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ME/CFS: »Meine Hoffnung ist groß, dass wir bald wirksame Therapien haben«

ME/CFS ist die schwerste Form von Long Covid und macht Millionen Menschen weltweit zu Pflegefällen. Carmen Scheibenbogen von der Berliner Charité über Ursachen, den Versorgungsmangel in Deutschland und Hoffnung auf Medikamente.
Eine Person hält die Hand einer anderen Person, die im Bett liegt. Im Hintergrund ist unscharf medizinisches Equipment zu erkennen. Die Szene vermittelt Fürsorge und Unterstützung in einer klinischen Umgebung.
Therapien für ME/CFS werden derzeit an verschiedenen Instituten weltweit erforscht, stehen aber in der Allgemeinversorgung noch nicht zur Verfügung.

ME/CFS (Abkürzung für Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom) tritt unter anderem als schwerste Ausprägung von Long Covid auf und ist damit stärker ins öffentliche Bewusstsein geraten. Es handelt sich um eine neuroimmunologische Erkrankung, die Millionen Menschen weltweit zu Pflegefällen macht. Es gibt Hinweise darauf, dass Autoantikörper, die körpereigenes Gewebe angreifen, bei einem großen Teil der Patienten die Ursache der Krankheit sind. Trotzdem wird sie mitunter als psychosomatische »Frauenkrankheit« abgetan. Carmen Scheibenbogen von der Berliner Charité gehört zu den führenden ME/CFS-Expertinnen und erklärt im Interview, was über die Ursachen bekannt ist, wie sich die Versorgung in Deutschland verbessern muss und welche Therapien Hoffnung machen.

Frau Scheibenbogen, Sie haben sich der ME/CFS-Forschung gewidmet, lange bevor das Leiden in der Öffentlichkeit bekannt wurde. Mittlerweile weiß man, dass es sich um eine schwere, organische Multisystemerkrankung handelt. Trotzdem fällt in dem Zusammenhang immer wieder der Begriff »Psychosomatik«, auch seitens Fachleuten. Wie ist das zu erklären?

Um das zu verstehen, muss man in die 50er und 60er Jahre des letzten Jahrhunderts zurückblicken. Damals gab es schon Berichte von kleineren Ausbrüchen, etwa in einem Krankenhaus in London. Da es sich bei den Betroffenen meist um Frauen handelte, schob man die Symptome schnell in die Schublade »psychisch bedingt«. Diese Sicht hat sich hartnäckig gehalten, und es wurde lange nicht an den Ursachen geforscht. In der medizinischen Ausbildung an den Universitäten war und ist ME/CFS kaum Thema. Auch fehlen bislang einheitliche Diagnosekriterien und Diagnosemarker. Daher finden die Erkrankten bis heute oft kaum medizinische Versorgung. Seit der Covid-19-Pandemie gibt es zwar langsam ein Umdenken. Die Vorurteile bezüglich einer psychischen oder nicht behandelbaren Krankheit bestehen jedoch in vielen Köpfen weiter.

Carmen Scheibenbogen | Die Hämatoonkologin und Internistin Carmen Scheibenbogen ist Professorin für Immunologie an der Berliner Charité. Sie gehört zu den wenigen Fachleuten in Deutschland, die auf die Erforschung und Behandlung von ME/CFS spezialisiert sind. An der Charité leitet sie die Immundefekt-Ambulanz sowie das Fatigue-Centrum. Gemeinsam mit ihrem Team initiiert sie Forschungsprojekte und erste Therapiestudien sowie wegweisende Versorgungsstrukturen.

Vor Kurzem äußerte sogar die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) Zweifel daran, dass es sich überhaupt um eine primär somatische Erkrankung handelt – und fordert einen stärkeren Fokus auf psychosomatische Konzepte. Was halten Sie von dieser Stellungnahme?

