründer der analytischen Psychologie.

»Heiß.« »Kalt.« »Frau.« »Mann.« »Liebe.«– »Hochzeit.« »Kind.«… »Haben.« »Mutter.«… – »Tod.«

Der Test nimmt schier kein Ende. Wort für Wort arbeitet der Versuchsleiter seine Liste ab, ohne eine Miene zu verziehen. Er liest mit monotoner Stimme einen Begriff nach dem anderen vor, worauf die Probandin jedes Mal mit dem erstbesten Wort antworten soll, das ihr dazu einfällt. Währenddessen umfasst sie mit den Händen zwei kleine Metallkolben, die mit einem Galvanometer verbunden sind. Durch die Apparatur fließt ein schwacher Gleichstrom, sodass sich kleinste Änderungen des elektrischen Hautleitwerts registrieren lassen. Nach dem gleichen Prinzip funktioniert Jahrzehnte später der Lügendetektor.

Das sogenannte Assoziationsexperiment soll unbewusste seelische Reaktionen zum Vorschein bringen, die die verlesenen Begriffe auslösen. Die Liste umfasst 100 Wörter, das dauert seine Zeit. Kaum ist sie abgearbeitet, geht man sie ein weiteres und oft sogar drittes Mal durch, da Abweichungen von den ersten Antworten weiteren Aufschluss versprechen. In die Auswertung fließen neben dem Wortsinn und Charakter der produzierten Begriffe auch Tempo, Intonation, eventuelles Stottern oder Vertauschen von Wörtern sowie eben die Hautreaktion ein. Welche Reizwörter wühlen die Kandidatin auf? Bei welchen zögert sie oder hat abseitige, ungewöhnliche Assoziationen? Aus alldem zieht eine Riege junger Psychiater am Züricher Burghölzli Rückschlüsse auf das, was sie »gefühlsbetonte Vorstellungskomplexe« nennen: emotional aufgeladene, verborgene Wünsche und Gedanken einer Person.

Der gewissenhafte Arzt Franz Riklin (1878–1938) lernt die Methode kurz nach der Jahrhundertwende bei einem Gastaufenthalt an der Münchner Universitätsklinik bei Emil Kraepelin (1856–1926) kennen und bringt sie von dort mit ans Burghölzli – so heißt ein Hügel mit Weinberg am Rande von Zürich, auf dem seit 1870 eine einzigartige Heilanstalt für psychisch Kranke steht. Die Betroffenen sollen hier nicht bloß verwahrt, sondern kuriert werden, so das Ziel. Chef der burgartigen Anlage, die von einer drei Meter hohen Mauer umschlossen wird, ist seit 1898 der Psychiater Eugen Bleuler (1857–1939). Er und sein Assistent Carl Gustav Jung erkennen das Potenzial der Assoziationsmethode, als Riklin ihnen diese erläutert. Man beschließt umgehend, das Verfahren an den eigenen Patienten, an Hysterikerinnen, Wahnsinnigen, Dementen, Alkoholikern, aber auch zu Vergleichszwecken an Gesunden zu erproben. 1904 erscheinen die ersten von Jung und Riklin verfassten Arbeiten über das Assoziationsexperiment.

Wilhelm Wundt (1832–1920), der Urvater der experimentellen Psychologie, hatte die Methode an seinem weltberühmten Leipziger Institut ebenfalls schon seit Langem eingesetzt. Ursprünglich ging der Versuch, aus den spontanen Antworten auf Reizwörter die psychische Verfassung eines Menschen zu erschließen, allerdings auf einen eigenwilligen englischen Gentleman zurück: Sir Francis Galton (1822–1911).

Er hatte 1883 ein Buch mit dem Titel »Inquiries into Human Faculty and its Development« veröffentlicht, eine Sammlung von lebenskundlichen Themen. Unter anderem ging es darin um die Eigentümlichkeiten der Selbstbeobachtung. Bei einem Spaziergang auf der Londoner Pall Mall hatte Galton bemerkt, dass viele Personen, Häuser, Geschäfte und andere Objekte Erinnerungen und Bilder aus seiner Jugendzeit weckten und Gedankenketten in Gang setzten. Penibler Sammler, der er war, notierte Galton schließlich gut 300 Dinge, zu denen er eine oder mehrere Assoziationen hatte. Viele davon wiederholten sich. Es schien, als würden seine Gedanken wie Schauspieler auf die Bühne des Bewusstseins drängen, um kurz darauf hinter der Kulisse zu verschwinden und andernorts wieder zu erscheinen. Es müsse, so Galton, »tiefere Schichten der mentalen Verrichtungen« geben, die eingeprägte Erfahrungen konservierten. Dies war der Ausgangspunkt jener Vorstellungskomplexe, mit deren Erforschung sich die Züricher Psychiater zu Beginn des 20. Jahrhunderts an die Spitze der Nervenheilkunde setzten.

