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Chinesischer Ballon: »Spionage ist gängige Praxis«

Ein chinesischer Ballon fliegt über die USA – und löst eine diplomatische Krise aus. Warum er die Aufregung für übertrieben hält, erklärt der Physiker Götz Neuneck im Interview.
Der chinesische Spionage-Ballon fliegt über die USA hinweg
Mehrere Tage lang flog der chinesische Ballon über Alaska, Kanada und die USA, bevor er entdeckt und zum Abschuss frei gegeben wurde.

Ein chinesischer Ballon, der mehrere Tage lang über die USA hinweggeflogen ist, bewegt die Gemüter. Das Pentagon sieht in dem Ballon ein Spionagewerkzeug. China beteuert dagegen, es handle sich um ein »ziviles Luftschiff«. Was zunächst seltsam antiquiert anmutete, entwickelte sich – auch auf Grund des großen Medienechos – zu einer echten diplomatischen Krise. US-Außenminister Antony Blinken sagte seine geplante Reise nach China ab und US-Präsident Joe Biden erteilte die Erlaubnis zum Abschuss des Ballons.

Derzeit werden die Trümmerteile geborgen und sollen ausgewertet werden. Seitdem rätseln Experten weltweit, was die Absichten der chinesischen Führung gewesen sein könnten und warum diese auf Spionagetechniken zurückgreift wie aus Zeiten des Kalten Kriegs. Götz Neuneck vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik in Hamburg zeigt sich verwundert über das Ausmaß des öffentlichen Aufschreis. »Ein Staat, der sich in einer tatsächlichen oder vermeintlichen Konfliktsituation befindet, möchte natürlich gerne wissen, was der Gegner macht«, sagt er. »Das ist zwar illegal, aber gängige Praxis.« Welche Technik der Ballon an Bord gehabt haben könnte und warum es ganz sicher kein einfacher Wetterballon war, erklärt er im Interview.

»Spektrum.de«: Was halten Sie als Physiker und Friedensforscher davon, dass ein chinesischer Ballon, der mutmaßlich zu Spionagezwecken unterwegs war, im US-amerikanischen Luftraum entdeckt worden ist?

Götz Neuneck | Der Physiker ist Experte für Rüstungskontrolle, neue Technologien, Nuklearwaffen, Science Diplomacy und Weltraumrüstung am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik in Hamburg. Er ist außerdem Sprecher der Arbeitsgruppe »Physik und Abrüstung« der Deutschen Physikalischen Gesellschaft.

Götz Neuneck: Mich überrascht, dass die Chinesen zu einer so alten, recht konventionellen Technologie greifen, obwohl sie für Spionage- und Aufklärungszwecke auch andere Möglichkeiten nutzen. Solche Ballons werden schon seit dem 18. Jahrhundert zu Aufklärungszwecken verwendet, wenn auch unter anderen Bedingungen und nicht ansatzweise mit der heutigen Technik. Die Interpretation des Geschehens ist aus meiner Sicht leider relativ einfach: Wir befinden uns in einer Art Kaltem Krieg 2.0. Die Führungen von China und den USA sprechen kaum noch miteinander. Wie labil die Beziehungen zwischen den beiden Staaten geworden sind, zeigt sich daran, dass ein solcher Vorfall sofort dazu führt, dass US-Außenminister Antony Blinken seine Reise nach China absagt.

Also ist es eher ungewöhnlich für einen Staat, einen solchen Ballon loszuschicken?

Zunächst einmal gar nicht so sehr. In den 1950er Jahren haben die US-Amerikaner unter Präsident Eisenhower selbst nichts anderes gemacht. Im Projekt »Moby Dick« haben sie mit Kameras bestückte Spionageballons über die Sowjetunion fliegen lassen und militärisch sensible Bereiche fotografiert. Ein Staat, der sich in einer tatsächlichen oder vermeintlichen Konfliktsituation befindet, möchte natürlich gerne wissen, was der Gegner macht. Spionage wird dazu verwendet, eine mögliche Bedrohung besser zu verstehen. Das ist zwar illegal, aber gängige Praxis. Sie können Spionage allerdings auch zur Angriffsplanung verwenden – und das wird dann natürlich problematisch.

»Die Interpretation des Geschehens ist aus meiner Sicht leider relativ einfach: Wir befinden uns in einer Art Kaltem Krieg 2.0«

Welche Vorteile hat ein Spionageballon gegenüber satellitengestützten Spähattacken?

Zunächst einmal fliegt ein Ballon deutlich langsamer als ein Satellit, der ständig auf seiner Umlaufbahn um die Erde rast. Der chinesische Ballon war offenbar sogar eingeschränkt manövrierfähig, konnte also über einem bestimmten Ort für längere Zeit ausharren. Zudem lassen sich Ballons flexibler mit verschiedenster Messtechnik ausstatten und sind insgesamt deutlich kostengünstiger. Durch ihre Nähe zur Erdoberfläche – dieser war auf etwa 18 Kilometer Höhe unterwegs – können sie Telekommunikation, etwa zwischen Mobilfunkgeräten, leichter abfangen. Es können durchaus auch Wetterinformationen gesammelt worden sein, wie China offiziell erklärt hat. Allerdings vermutlich nicht zur Verbesserung der chinesischen Wettervorhersage. Was genau an Messtechnik zum Einsatz kam, werden erst die Auswertungen der Trümmer durch das US-Militär ergeben.