Für die Betroffenen ist sie ein Schlag ins Gesicht. Sie fühlen sich nicht ernst genommen in der Schwere ihrer Erkrankung. In den letzten Jahrzehnten wurden viele Behandlungen auf Basis des psychosomatischen Konzepts empfohlen. Das hat gar nicht geholfen, im Gegenteil. Zu nennen ist etwa die abgestufte Bewegungstherapie, nach der es den Patienten teilweise deutlich schlechter geht als zuvor. Die Stellungnahme ist auch deshalb so problematisch, weil es sich bei der DGN um eine so wichtige, große Fachgesellschaft handelt, die sowohl klinisch als auch wissenschaftlich viel Expertise für diese Erkrankung hätte. Und es handelt sich dabei nun einmal um eine neurologische Krankheit, wie sie die WHO bereits 1968 eingestuft hat. Die Aussagen der DGN sind auch nicht evidenzbasiert, sie berücksichtigen nicht den aktuellen Wissensstand der internationalen Forschung.

Sie wollen trotzdem in den Dialog mit der DGN gehen?

Ja, denn ein Dialog ist immer richtig und wichtig. Auch gibt es kritische Stimmen aus der Gesellschaft selbst. Wir als Deutsche Gesellschaft für ME/CFS werden uns bald mit dem Vorstand der DGN austauschen. Ich sehe hier eine große Chance. Letztendlich wären die Neurologen perfekt aufgestellt, um die Patienten zu versorgen. Es gibt eine Reihe vergleichbarer komplexer Krankheitsbilder wie ME/CFS in der Neurologie. Außerdem sind einige der Medikamente, die wir heute als potenziell wirksam einstufen, bereits bei multipler Sklerose zugelassen. An der Charité arbeiten wir daher seit vielen Jahren sehr eng mit den Neurologen zusammen.

Themenwoche: »Long Covid und ME/CFS«

Für die meisten von uns ist die Covid-19-Pandemie vorbei – nicht so für die vielen Menschen, die mit den Folgen von Long Covid oder ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom) leben müssen. Unsere Themenwoche soll sie sichtbar machen: Schwerstbetroffene, darunter Kinder und Jugendliche. Was weiß man über die Ursachen von ME/CFS? Welche Schäden verursacht das Coronavirus im Gehirn? Welche Rolle spielen reaktivierte Erreger wie das Epstein-Barr-Virus? Und vor allem: Was macht Hoffnung?

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Alle Inhalte zur Themenwoche »Long Covid & ME/CFS: Leben auf Sparflamme« finden Sie auf unserer Übersichtsseite.

Was bedeutet die Stellungnahme in Hinblick auf staatliche Förderungen? 

Viele der Patientinnen und Patienten haben Sorge, dass Forschungs- und Therapiestudien, die sich auf neuroimmunologische Mechanismen fokussieren, nun als weniger relevant eingeordnet werden. Wir von der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS haben sehr schnell ein Statement veröffentlicht, um unseren Standpunkt vor dem Hintergrund des internationalen Wissensstands darzulegen. Ich hoffe daher, dass die DGN-Stellungnahme die Politik nicht maßgeblich beeinflussen wird.

Sie sind also optimistisch, dass seitens des Bundesministeriums für Forschung, Technologie und Raumfahrt (BMFTR) weitere Gelder in die Forschung fließen werden?

Dorothee Bär hat mehrfach und deutlich gesagt, wohin die Förderung gehen soll – zuletzt in der »Hightech-Agenda Deutschland«. Sie hat klar benannt, dass vor allem die Erforschung von Krankheiten wie ME/CFS dringend weiterentwickelt werden muss. Es sollen moderne technische Methoden finanziert werden, in der Biologie etwa Genomik, Proteomik, Transkriptomik und so fort, sowie die künstliche Intelligenz, wie wir sie bereits an der Charité einsetzen. Wir hoffen sehr, dass das jetzt so umgesetzt wird.

Um nochmal auf die Kritik der DGN im Detail einzugehen: Es sei »nicht davon auszugehen, dass immunologische Faktoren eine entscheidende Rolle bei ME/CFS spielen«. So deute etwa der Name ME zwar auf Entzündungen des Hirns und des Rückenmarks hin, diese seien in aller Regel aber nicht nachweisbar. 