Jung und seine Kollegen vermuten, dass sogar vermeintlich wirre Fantasien von Psychotikern in einem inneren Zusammenhang stehen und sinnvoller sind, als es auf Anhieb erscheint. Ihre Halluzinationen, die oft aufwühlenden Bilder und Gedanken, folgen demnach Mustern. Der Wahnsinn hat Methode, und die Seelenforschung kann sie mithilfe des Assoziationsexperiments dechiffrieren, ist Jung überzeugt. Nirgends setzt man die Technik kreativer und systematischer ein als am Burghölzli. In hunderten Testserien begeben sich Jung, Riklin und Kollegen auf Spurensuche nach dem Unbewussten.

Die Psychoanalyse als Assoziationsexperiment?

Mit Sigmund Freuds (1856–1939) Verdrängungslehre scheinen sich ihre Befunde bestens zu vertragen: Zögern Probanden mit einer Antwort besonders lange oder nennen sie sehr emotionale Wörter, so deutet dies auf ein Trauma, eine verschüttete Erinnerung oder eine Wunschfantasie hin. Jung erklärt: »Ich weise in meinen Arbeiten schon längere Zeit darauf hin, dass das von mir ausgebildete Assoziationsexperiment im Prinzip die gleichen Resultate liefert; wie die Psychoanalyse eigentlich gar nichts anderes ist als ein Assoziationsexperiment.« Jungs Ansatz, die Knotenpunkte des Unbewussten freizulegen, verschafft der Psychoanalyse die von Freud ersehnte wissenschaftliche Bestätigung. Denn bis dahin ist sie nicht viel mehr als das Steckenpferd eines unbekannten Wiener Nervenarztes. Mithilfe der Schweizer, hofft dieser, wird ihm endlich die gebührende Anerkennung der Fachwelt zuteilwerden.

Psychoanalytiker der ersten Stunde | Im Jahr 1909 waren Sigmund Freud (links außen) und C.G. Jung (rechts außen) gemeinsam zu Gast an der Clark University in Worcester, Massachusetts. Freud erhoffte sich von Jung in dieser Phase eine wissenschaftliche Fundierung seiner Psychoanalyse. Die weiteren Psychologen und Mediziner auf dem Foto sind der US-Amerikaner Abraham Arden Brill, der Brite Alfred Ernest Jones und der Ungar Sándor Ferenczi (stehend von links) sowie der US-Amerikaner Granville Stanley Hall (sitzend in der Mitte).

Allerdings sind längst nicht alle Experten überzeugte Freud-Anhänger wie Jung. Ende Mai 1906 fährt der Psychiater Gustav Aschaffenburg (1866–1944) eine scharfe Attacke gegen die psychoanalytische Deutung des Assoziationsexperiments. Ihm zufolge offenbaren die Reaktionen im Test keineswegs unbewusste sexuelle Wünsche und Konflikte – diese ließen sich nur aus weitreichenden Prämissen ableiten, die alles andere als zwingend seien. Die Züricher zögen aus Inhalt und Latenz von Wörtern, die vielfältige Quellen hätten, unzulässige Schlussfolgerungen und legten mehr Bedeutung hinein, als das Ganze habe.

