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Infektionsgeschehen in China: Zero-Covid trotz Omikron?

In China steigen die Fallzahlen durch die Variante BA.2. stark an. Wird die Zero-Covid-Strategie des Landes halten? Die Sorge ist groß – auch weil viele Ältere ungeimpft sind.
Geschlossene Geschäfte während eines Corona-Ausbruchs in Hongkong im September 2021

Alle Augen sind in diesen Tagen auf China gerichtet. Das Land kämpft gerade mit dem größten Covid-19-Ausbruch seit Beginn der Pandemie. Mehr als 62 000 Menschen in allen 31 Provinzen haben sich mittlerweile infiziert, die meisten von ihnen mit der hochansteckenden Omikron-Variante BA.2.

Die Ausbrüche haben dazu geführt, dass sich derzeit Millionen von Menschen im Lockdown befinden. Präsident Xi Jinping kündigte Anfang März 2022 an, dass China an seiner »dynamischen Zero-Covid-Strategie« festhalten werde, die darauf abzielt, Infektionen zu bekämpfen und die Ausbreitung des Virus zu verhindern. Diese Politik steht im krassen Gegensatz zum Vorgehen der meisten anderen Länder, die gerade ihre Schutzmaßnahmen lockern und versuchen, mit dem Virus zu leben.

Auch China scheint sein striktes Vorgehen allerdings etwas aufzuweichen. So wies Xi in seiner Rede darauf hin, pragmatisch zu bleiben, und forderte die Beamten auf, die wirtschaftlichen Auswirkungen der Schutzmaßnahmen, so gut es geht, zu begrenzen. In der Praxis bedeutet dies, dass Menschen mit asymptomatischem Verlauf nicht mehr in ein Krankenhaus, sondern in ein spezielles Isolationszentrum eingewiesen und dort kürzer überwacht werden als bislang. Forscher sind sich allerdings uneins darüber, ob das die unkontrollierte Ausbreitung des Virus noch verhindern wird – und ob China genug Zeit bleibt, sich auf ein solches Szenario vorzubereiten.

Lassen sich die Zahlen noch einmal auf null senken?

»Sie haben immer wieder bewiesen, dass sie Ausbrüche kontrollieren können«, sagt der Epidemiologe Ben Cowling von der University of Hong Kong. Das Land habe die hochansteckende Omikron-Variante während der Olympischen Winterspiele in Peking im Februar 2022 erfolgreich unter Kontrolle gehalten, obwohl große Ausbrüche vorhergesagt worden seien. Cowling geht davon aus, dass die Fallzahlen auf Grund der engmaschigen Tests in den nächsten Tagen weiter ansteigen werden, danach aber wieder auf null zurückgehen.

Wenn die Fallzahlen zurückgehen, wird die Regierung das nächste Jahr wahrscheinlich damit verbringen, die niedrigen Impfraten bei älteren Menschen zu steigern und eine Infrastruktur für die medizinische Grundversorgung aufzubauen, um die Krankenhäuser zu entlasten, sagt der Wirtschaftswissenschaftler Xi Chen von der Yale University in New Haven, Connecticut, der Chinas öffentliches Gesundheitssystem untersucht.

»Die Zahlen steigen schnell – ich denke, es ist bereits außer Kontrolle«Michael Osterholm, Epidemiologe

Andere sind der Ansicht, China müsse sich auf einen immer weiter wachsendes Ausbruchsgeschehen einstellen. Die Zahl der Neuinfektionen bewegt sich auf 6000 bestätigte Fälle pro Tag zu. »Die Zahlen steigen schnell – ich denke, es ist bereits außer Kontrolle«, sagt etwa der Epidemiologe Michael Osterholm von der University of Minnesota in Minneapolis. Es sei unwahrscheinlich, dass die Fallzahlen wieder auf null sinken, und der Versuch, das Virus unter Kontrolle zu halten, würde so strenge Einschränkungen erfordern, dass dies sicherlich die Wirtschaft zum Erliegen bringen würde.

Lehren aus Hongkong

Gerät Omikron tatsächlich außer Kontrolle, könnten die Auswirkungen verheerend sein – ähnlich wie bei dem derzeitigen Ausbruch in Hongkong, wo die Zahl der Todesfälle stark angestiegen ist und die Krankenhäuser überlastet sind. Eine Analyse von Airfinity, einem Londoner Unternehmen für Marktanalysen im Bereich Biowissenschaften, geht davon aus, dass während einer Omikron-Welle mehr als eine Million Menschen auf dem chinesischen Festland sterben könnten, unter anderem auf Grund der geringen Impfquote bei älteren Menschen. Nach Angaben der chinesischen Regierung sind derzeit nur 50 Prozent der Menschen über 80 Jahren vollständig geimpft.