Die Sache mit dem Namen – das entfacht immer wieder Diskussionen. Viele solcher Krankheitsbegriffe sind historisch bedingt, wie bei der multiplen Sklerose: Der Name bedeutet einfach »viele Narben«. Auf der Ebene führt die Diskussion also nicht weiter. Und dass man bei ME/CFS keine Entzündungen im Gehirn sieht, ist widerlegt. Zu nennen wäre hier etwa eine aktuelle Veröffentlichung von Akiko Iwasaki von der Yale University. Das Team hat die Hirnflüssigkeit von Betroffenen untersucht und fand bei allen erhöhte Zytokine und Matrix-Metalloproteinasen, also Entzündungsmarker. Und in einer noch nicht publizierten Studie hat Jarred Younger von der University of Alabama at Birmingham mittels PET-Scan die Stoffwechselaktivität im Gehirn der Patienten untersucht und klare Anzeichen für Entzündungen in mehreren Hirnarealen gefunden.

»Für die Betroffenen ist die Stellungnahme ein Schlag ins Gesicht«

Also scheint sich ME/CFS durchaus bereits objektiv beschreiben zu lassen. Welche Befunde gibt es noch?

Studien finden immer wieder einen Zusammenhang zwischen ME/CFS und Autoantikörpern, also Proteinen des Immunsystems, die sich gegen körpereigenes Gewebe richten. Besonders eindrücklich sind Arbeiten aus Yale und Amsterdam, bei denen Autoantikörper von ME/CFS- und Post-Covid-Patienten auf Mäuse übertragen wurden. Die Tiere entwickelten daraufhin sehr ähnliche Symptome. Außerdem ist gerade eine große genetische Studie erschienen, bislang ebenfalls nur im Preprint. Hier fanden sich besondere Genvarianten bei ME/CFS – und viele betreffen immunologische und neurologische Funktionen. Sie gehen einher mit einem erhöhten Risiko für Autoimmunität und einer verminderten Infektabwehr sowie mit neurologischen Signalveränderungen. Das passt genau zu dem neuroimmunologischen Krankheitskonzept, das wir und viele andere Wissenschaftler haben. Dank der Forschungsförderung im Zuge der Pandemie gibt es einen rasanten Zuwachs an Erkenntnissen.

Bei ME/CFS findet man auch Veränderungen in den Mitochondrien, also den Kraftwerken der Zellen, sowie zerebrale Durchblutungsstörungen und Muskelschäden. Wie hängt das alles zusammen?

Das ist in der Tat eine wichtige Frage. So müssen die vielen einzelnen Befunde natürlich am Ende zusammenpassen, sonst hat man die Erkrankung nicht verstanden. Ich habe gemeinsam mit einem Pharmakologen, Professor Klaus Wirth, der viel Erfahrung mit autonomer Steuerung der Durchblutung hat, versucht, die Befunde aus der Forschung in ein umfassendes Krankheitsmodell einzuordnen.

Das wäre?

Im Fokus unserer Forschung stehen Autoantikörper, die an Stressrezeptoren binden. Diese Stressrezeptoren sorgen unter anderem dafür, dass sich bei Belastung die Blutgefäße weiten. Die Steuerung des autonomen Nervensystems ist bei ME/CFS gestört, das weiß man schon lange: So schlägt das Herz zu schnell, die Durchblutung wird bei Belastung nicht angepasst. Eine mögliche Ursache könnten solche Autoantikörper sein, die sich an den Beta-2-Rezeptor heften. Wir konnten zeigen, dass der Rezeptor dadurch nicht mehr richtig funktioniert, und das könnte auch dazu führen, dass zu wenig Blut im Gehirn und bei der Muskulatur ankommt. Das würde tatsächlich das gesamte Krankheitsbild erklären.

Passt das zu dem Kernsymptom von ME/CFS, der post-exertionellen Malaise, dem Crash nach einer Belastung?

Ganz wichtig sind hier die aus Muskelbiopsien gewonnenen Erkenntnisse der letzten zwei Jahre. Ihnen zufolge sind die Mitochondrien in den Muskeln der Betroffenen verändert. Ihre Leistung ist vermindert und sie stellen nicht genug Energie bereit. Die unzureichende Durchblutung kann auch hier die Ursache sein. Denn Mitochondrien erzeugen Energie mithilfe von Sauerstoff und Wasserstoff. Wenn dieser Prozess nicht stattfinden kann, weil zu wenig Sauerstoff bei Belastung in die Muskeln gelangt, wird der Zucker so abgebaut, dass mehr Protonen entstehen. Der Muskel wird in der Folge sauer, es kommt zu einer Überladung mit bestimmten Salzionen. Das muss der Muskel schnell korrigieren, sonst wird er geschädigt. Er kann das aber nur, wenn er Energie hat. Ohne sie setzt er selbst gewisse Faktoren frei, um die Durchblutung zu verbessern. Er schreit förmlich nach Sauerstoff und die freigesetzten Stoffe können auch Schmerzen auslösen. Das erklärt auch die zeitliche Verzögerung des Crashs nach einer Belastung und warum dann der ganze Körper schmerzt. Manche entwickeln sogar leichtes Fieber.