Aschaffenburg zitiert einen Fall aus Jungs Habilitationsschrift »Diagnostische Assoziationsstudien«. Einer zwangsneurotischen Patientin, die Jung im letzten Kapitel seiner Arbeit vorstellt, fällt zum Reizwort »Baum« ohne Umschweife »Pflaume« ein. Daraufhin erklärt Jung: »Pflaume ist, wie Zwetschge, bei uns ein sehr beliebtes Sexualsymbol der Umgangssprache.« In einer weiteren Assoziationsreihe zögert die Patientin bei den Wörtern »gelb«, »Sitte«, »verachtet«, »lieb«, »Teil«, »alt« und nennt mehrfach das Wort »Kind«. Jungs Fazit lautet: »Die Patientin fühlt sich alt, hässlich, empfindet ihren gelblichen Teint unangenehm, ihrem Körper schenkt sie eine ängstliche Aufmerksamkeit; es gefällt ihr namentlich nicht, dass sie so klein ist. Sie hat vermutlich großes Verlangen nach Verheiratung, sie wäre einem Manne gewiss eine liebevolle Frau, sie hätte gern Kinder. Unter diesen wenig verdächtigen erotischen Symptomen scheint aber ein sexueller Komplex zu liegen, den [die] Patientin stärker zu verdrängen allen Grund hat. Es sind Anzeichen da, die darauf schließen lassen, dass sie ihrem Genitale eine mehr als gewöhnliche Aufmerksamkeit schenkt; das kann bei einem anständigen und gebildeten Fräulein eigentlich nur Onanie bedeuten.«

Kritik an der Assoziationsmethode

Aschaffenburg reagiert entgeistert. »Hier versagt mir völlig die Fähigkeit des Folgens. Ich kann nicht zugeben, dass diese Deutung irgendwelchen Anspruch auf Wahrscheinlichkeit erheben kann.« Ein Grund für seine Skepsis ist, dass viele Assoziationen schlicht Gewohnheiten folgten: Spontane Einfälle seien nicht unbedingt Ausdruck des innersten Seelenlebens, sondern reflektierten womöglich einfach, was einem zuvor begegnet sei oder klanglich verknüpft werde. Auf »groß« folge so »klein«, auf »Tisch« »Stuhl« und auf »Maus« »Haus«. Und da nie alle Gewohnheiten und Lebensumstände einer Person bekannt seien, könne man nicht wissen, ob nicht banale Alltagserlebnisse in die Antworten einflössen. Kurz: Die Züricher, so Aschaffenburg, sähen in den Äußerungen, was sie sehen wollten, und redeten das dann ihren Patienten ein. Das sei, wie die Psychoanalyse insgesamt, eine originelle Form der Suggestion: »Freuds Art des Vorgehens ist eine Assoziationsmethode. Der Patient erzählt wahllos, was ihm einfällt. Nun gibt aber der Untersuchende durch Fragen und gelegentliche Deutungen eine bestimmte Richtung, und zwar eine Richtung, die zu sexuellen Deutungen führt.«

Jung sieht das ganz anders. Ihm zufolge hat er bei der zwangsgestörten Patientin, die fürchtet, sie könne den Tod anderer Menschen verschulden, zahlreiche sexuelle Fantasien freigelegt. Diese lösen in der Frau Unbehagen aus, sodass das Bewusstsein eine »Deckursache«, einen vermeintlich plausiblen Grund sucht und die Tötungsfurcht konstruiert. Wie sich herausstellt, hat die Frau als Kind einmal die Eltern beim Koitus belauscht. Die verdrängte Erinnerung daran löse, so Jung, obsessive Beschäftigung mit dem Geschlechtsakt aus. Ob eine junge Frau womöglich auch ohne Lauschtrauma sexuelle Fantasien hegt, kümmert Jung nicht. Für ihn erklärt der seelische Druck, den das Geheimnis der Patientin erzeugt, ihre Fixierungen und Ängste. »Ein dauerndes Niederhalten der krankhaften Vorstellungen gelingt nur einer starken Energie, Zwangsmenschen sind schwach, sie sind unfähig, ihre Vorstellungen im Zaume zu halten.«

In seiner Autobiografie »Erinnerungen, Träume, Gedanken« schildert Jung auch die Behandlung einer Lebensmüden im Burghölzli. Die Frau hatte, gequält von Liebeskummer, ihre beiden Kinder Schmutzwasser aus einem Fluss trinken lassen. Die vierjährige Tochter erkrankte daraufhin an Typhus und starb, kurz danach kam ihre Mutter in die Psychiatrie. Jung schreibt: »Die Tatsache, dass sie eine Mörderin war, und viele Einzelheiten ihres Geheimnisses hatte ich aus dem Assoziationsexperiment ersehen, und es war mir klar, dass hier der zureichende Grund ihrer Depression lag.« Wie Einzelheiten eines so gravierenden Geheimnisses aus den Reaktionen auf Reizwörter zu erschließen seien, verrät Jung nicht – ein »mir war klar« muss als Begründung genügen.

