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Chronomedizin: Heilung im Takt der inneren Uhr

Darm, Muskeln und Gehirn arbeiten morgens, mittags und abends unterschiedlich. Wann also operieren? Wann Pillen geben? Ärzte planen schonende, effektive Therapien, die dem Rhythmus des Körpers folgen. In Deutschland ist derlei Chronomedizin jedoch noch unterentwickelt.
Präzise wie ein Uhrwerk arbeitet ein gesunder menschlicher Körper. (Symbolbild)

Unsere innere Uhr ist ein mächtiger Taktgeber. So unterliegt alles, was im Körper vor sich geht, einem 24-Stunden-Rhythmus. Er bestimmt, wann Enzyme gespalten, Zellgifte abtransportiert, Fette ab- und Muskeln aufgebaut werden. All das geschieht je nach Tageszeit mal mehr, mal weniger intensiv. Dieses Wissen macht sich die Chronomedizin (Chrónos, altgriechisch für »Zeit«) zu Nutze: Wenn der Körper im Laufe eines Tages in dermaßen unterschiedlicher Verfassung ist, wenn also Darm, Muskeln oder Gehirn morgens, mittags und abends ganz unterschiedlich arbeiten, dann kann es ja nicht egal sein, wann ein Medikament verabreicht oder ein chirurgischer Eingriff durchgeführt wird.

Ein besonders eindrückliches Beispiel für die tageszeitlichen Schwankungen ist die Tatsache, dass die meisten Herzinfarkte in den Morgenstunden passieren. Dies liegt unter anderem daran, dass der Blutdruck im Tagesverlauf variiert. Und auch die Körpertemperatur unterliegt zeitlichen Veränderungen. Sie erreicht am späten Nachmittag gegen 18 Uhr ihren Hochpunkt und in den frühen Morgenstunden gegen vier, fünf Uhr ihren Tiefpunkt. Daraus folgt: »Wenn ich 38 Grad Celsius um 18 Uhr messe, ist meine Körpertemperatur leicht erhöht, wenn ich hingegen den gleichen Wert um vier Uhr morgens habe, ist meine Temperatur deutlich erhöht«, erklärt Dieter Riemann, der die Abteilung für Klinische Psychologie und Psychophysiologie am Zentrum für Psychische Erkrankungen des Universitätsklinikums Freiburg leitet.

Sogar unser Schmerzempfinden ist nicht den ganzen Tag gleich. So liegt die Schmerzschwelle nachmittags viel höher als morgens oder nachts – stoßen wir beispielsweise in der zweiten Tageshälfte mit dem kleinen Zeh an das Tischbein, tut das nur etwa ein Drittel so weh wie am Vormittag. Grund sind körpereigene Opioide und Endorphine – die sind am Nachmittag besonders üppig im Hirn vorhanden und sorgen dafür, dass es weniger weh tut. Und auch Schmerzmittel wirken abends stärker als morgens.

Gleiche Wirkung bei geringer Dosierung

Auch Menschen, die die chronische Gelenkentzündung Rheuma haben, können von dem Wissen um die Regeln der inneren Uhr profitieren: Das Medikament Cortison, das auf dem Hormon Cortisol basiert, wird hier als schnell wirkender Entzündungshemmer eingesetzt. Am besten nimmt man es in den sehr frühen Morgenstunden ein. Denn direkt nach dem Aufwachen sind die Entzündungen besonders aktiv – eine Medikamentengabe käme jetzt zu spät. Der ideale Zeitpunkt wäre gegen drei, vier Uhr morgens, sagt Riemann. Also dann, wenn der Mensch gern schläft. Die Idee, das Mittel stattdessen abends zu geben, ist aber keine gute: »Der natürliche Cortisolspiegel sinkt nachts, wenn ich hier Cortison draufgebe, kann das den Schlaf des Patienten stören.« Die Lösung: Präparate, die abends eingenommen werden können und den Wirkstoff zeitverzögert erst in den frühen Morgenstunden freisetzen. Dadurch kann die bei Rheuma typische Morgensteifigkeit deutlich reduziert werden.