Also beruhen die Muskelschäden nicht einfach auf einem Bewegungsmangel, wie oft behauptet?

Richtig. Das hat eine Amsterdamer Arbeitsgruppe um Rob Wüst widerlegt. Das Team hat die Muskeln von ME/CFS-Betroffenen punktiert, bevor und nachdem sie einer Belastung ausgesetzt waren. Die Auswertung der Biopsien ergab Schäden in der Muskulatur. In einer zweiten Studie wurden die Muskeln von gesunden Menschen, die sechs Wochen im Bett gelegen hatten, mit denen der Patienten verglichen. Nur bei den Gesunden zeigte sich ein deutlicher Muskelschwund. Somit konnte Wüst beweisen, dass ME/CFS nicht einfach eine Folge von Inaktivität ist. Er hat auch gezeigt, dass die Gefäße bei den Betroffenen verengt sind und ihre Membranen verdickt. Das wiederum könnte die Folge von chronischen Entzündungen sein, möglicherweise durch Sars-CoV-2.

Sind diese Vorgänge unabhängig davon, ob sich das Virus noch im Körper befindet?

Das ist eine wichtige Forschungsfrage. Man weiß, dass bei einigen Menschen Sars-CoV-2 noch längere Zeit nach der Infektion zu finden ist, zum Beispiel im Darmgewebe. Wir haben dazu auch eine Studie gemacht, konnten das charakteristische Spike-Protein des Virus bei ME/CFS jedoch nur noch bei etwa zehn Prozent nachweisen – genauso wie bei den gesunden Kontrollen. Es gab zudem zwei randomisierte US-Studien zu Paxlovid, einem antiviralen Medikament. Den Long-Covid-Patienten ging es aber nicht besser, wenn sie es eingenommen haben. Diese Befunde sprechen dagegen, dass eine anhaltende Virusinfektion die Symptome auslöst. Wenn der Erreger in den Gefäßen war und diese entzündet sind, dann könnte es einfach sehr lange dauern, bis das ausheilt, und auch Folgeschäden sind möglich.

Also könnte ME/CFS zu bleibenden Schäden führen, die nicht mehr rückgängig zu machen sind?

Ich würde sagen, meistens nein. Dazu gibt es inzwischen auch Daten aus Behandlungsstudien. Eine der Patientinnen aus einer norwegischen Studie war 35 Jahre lang an ME/CFS erkrankt und ist nach einer Behandlung fast vollständig genesen.

Erzählen Sie uns mehr über diese Therapieansätze. Worum handelt es sich dabei?

Die vielversprechendsten Ansätze basieren auf monoklonalen Antikörpern, die sich gegen Zellen richten, die Autoantikörper produzieren – also gegen B- oder Plasmazellen. Dazu gab es vor über zehn Jahren bereits eine Pionierstudie aus Norwegen mit dem Wirkstoff Rituximab. Viele der damit Behandelten sprachen gut darauf an und manche auch anhaltend; sie waren teilweise komplett geheilt. Leider kam dann die klinische multizentrische Studie zu einem negativen Ergebnis.

»Eine der Patientinnen war 35 Jahre lang an ME/CFS erkrankt und ist mittlerweile weitgehend genesen«

Weiß man warum?

Das hatte viele Gründe. Zum einen war vermutlich die Dosis nicht ausreichend, zum anderen verfügten vier der Zentren über weniger Erfahrung und haben möglicherweise nicht die richtigen Patienten eingeschlossen. Heute gibt es effektivere B-Zell-Antikörper mit weniger Nebenwirkungen. Zudem geht man einen Schritt weiter und entfernt gleich die Plasmazellen, also die reifen B-Zellen.

Gibt es hier bereits publizierte Ergebnisse?