Trotz solcher Unwägbarkeiten zählt das Assoziationsexperiment Anfang des 20. Jahrhunderts zu den schärfsten Schwertern der bis dahin dürftigen psychiatrischen Diagnostik. Zwar kennt man eine Reihe typischer Symptome und Verläufe, etwa Störungen des Denkens, der Wahrnehmung und des Gefühlslebens, doch sie fügen sich nicht schlüssig zu differenzierbaren Krankheitsbildern zusammen. So sortiert man die meisten Patienten einfach in eine von zwei Schubladen ein, die auf Emil Kraepelin zurückgehen: manisch-depressives Irresein sowie Dementia praecox (zu Deutsch: »vorzeitige Verblödung«). Außerdem kursieren Modesyndrome wie Somnambulismus (Bewusstseinstrübung mit tranceartigen Eingebungen), Neurasthenie (nervöse Unruhe und Ängstlichkeit) und eben Hysterie.

Auch auf Grundlage der Assoziationsstudien schlägt Burghölzli-Chef Eugen Bleuler auf einem wissenschaftlichen Kongress Ende 1908 vor, die »vorzeitige Hirnerweichung«, wie die Dementia praecox auch genannt wird, in »Schizophrenie« umzutaufen. Das soll zum Ausdruck bringen, dass nicht das Versagen der geistigen Fähigkeiten, sondern eine Abspaltung des Denkens und Fühlens von der Realität im Zentrum steht. Die psychotische Störung, von der die meisten Patienten im Burghölzli betroffen sind, fasziniert Jung. Da er nicht an Zufälle glaubt, vermutet er in den Fantasien eine verborgene Tiefenstruktur. Doch wie lässt sich dieses Gewebe aufklären? Das beste Mittel scheint ihm zu sein, die Assoziationen der Betreffenden exakt zu vermessen, ohne sie von außen zu lenken. Ob der Versuchsleiter sie (unbewusst) nicht doch mehr lenkt, als er ahnt, ist die Frage.

Der Assoziationstest ist ein früher Vertreter jenes Genres psychologischer Verfahren, die statistische Wahrscheinlichkeiten in eindeutige Urteile über den Einzelfall ummünzen. Dazu zählt auch der von dem späteren Burghölzli-Psychiater Hermann Rorschach (1884–1922) entwickelte Tintenkleckstest, bei dem die Geschichten, die Probanden über symmetrische Muster erfinden, etwas über ihre seelische Verfassung verraten sollen. Oder eine Methode, die ein halbes Jahrhundert später an US-amerikanischen Gerichten in Mode kommt: der Polygraph oder Lügendetektor. Hier wird verborgenes Wissen etwa über ein Verbrechen aus dem Grad der emotionalen Erregung oder Nervosität beim Beantworten tatrelevanter Fragen erschlossen. Absolut wasserdicht ist die Methode zwar nicht; schließlich können Kandidaten auch nervös sein, ohne etwas mit der Sache zu tun zu haben, während gerade kaltblütige Psychopathen vielleicht gar nicht mit der Wimper zucken. Dennoch lässt man Hirnstromprofile häufig als Beweismittel in Prozessen zu.

Jung nützt der Sache Freuds

Jung selbst schreibt über die Frage, ob sein Assoziationstest zur Deliktermittlung tauge, eine Arbeit mit dem Titel »Zur psychologischen Tatbestandsdiagnostik«, die 1905 fast zeitgleich mit Freuds Klassiker »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie« erscheint. Inzwischen hat sich Zürich neben Wien als zweites Zentrum der Psychoanalyse etabliert. Das Renommee des Burghölzli hebt die Chancen, international Fuß zu fassen. Denn ein versprengter Haufen niedergelassener Ärzte, die sich über ihre Fälle austauschen, kann kaum mit der geballten Schweizer Fachkompetenz konkurrieren. Freud erkennt, dass Jung seiner Bewegung mehr Anerkennung sichern würde, als er selbst es je vermochte. Also setzt er alles daran, den Schweizer, den viele Freud-Jünger ob seiner arischen Abstammung »unseren Siegfried« nennen, für seine Sache zu gewinnen.

Jungs Haus am Zürichsee | Sein Haus in Küsnacht hatte C.G. Jung selbst mit entworfen. Dort praktizierte er auch. Das Foto zeigt ihn im Jahr 1950 vor seinem Wintergarten.