»Es fehlt bislang ein systematischer, übergeordneter Ansatz«Achim Kramer, Chronobiologe

Bei Statinen – Medikamenten, die viele Menschen zur Senkung ihres Cholesterinspiegels schlucken – hat sich herausgestellt, dass sie abends eingenommen besonders effektiv wirken. Zu diesem Ergebnis kam 2017 ein internationales Forscherteam in einer zusammenfassenden Analyse von elf Studien zu dem Thema. Da die körpereigene Cholesterinproduktion nachts stärker ist als am Tag, können die Statine abends unmittelbar angreifen. Bei einigen wenigen dieser Cholesterinsenker ist die Halbwertszeit, also die Dauer, bis der Wirkstoff um die Hälfte abgebaut ist, länger. Verschreibt der Arzt ein derartiges Präparat, kann es auch morgens eingenommen werden. »Die Chronomedizin steht noch recht am Anfang solcher Überlegungen, aber schon jetzt zeigt sich: Gibt ein Arzt ein bestimmtes Medikament zu einem günstigen Zeitpunkt, kann mitunter mit einer geringeren Dosis die gleiche Wirkung erzielt werden«, sagt Riemann.

In puncto Chronomedizin sind die USA Vorreiter

»Inzwischen steht zweifellos fest, dass eine Therapie, die die innere Uhr beachtet, der Standardtherapie oft überlegen ist«, sagt Achim Kramer, Leiter der Chronobiologie am Institut für Medizinische Immunologie an der Charité. Allerdings stehe man in der Forschung insbesondere in Deutschland noch ziemlich am Anfang. »Es fehlt bislang ein systematischer, übergeordneter Ansatz«, sagt Kramer. »Wir brauchen dazu in Deutschland eine koordinierte Herangehensweise, die viele medizinische Fachbereiche umfasst.« Hingegen gebe es in den USA erste Kliniken, die sich an der Chronomedizin orientieren. »Ob bei Krebs und Stoffwechselerkrankungen, bei Rheuma und neurodegenerativen Erkrankungen – es gibt zahlreiche Beispiele und spannende, viel beachtete Berichte über Erfolge der zirkadianen Medizin«, sagt Kramer.

Wie ticke ich eigentlich?

Wie findet man heraus, welcher Chronotyp man ist? Das geht einerseits ganz einfach, indem man ein wenig in sich hineinhorcht, auf eigene Rhythmen und Bedürfnisse achtet: Wann hat man im Laufe eines Tages ein Tief? Schläft man regelmäßig abends beim Fernsehen ein? Der Chronotyp lässt sich aber auch wissenschaftlich fundiert bestimmen. Forschende an der Charité haben einen entsprechenden Bluttest entwickelt. Aus einer Blutprobe werden Zellen isoliert und so die Aktivität von zwölf speziellen Zeitgenen bestimmt. Daraus berechnet ein Computeralgorithmus den Stand der inneren Uhr.

Inzwischen ist der zu einem Haartest weiterentwickelt worden. In Schlaflaboren kann man messen lassen, wann genau das Schlafhormon Melatonin am Abend ansteigt. Vielleicht lässt sich mit dem Wissen um den eigenen Chronotyp der Tagesablauf ein wenig ändern, hin zu mehr Harmonie mit dem inneren Rhythmus.

Studien haben etwa gezeigt, dass Chemotherapien schonender sind, wenn die Infusionen der zirkadianen Rhythmik folgen. Francis Levi vom Hôpital Paul-Brousse in Frankreich wies das bereits 1997 bei metastasierendem Darmkrebs nach. Nur 14 Prozent der Patienten trugen Schleimhautverletzungen davon, wenn sie die aggressiven Wirkstoffe entsprechend den Prinzipien der Chronomedizin verabreicht bekamen. Hingegen waren es 76 Prozent bei der Standardtherapie. 2012 wurde bei über 800 Darmkrebspatienten gezeigt: Erfolgte die Chemotherapie gemäß dem biologischen Rhythmus der Patienten, so verbesserte das die Überlebensrate bei Männern (jedoch nicht bei Frauen).