Die Norweger haben dazu im Juli eine erste Studie veröffentlicht. Sie behandelten zehn ME/CFS-Patientinnen in einer Pilotstudie mit einem bereits zugelassenen Antikörper gegen Plasmazellen. Sechs der Frauen haben sehr gut und schnell darauf angesprochen und fünf von ihnen sind tatsächlich weitestgehend genesen. Darunter auch die erwähnte Patientin, die schon seit 35 Jahren erkrankt war. Jene vier, denen es nicht besser ging, haben eines gemeinsam: Sie haben unter der Therapie deutlich reduzierte natürliche Killerzellen entwickelt, die es für die Wirksamkeit des Medikaments braucht. Das ist leider eine der Einschränkungen.

Bei ME/CFS scheint es ja grundsätzlich so zu sein, dass die erprobten Mittel nicht für alle Betroffenen geeignet sind. Es gibt also klinische Subgruppen?

Wir wissen inzwischen recht gut, dass es Untergruppen gibt. Zum Beispiel hat Akiko Iwasaki klar gezeigt, dass es im Gehirn zwei unterschiedliche Entzündungsmuster gibt. Wir von der Charité arbeiten seit drei Jahren in einem Verbundprojekt daran. Hier schauen wir uns unter anderem die Immunzellen im Blut der Patienten an. Zwar finden sich bei allen entzündliche Muster, es zeigen sich jedoch auch bei uns zwei Untergruppen. Interessanterweise sind die Muster unabhängig davon, ob die Menschen infolge einer Infektion mit dem Epstein-Barr-Virus oder Sars-CoV-2 erkrankt sind.

Also muss sich die Therapie entsprechend daran ausrichten?

Birgit Sawitzki vom Berlin Institute of Health beschäftigt sich mit den autoimmunologischen Profilen von ME/CFS-Betroffenen und fand bei einem Teil von ihnen Muster im Blut, die wir so ähnlich auch bei anderen Autoimmunerkrankungen sehen. Dabei handelt es sich um bestimmte Veränderungen in den B-Zellen, aber auch in solchen T-Zellen, die B-Zellen aktivieren. In unserer Studie haben drei Viertel der Erkrankten auf eine Immunadsorption angesprochen, bei der man Autoantikörper aus dem Blut entfernt – und nur diese Subgruppe hatte das besagte Muster. Also, ja: Wir haben verschiedene medizinische Cluster bei ME/CFS, und im nächsten Schritt muss die Behandlung danach ausgerichtet werden. Es werden momentan auch andere Therapien geprüft, etwa solche, die sich gegen Entzündungen richten. Das ist alles eigentlich nicht überraschend. Bei multipler Sklerose gibt es ebenfalls immunologische Subtypen, die unterschiedlich auf Behandlungen ansprechen.

Welche weiteren Behandlungsansätze erproben Sie an der Charité aktuell?

Wir haben 2022 eine Studienplattform aufgebaut, die NKSG (Nationale Klinische Studiengruppe), die vom Bund gefördert wurde. Hier kombinieren wir Forschung mit Therapiestudien und haben verschiedene Behandlungsoptionen ausprobiert: etwa Immunadsorption und hochdosiertes Prednisolon, um Entzündungen zu bremsen. Außerdem testen wir ein Medikament namens Vericiguat zur besseren Durchblutung sowie die hyperbare Sauerstofftherapie. Begleitend dazu haben wir alle Teilnehmenden umfangreich untersucht. Wir verglichen Blutmarker vor und nach den Behandlungen, außerdem haben wir eine Gefäßdiagnostik und funktionelles MRT des Gehirns durchgeführt. Dabei haben wir viel gelernt und die Resultate auf unserer internationalen ME/CFS-Konferenz im Mai 2025 vorgestellt. Wir konnten etwa nachweisen, dass es bei ME/CFS funktionelle Veränderungen im Gehirn gibt, die sich unter der Sauerstoffhochdrucktherapie normalisieren. Die Ergebnisse haben wir gerade zur Veröffentlichung eingereicht.

Wie sieht so eine Sauerstoffhochdrucktherapie aus?