Jungs Ideenreichtum und Stolz bereiten allerdings schon seinem Chef Bleuler Kopfschmerzen. Dieser hat Mühe, den Oberarzt von lästigen Arbeiten zu überzeugen, die ihm in seiner Position durchaus zuzumuten sind; Anweisungen nimmt Jung nur ungern entgegen. Als sich Auguste Forel (1848–1931), Bleulers Vorgänger als Burghölzli-Direktor, bei einem Besuch in Zürich nach dem Stand der Forschungen erkundigt, fragt er erstaunt: »Wer ist eigentlich der Chef in dieser Klinik, Doktor Bleuler oder Herr Jung?« Letzterer strotzt so vor Selbstbewusstsein, dass es ihn kaum zu interessieren scheint, wer unter ihm Chef ist.

Jungs Ego gründet auch in seiner Herkunft: Der am 26. Juli 1875 geborene Spross einer Familie von Geistlichen wächst in Kleinhüningen nahe Basel auf. Sein Vater Johann Paul Achilles Jung ist Dorfpfarrer, die Mutter Emilie die Tochter von Samuel Preiswerk, ebenfalls ein bekannter Kirchenmann. Der Großvater väterlicherseits, Carl Gustav Jung, der Ältere, hielt sich für ein uneheliches Kind Goethes – eine Legende, die Jung stolz weiterverbreitet. Mit dem Werk des Dichterfürsten fühlt sich auch der Enkel zeitlebens verbunden. Eine ebenso alte Familientradition ist der Hang zum Übersinnlichen: Jungs Cousine Helene Preiswerk übermittelt als erfolgreiches Medium in Hunderten von Séancen und okkulten Treffen Botschaften aus dem Jenseits – bis sie eines Tages des Betrugs überführt wird.

Jungs eigene Imaginationsgabe zeigt sich früh. Er hat von Kindesbeinen an lebhafte Träume; in einem träumt der Zehnjährige, ein kolossaler Kothaufen falle vom Himmel herab und begrabe das altehrwürdige Basler Münster unter sich. Für Jung ist das ein Zeichen, die Laufbahn seines Vaters nicht zu verfolgen. Eine Neigung zum Spirituellen ist ihm dennoch zeitlebens eigen. Unter anderem mit dem theoretischen Physiker und Nobelpreisträger Wolfgang Pauli, der in Zürich lehrt, tauscht er sich intensiv über die Zusammenhänge von Geist und Materie aus.

Promotion über Spiritismus und Psyche

1895 beginnt Jung, in Zürich Medizin zu studieren, spezialisiert sich auf die Psychiatrie und tritt 1900 als Mitarbeiter ins Burghölzli ein. Zum Ende des Studiums 1902 rechnet er in seiner Schrift »Zur Psychologie und Pathologie sogenannter okkulter Phänomene« mit dem Spiritismus seiner Cousine ab – wohl auch aus Rücksicht auf seine wissenschaftlich denkenden Professoren. »In der Dissertation«, schreibt die Jung-Biografin Deirdre Bair, »wollte er deutlich machen, dass spirituelle Kräfte aus bestimmten psychischen Zuständen entstehen und nichts mit dem sogenannten Übernatürlichen zu tun haben.« Da Jung unverblümt eigene Erfahrungen mit den Séancen Preiswerks ausplaudert, ist das Verhältnis zur Familie mütterlicherseits fortan getrübt.

Trotz seiner strengen Ausbildung bleiben Gedankenübertragung und Präkognitionen für Jung unbestreitbare Realität. Das zeigt eine Episode bei seinem ersten Besuch in Wien im Frühjahr 1907. Am 3. März trifft er mit seiner Frau und dem Burghölzli-Kollegen Ludwig Binswanger (1881–1966) bei Freud in der Berggasse ein. Freud und Jung unterhalten sich bei ihrer ersten Begegnung fast 13 Stunden lang, von mittags bis tief in die Nacht. Als sie noch spätabends in Freuds Arbeitszimmer debattieren, ertönt plötzlich ein Knacken in der Schrankwand, die den hinteren Teil des Zimmers beinah ganz ausfüllt. »Das war ein katalytisches Exteriorisationsphänomen«, erklärt Jung. Ein Wunder, dass er das nach so langer Unterredung mit Freud noch flüssig über die Lippen bringt. Als »Exteriorisation« bezeichnet man die mutmaßliche Fähigkeit des Geistes, auf die physische Welt einzuwirken. Jung hält das Geräusch für die Folge jenes Energieüberschusses, den ihr Gedankenaustausch auslöste. Freud erwidert trocken: »Ach, das ist ja ein leibhaftiger Unsinn.« Das nimmt Jung zum Anlass, noch ein zweites Geräusch vorherzusagen. Und siehe da, nach wenigen Augenblicken »begann der gleiche Krach im Schrank!«. Freud gibt sich weiterhin unbeeindruckt. In seinem rationalistischen Denken ist kein Platz für Okkultes.