Die jüngsten Erfahrungen in Hongkong zeigen, welchen Preis die niedrigen Impfraten bei älteren Menschen haben. Anfang März gab es in Hongkong fast 900 Covid-19-Fälle pro 100 000 Einwohner. Auch die Zahl der Todesfälle ist in diesem Monat auf fast 300 pro Tag angestiegen. Experten machen die niedrigen Impfquoten bei älteren Menschen für die hohe Sterblichkeitsrate in der Region verantwortlich. Nur etwa ein Drittel der über 80-Jährigen ist dort vollständig geimpft, und 90 Prozent der Todesfälle betrafen Menschen ohne ausreichenden Impfschutz.

Wie entwickelt sich die Pandemie? Welche Varianten sind warum Besorgnis erregend? Und wie wirksam sind die verfügbaren Impfstoffe? Mehr zum Thema »Wie das Coronavirus die Welt verändert« finden Sie auf unserer Schwerpunktseite. Die weltweite Berichterstattung von »Scientific American«, »Spektrum der Wissenschaft« und anderen internationalen Ausgaben haben wir zudem auf einer Seite zusammengefasst.

Auf dem chinesischen Festland droht sich ein ähnliches Szenario abzuspielen, wenn es nicht gelingt, den derzeitigen Ausbruch zu kontrollieren. Insgesamt sind in China mehr als 85 Prozent der Menschen vollständig geimpft. Dazu hat auch die Einführung eines digitalen Impfpasses beigetragen, der in vielen öffentlichen Gebäuden und am Arbeitsplatz benötigt wird, sowie ein mehrfarbiger »Gesundheitscode«, der anzeigt, ob eine Person ein Infektionsrisiko darstellt. Cowling zufolge suchen ältere Menschen Einrichtungen, für die ein Impfpass erforderlich ist, jedoch seltener auf. Deshalb konnten sie es sich bislang eher leisten, ungeimpft zu bleiben.

Zu wenig ältere Menschen sind vollständig geimpft

52 Millionen Menschen im Alter von über 60 Jahren haben bislang keinen vollständigen Impfschutz. Die am stärksten gefährdete Gruppe der über 80-Jährigen ist am schlechtesten gewappnet: Nur 20 Prozent von ihnen haben die Grundimmunisierung und die Auffrischungsimpfung erhalten. Untersuchungen von Cowling und seinen Kollegen, die noch von Fachleuten geprüft werden müssen, zeigen, dass der Sinovac-Impfstoff, der in China breit eingesetzt wird, schwere Verläufe und Todesfälle wirksam verhindert. Bei den über 60-Jährigen ist jedoch eine dritte Spritze notwendig, um einen guten Schutz zu erreichen.

Letztlich könnten viel mehr Menschen sterben als die von Airfinity geschätzte Zahl von einer Million, wenn sich Omikron in der Bevölkerung ausbreitet, sagt der Epidemiologe Lu Jiahai von der Sun Yat-sen University in Guangzhou, China. Die Regierung trage die Verantwortung für das Leben der Menschen und werde das derzeitige Maßnahmenpaket deshalb weder ändern noch lockern.

Auf Grund von Chinas großen Binnenwirtschaft konnte das Land seiner Zero-Covid-Strategie leichter aufrechterhalten als Länder mit weniger Bevölkerung wie Neuseeland oder Singapur. Doch ewig wird es nicht so weitergehen. Der Börsenindex fällt, was darauf hindeutet, dass Chinas Wirtschaft leidet. Cowling zufolge werden Ausbrüche zudem häufiger werden, wenn das Virus im Rest der Welt frei zirkuliert.

Die Impfraten bei älteren Menschen zu steigern, hat deshalb nun Priorität. Allerdings wird das Zeit brauchen: Viele von ihnen leben in ländlichen Gebieten. Lu vermutet, dass die Regierung erst dann ihre Maßnahmen lockern wird, wenn auch in dieser Gruppe mindestens 80 Prozent der Menschen geimpft sind.

Im Moment gibt es in China nur wenige Hausärzte, so dass die Menschen auf Krankenhäuser als erste Anlaufstelle angewiesen sind, wie Chen erklärt. Er erwartet, dass die meisten Beschränkungen noch ein weiteres Jahr in Kraft bleiben werden. Das würde es der Regierung ermöglichen, ein junges Hausarztnetz oder spezielle Isoliereinrichtungen zur Behandlung von Menschen mit leichten oder asymptomatischen Covid-19-Erkrankungen aufzubauen und das Krankenhaussystem zu entlasten. Wenn das Land nicht vorbereitet ist, könnten Öffnungsschritte »eine Katastrophe für das Gesundheitssystem bedeuten«, sagt Chen. Die chinesischen Behörden müssten die Öffentlichkeit außerdem auf das vorbereiten, was kommt. Viele Menschen hätten sich darauf verlassen, dass die Regierung bereit ist, das Virus mit allen Mitteln einzudämmen – auch auf Kosten der Wirtschaft.

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