Hierbei wird reiner Sauerstoff in einer Überdruckkammer eingeatmet. Dazu gibt es bereits kontrollierte Studien bei Long Covid. Sie zeigen, dass sich vor allem die Kognition und die Fatigue anhaltend bessern. Wir an der Charité haben das mit ME/CFS-Erkrankten durchgeführt. Dabei ging es um die Frage: Können Schwerstbetroffene überhaupt wiederholt für mehrere Wochen in die Druckkammer – und wenn ja, hilft das? Ein Drittel zeigte tatsächlich klare Verbesserungen in der körperlichen Leistung, der Fatigue und Denkfähigkeit. Objektive Messungen sollen nun klären, für wen genau sich das eignet. Denn zwei Drittel sprachen nicht so gut darauf an. Auch gibt es noch keine Langzeitdaten. 

Eine Hoffnung war ja auch, dass Naltrexon (LDN) und Aripiprazol (LDA), welche das Immunsystem beeinflussen, bei ME/CFS helfen könnten. Wie sieht es damit aus?

Zu LDN liegen drei Studien vor, die allerdings keine Kontrollgruppen hatten. Aktuell laufen zwei randomisiert kontrollierte US-Studien. Im Fachmagazin »PNAS« erschien eine Arbeit der Harvard University mit Erfahrungsberichten von 4000 Betroffenen. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass das Mittel bei vielen wirkt und nebenwirkungsarm ist. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte hat LDN auf die Liste der empfohlenen Off-Label-Medikamente für Long Covid genommen. Zu LDA gibt es weniger Daten. Es sieht aber so aus, als gäbe es hier mehr Nebenwirkungen.

Manche Stoffe wie Oxalacetatzielen darauf ab, die Funktion der Mitochondrien zu verbessern. Wie ist die Datenlage?

Zu Oxalacetat gibt es zwei Studien, davon eine mit einer Placebokontrolle bei Long-Covid- und ME/CFS-Patienten. Auch hier verbesserten sich Fatigue und Kognition. Allerdings ist das Mittel sehr teuer, da es speziell verkapselt werden muss. Ich würde es daher in Anbetracht der eingeschränkten Datenlage nicht empfehlen.

Gibt es Alternativen dazu?

Ja, es existieren andere Mittel, die die Funktion der Mitochondrien verbessern können. Zum Beispiel gibt es Daten aus kleinen Studien mit Carnitin oder Alpha-Ketoglutarat. Das Letztere wurde bereits bei anderen Erkrankungen untersucht. Möglicherweise hat es eine ähnliche Wirkung wie Oxalacetat, ist jedoch deutlich günstiger. Aber bei solchen Therapien gibt es noch viele Fragezeichen.

Manchmal hört man auch von Nikotinpflastern zur Behandlung.

Zu Nikotinpflastern gibt es fast nur Daten von Patientenberichten. Das liegt wohl auch daran, dass sie frei verkäuflich sind. Die Berichte sind sehr heterogen. Die größte Analyse dazu gibt es bei Health Rising. Einigen Betroffenen geht es damit deutlich besser, anderen sogar schlechter oder sie zeigen nur eine kurzfristige Besserung.

Der bisher vielversprechendste Ansatz basiert also auf Autoantikörpern?

Wir haben deutliche Hinweise darauf, dass Autoantikörper bei einem großen Teil der Patienten die Ursache der Krankheit sind. Das ist nicht überraschend, man kennt das auch von rheumatischen Erkrankungen oder multipler Sklerose. Hierfür sind schon viele Medikamente zugelassen. Diese müssen wir jetzt noch in Studien zu ME/CFS prüfen und dann hätten wir für zahlreiche Betroffene eine sehr wirksame Behandlung.

Gerade haben wir eine neue Förderung beantragt beim BMFTR, da wir mehrere monoklonale Antikörper prüfen wollen. Diese entfernen entweder B-Zellen oder Plasmazellen für eine gewisse Zeit aus dem Blut. Wir möchten das wieder mit Biomarker-Untersuchungen begleiten. Wenn wir die Förderung bekommen, dann können wir das alles recht schnell umsetzen. Und danach kommt die Zulassungsstudie. Hierfür haben wir uns angeschaut: Wo gibt es Potenzial in Deutschland, welche Firmen stellen entsprechende Medikamente bereits her? Infrage kommen etwa Sanofi oder Neuraxpharm. Wir hoffen, mit ihnen gemeinsam die Zulassungsstudien machen zu können.