Welche andere Spionagetechnik gibt es für solche Aufklärungsflüge?

Bei der signalerfassenden Aufklärung unterscheiden wir zwischen Sensoren zum Messen von optischen, multispektralen Bodenbildern und dem Abfangen von Kommunikation oder Radardaten. Je nach Entfernung zum Objekt, der gewünschten Auflösung und den Gegebenheiten werden dazu Flugzeuge und Satelliten eingesetzt, aber auch Autos. Zudem können Seekabel und Richtfunkstrecken abgehört werden.

Wie wahrscheinlich ist es, dass es sich doch nur um »ein Luftschiff für zivile Zwecke« gehandelt hat, das »außer Kontrolle geraten und von seiner eigentlichen Route abgekommen ist«, wie China behauptet?

Dagegen spricht, dass der Ballon so groß ist und über eine sehr weite Strecke geflogen ist. Klassische Wetterballons steigen normalerweise nur vertikal in die Höhe und überqueren keine Kontinente. Es wird den Chinesen sehr schwerfallen, glaubhaft zu begründen, dass der Ballon lediglich zu zivilen Zwecken unterwegs war. Im Übrigen: Wenn ein solches Objekt wirklich außer Kontrolle gerät, würde man normalerweise andere Staaten davor warnen.

Ist es nicht viel zu riskant, dass ein solcher Spionageballon entdeckt wird und eine diplomatische Krise auslöst – wie jetzt geschehen?

So wie ich es verstanden habe, ist der Ballon von Zivilisten entdeckt worden, nicht von der NORAD, der North American Aerospace Defense Command. Das zeigt, dass er nicht so leicht von Radargeräten erkannt wird. Trotz der geschätzten Größe der Nutzlast von etwa zwei Reisebussen, wie es häufig heißt, ist die reflektierende Querschnittsfläche zu klein, um ihn sicher zu orten. Möglicherweise ist es auch ein Test gewesen: Wie gut funktioniert die US-amerikanische Luftüberwachung? Offenbar nicht gut genug. Auch ist die Sammlung von Wetterinformationen über den USA interessant für ballistische Raketen.

Bergung des Ballons | Der abgeschossene chinesische Ballon wird vor der Küste von South Carolina von der US Navy an Bord eines Schiffes gezogen.

Warum dauerte es so lange, bis die USA den Ballon schließlich vom Himmel holte? Angeblich ist der Ballon bereits am 28. Januar über dem US-Bundesstaat Alaska beobachtet worden.

Wenn das US-Militär im Luftraum operiert, unterliegt es gewissen bürokratischen Hindernissen. Auch eine Verteidigungseinheit kann nicht einfach wahllos irgendetwas abschießen, sondern muss das Objekt vorher möglichst genau observieren und verstehen. Es ging ja keine unmittelbare Gefahr von dem Ballon aus. Zudem kann es durchaus interessant sein, zu schauen, was der Ballon macht. Bei einem Abschuss über Wasser ist zum einen der Schaden durch herabfallende Trümmerteile gering und zum anderen lassen sich die Teile im flachen Wasser noch einigermaßen gut bergen. Noch besser wäre es aus meiner Sicht gewesen, wenn man versucht hätte, den Ballon unbeschadet einzusammeln – aber diese Möglichkeit hatten die Amerikaner offenbar nicht.

»Diesen Vorfall mit dem Ballon als Provokation einzustufen, wie es nun manche tun, halte ich für falsch«

Welche Absichten könnten die Chinesen verfolgen?

Einige im chinesischen Militär scheinen ganz offensiv die Rolle des Herausforderers der USA spielen zu wollen. Das ist beunruhigend, weil es sehr negative Konsequenzen haben kann. Keine Weltmacht möchte verwundbar erscheinen, schon gar nicht die USA. Man darf sich aber auch nichts vormachen: Spionage ist, wie eingangs gesagt, nicht ungewöhnlich. Das versucht nicht nur China, natürlich spioniert umgekehrt auch der Westen. Diesen Vorfall mit dem Ballon als Provokation einzustufen, wie es nun manche tun, halte ich deshalb für falsch. Der Unterschied ist lediglich, dass dieser Spähversuch öffentlich geworden ist. Viele andere Attacken laufen unbeachtet ab. Dass der Ballon als Provokation wahrgenommen wird, liegt auch an der Aufregung und der breiten Berichterstattung in den Medien.

Wie hoch ist das Risiko, dass sich solche Ballons auch in den deutschen Luftraum verirren?

Das weiß ich nicht. Mir ist kein solcher Vorfall bekannt. Doch dazu muss man sich auch die Winde anschauen, die kommen im Regelfall aus Westen. Entsprechend könnten eher wir Ballons in Richtung China schicken als umgekehrt.

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