Später berichtet Jung über ein weiteres Treffen mit dem Wiener: »Ich erinnere mich lebhaft, wie Freud zu mir sagte: Mein lieber Jung, versprechen Sie mir, nie die Sexualtheorie aufzugeben. Sie ist das Allerwesentlichste. Sehen Sie, wir müssen daraus ein Dogma machen, ein unerschütterliches Bollwerk.« Auf Jungs Nachfrage »Ein Bollwerk – wogegen?« antwortete Freud knapp: »Gegen die schwarze Schlammflut des Okkultismus.«

Tipps der Redaktion
– Spektrum-Autor Steve Ayan im ausführlichen Gespräch mit dem Schweizer Fernsehen über »150 Jahre C.G. Jung und das Erbe der modernen Psychotherapie«
– Steve Ayan im SWR-Streitgespräch »Was bleibt von C.G. Jung?« mit dem Podcaster Jakob Müller sowie der jungianischen Psychotherapeutin Margarete Leibig

Jung erkennt: »Ein Dogma, das heißt ein indiskutables Bekenntnis, stellt man ja nur dort auf, wo man Zweifel ein für alle Mal unterdrücken will. Das hat aber mit wissenschaftlichem Urteil nichts mehr zu tun, sondern nur mit persönlichem Machttrieb.« Kaum zwei Jahre nach dem ersten Zusammentreffen trägt dieser Machttrieb Früchte: Freud und Jung werden gemeinsam zu Vorträgen an einer Eliteuniversität an der US-Ostküste eingeladen.

»Ich verdankte es den Assoziationsstudien, dass ich an die Clark University eingeladen wurde«, schreibt Jung in seiner Autobiografie. »Es waren das Assoziationsexperiment und das psycho- galvanische Experiment, durch welche ich in Amerika bekannt wurde.« Anders als Freud, der den amerikanischen »Dollaronkeln« skeptisch begegnet, knüpft Jung rasch Kontakte zu Unternehmern und einflussreichen Köpfen, die sich für seine Psychologie des Unbewussten interessieren. Dabei hilft ihm der Philosoph James Putnam (1846–1918), ein namhafter Fürsprecher der Psychoanalyse, bei dem er und Freud nach den Feierlichkeiten in Worcester noch einige Zeit in einer Lodge in den Bergen verbringen.

Bereits im Juni 1909, wenige Monate vor der Abreise in die Neue Welt, hat Jung am Burghölzli gekündigt. Das Verhältnis zu Bleuler war seit Langem angespannt. Noch im selben Jahr, kaum aus den USA zurückgekehrt, bezieht Jung mit seiner Frau Emma und den Kindern ein großes, teils selbst entworfenes Haus in Küsnacht am Zürichsee. Dort eröffnet er eine eigene Praxis. Emma Jung, geborene Rauschenbach, zählt zu den reichsten Erbinnen der Schweiz und wird später ebenfalls Analytikerin. Ihr Vater häufte mit der Uhrenmanufaktur IWC ein Vermögen an, das nach seinem Tod 1905 an seine Witwe und die Töchter überging. Da waren Carl Gustav und seine Emma bereits gut zwei Jahre verheiratet. Durch die Vermählung war Jung, der Psychiater mit Zug zum Höheren, nun aller materiellen Sorgen ledig.

Der Artikel ist ein leicht bearbeiteter Auszug aus dem Buch »Seelenzauber«, einem erzählenden Sachbuch über die Anfänge der Psychotherapie von Steve Ayan.

WEITERLESEN MIT »SPEKTRUM +«

Im Abo erhalten Sie exklusiven Zugang zu allen Premiumartikeln von »spektrum.de« sowie »Spektrum - Die Woche« als PDF- und App-Ausgabe. Testen Sie 30 Tage uneingeschränkten Zugang zu »Spektrum+« gratis:

Jetzt testen

(Sie müssen Javascript erlauben, um nach der Anmeldung auf diesen Artikel zugreifen zu können)

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.