»Wir haben deutliche Hinweise darauf, dass Autoantikörper die Ursache der Erkrankung bei einem großen Teil der Patienten sind«

In der Vergangenheit waren die Pharmafirmen bei ME/CFS ja eher zurückhaltend.

Ja. Sicher ist ein Grund, dass man zu wenig wusste und Medikamentenstudien inzwischen so teuer sind. Daher haben wir dem BMFTR ein entsprechendes Förderprogramm vorgeschlagen. Es gibt außerdem eventuell Möglichkeiten, die Zulassung regulatorisch zu erleichtern, denn das Prozedere ist heutzutage sehr aufwändig. Das gibt uns Hoffnung, in wenigen Jahren die Medikamente zur Zulassung zu bringen. Wir haben zudem Unterstützung von privaten Spendern und Stiftungen, sodass wir eine weitere Studie sogar selbst finanzieren können.

Sie sind also optimistisch, dass bald effektive Behandlungen für ME/CFS verfügbar sein werden?

Meine Hoffnung ist groß. Wenn das alles so funktioniert, wird es in wenigen Jahren für einen relevanten Teil der Patienten wirksame Therapien geben. Das wird das gesamte Feld verändern – dann werden auch die Zweifler still sein und hoffentlich die Neurologen in die Versorgung mit einsteigen.

Warum sind die Neurologen so wichtig?

Die Diagnostik der ME/CFS ist sehr umfangreich, das ist eigentlich nichts für den Hausarzt – ähnlich wie bei multipler Sklerose. Die Neurologen wären ideal geeignet, um die Diagnose zu stellen und die Patienten zu behandeln. Laut den neuen Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA) spielen die Hausärztinnen und Hausärzte die zentrale Rolle. Demnach müssten diese aber auch in der Lage sein, in entsprechende Spezialambulanzen zu überweisen. Aber die gibt es bislang kaum. Da sind in erster Linie eigentlich die Neurologen gefragt, ME/CFS ist nach dem ICD ja auch eine neurologische Erkrankung. Was bislang ebenfalls fehlt, ist eine medizinische Fachgesellschaft, die sagt: Das ist meine Erkrankung, darum kümmere ich mich, da schreibe ich Leitlinien, da bin ich politisch aktiv.

Sie erproben in Berlin bereits ein Versorgungsmodell mit den niedergelassenen Hausärzten.

In unserem Projekt namens PAIS CARE bauen wir in Anlehnung an die GBA-Richtlinien die Versorgungsstrukturen auf. Sie bestehen aus einem Netzwerk von 100 Arztpraxen und den Hochschulambulanzen der Charité. Der Hausarzt macht erst einmal die Diagnostik, und jene Patienten, die schwerer krank sind oder bei denen ein Verdacht auf ME/CFS besteht, können schnell an die Charité überwiesen werden. Die Spezialambulanz behandelt dann zusammen mit den Hausärztinnen und -ärzten. So sollte es eigentlich sein. Wir haben eine Förderung vom Bundesministerium für Gesundheit, um das zu evaluieren und herauszufinden, wie das in der Breite am besten umgesetzt werden kann.

»Das wird das gesamte Feld verändern, dann werden auch die Zweifler still sein«

Solange es nicht ausreichend Spezialambulanzen in Deutschland gibt – woran können sich Hausärzte bei der Versorgung ihrer ME/CFS-Patienten orientieren?

Wir haben in der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS einen umfassenden Praxisleitfaden erstellt – eine Anleitung von der Diagnostik bis zur Therapie. Dieser ersetzt nicht die Spezialambulanz, aber er befähigt jeden Arzt, seine Patienten zu versorgen. Vieles wird in der Breite so schon angewendet, jeder Allgemeinmediziner kennt sich aus mit der Behandlung von Schmerzen, Kreislaufproblemen, Schlafstörungen, also den Einzelsymptomen. Hierfür gibt es bereits viele Medikamente. Das kann zumindest die Symptome lindern und eine gewisse Verbesserung bringen. Passend dazu hat die Österreichische Gesellschaft für ME/CFS einen Leitfaden für die Pflege veröffentlicht. Für die Schwerstbetroffenen, die nicht mehr zu einem Arzt kommen können, bieten wir an der Charité eine digitale Fallkonferenz mit Allgemeinmedizinern, Neurologen und Immunologen an, die fallspezifische Handlungsempfehlungen geben. Von solchen Fallkonferenzen bräuchte man sehr viel mehr.

Zum Schluss: Solange es noch keine Heilung von ME/CFS gibt, ist die Frage der Prävention umso dringlicher. Was kann man tun, um sich vor schweren Long-Covid-Verläufen zu schützen? Welche Rolle spielen etwa Impfungen oder Medikamente?

Die Impfung verringert das Risiko für Long Covid um etwa 50 Prozent. Wenn man schon erkrankt ist, gibt es vielversprechende Daten für Metformin, die aus einer großen, kontrollierten Studie kommen. Es senkt den Blutzuckerspiegel und wird eigentlich bei der Behandlung von Typ-II-Diabetes eingesetzt. Wenn man das Mittel innerhalb von drei Tagen nach der Infektion über einen Zeitraum von 14 Tagen einnimmt, dann vermindert dies das Risiko für Long Covid um zwei Drittel. Allerdings hat man das nur bei Menschen mit einem BMI über 25 getestet, was die Interpretation einschränkt.

Wichtige Begriffe rund um Long Covid

Fatigue: Darunter versteht man eine massive psychische und physische Kraft- und Energielosigkeit. Die Betroffenen sind nicht mehr in der Lage, Aktivitäten des täglichen Lebens nachzugehen. Fatigue tritt auch bei anderen chronischen Erkrankungen auf, etwa bei multipler Sklerose oder Krebs. Anders als hier verbessert sich das Symptom bei ME/CFS nicht durch Sport oder Schlaf.

Long Covid: Der Begriff bezeichnet gesundheitliche Beschwerden, die über die akute Krankheitsphase hinaus andauern – also länger als vier Wochen nach der Sars-CoV-2-Infektion. Long Covid ist als Oberbegriff für verschiedene Verlaufsformen gängig, darunter auch Post-Covid oder ME/CFS.

Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom (ME/CFS): Meist durch eine Virusinfektion wie Covid-19 ausgelöste schwere Multisystemerkrankung. Typisch sind eine Verschlechterung der Symptome nach Belastung (PEM) und eine massive Energielosigkeit (Fatigue). Betroffene leiden unter anderem häufig unter Konzentrations- und Gedächtnisproblemen, Schlafstörungen, Herz-Kreislauf-Beschwerden, Schmerzen in verschiedenen Bereichen des Körpers und einer Überempfindlichkeit, etwa auf Licht oder Geräusche.

Pacing: Eine Form des Krankheitsmanagements, bei der Patienten lernen, die zur Verfügung stehende Energie zu nutzen, ohne die eigenen Belastungsgrenzen zu überschreiten. Ziel ist es, eine PEM zu vermeiden.

Post-Covid: Nach Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) handelt es sich um gesundheitliche Beschwerden, die mindestens zwölf Wochen nach einer Sars-CoV-2-Infektion fortbestehen oder erneut auftreten und nicht anderweitig erklärbar sind. Der Begriff dient der medizinischen Abgrenzung innerhalb des Long-Covid-Spektrums und beschreibt insbesondere längerfristige oder chronische Verläufe.

Post-exertionelle Malaise (PEM): Das Kernsymptom von ME/CFS ist eine verzögerte Verschlechterung des Zustands oder das Auftreten neuer Symptome nach körperlicher oder geistiger Anstrengung. Betroffene bezeichnen das oft als Crash. Auslöser können bereits Sitzen, Stehen oder äußere Reize wie Licht sein. Meist tritt eine Zustandsverschlechterung 12 bis 48 Stunden nach der Überlastung auf und hält dann Tage bis Wochen an; in schweren Fällen ist sie dauerhaft.

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  • Quellen

Bastos, V. et al., The Journal of Immunology 10.1093/jimmun/vkaf087, 2025

Fluge, Ø. et al., Frontiers in Medicine 10.3389/fmed.2025.1607353, 2025

Loebel, M. et al., Brain, Behavior, and Immunity 10.1016/j.bbi.2015.09.013, 2016

Santos Guedes de Sa, K. et al., MedRxiv 10.1101/2024.06.18.24309100, 2025

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