»Inzwischen steht zweifellos fest, dass eine Therapie, die die innere Uhr beachtet, der Standardtherapie oft überlegen ist«Achim Kramer, Chronobiologe

Warum der biologische Rhythmus das Therapieergebnis massiv beeinflussen kann und welche übergeordneten Prinzipien dabei eine Rolle spielen, diese Fragen müssen in Zukunft noch beantwortet werden. Möglicherweise, sagt Achim Kramer, könne die zirkadiane Medizin auch die Diagnosekriterien einiger Erkrankungen verändern. Vor allem aber würden die Patienten profitieren, wenn Mediziner bewusst den richtigen Zeitpunkt für eine Therapie wählen. »Es gibt zum Beispiel Studien, die zeigen, dass sich Herzklappen nachmittags mit weniger Nebenwirkungen austauschen lassen als vormittags, vermutlich, weil der Sauerstoffmangel nachmittags besser toleriert wird«, erklärt der Chronobiologe.

Licht und Nahrung als Taktgeber

Wonach wird die innere Uhr gestellt? Einer der wichtigsten Taktgeber für den Körper ist das Licht. Unsere inneren Abläufe orientieren sich an Hell und Dunkel, jede einzelne Zelle hat ihren Tag-Nacht-Rhythmus. Wie die Lichtverhältnisse sind, erfahren Leber und Niere vom Gehirn: Das leitet die Information vom Auge über entsprechende Schaltstellen weiter in sämtliche Körperzellen. »Obwohl es Früh- und Spättypen – die berühmten Lerchen und Eulen – gibt, gilt generell: Nachts ist weniger los im Körper«, sagt Dieter Riemann. Wir befinden uns in einer Art Entzugsphase, vieles läuft auf Sparflamme.

Das merkt man beispielsweise daran, dass die meisten Menschen problemlos acht Stunden durchschlafen können, ohne zur Toilette zu müssen – eine Zeitspanne, die sie tagsüber nicht aushalten würden. Schlaf ist derart wichtig, dass der Körper die meisten Mechanismen geradezu unbemerkt herunterregelt. »Daran sehen wir, dass es evolutionär offenbar von Vorteil ist, wenn ich eine längere Ruhephase habe«, erzählt Riemann: »Ein Organismus, der 24 Stunden am Tag aus allen Rohren feuert, wird nicht alt.«

Ein zweiter wichtiger Zeitgeber für uns ist die Ernährung. Das, was viele als Intervallfasten kennen, bezeichnen Wissenschaftler als Time Restricted Eating, kurz TRE. »Ein Essensrhythmus, der täglich eine lange nächtliche Fastenperiode von 14 oder 16 Stunden umfasst, hat große positive Effekte auf verschiedene Stoffwechselprozesse«, sagt Kramer. So habe man in Mausexperimenten zeigen können, dass Tiere, die 24 Futterpellets immer auf einmal gefressen haben und den Rest des Tages nichts, deutlich länger lebten als jene, die pro Stunde ein Pellet bekamen. Zu einem ähnlichen Ergebnis kamen auch Joseph Takahashi und Kollegen von der University of Texas Southwestern in einer aktuellen Übersichtsarbeit von 2021. Entsprechende Studien mit Menschen laufen derzeit, aber schon jetzt sei klar, sagt Kramer, dass vor allem Patienten mit Stoffwechselerkrankungen von TRE profitieren könnten.

Wenn die innere Uhr kaputt ist

Forscherinnen und Forscher wollen nicht nur unsere innere Uhr lesen lernen, sie wollen sie zugleich stärken. »Es gibt Hinweise darauf, dass eine gestörte innere Uhr nicht nur ein Symptom ist, sondern auch ein Risikofaktor für Krankheiten«, sagt Kramer. Aufgefallen ist das vor allem durch die große Nurses’ Health Study, für die US-amerikanische Wissenschaftler seit Ende der 1980er Jahre knapp 75 000 Krankenschwestern über 22 Jahre lang beobachtet haben. Sie hatten unter anderem ein erhöhtes Risiko für Typ-2-Diabetes. Bei Frauen, die länger als fünf Jahre Nachtdienste hatten, war die Gesamtsterblichkeit deutlich erhöht.

Der Mensch ist ein tagaktives Tier. Wer gesund bleiben will, muss also in einem basalen Hell-dunkel-Wechsel leben. Wie wichtig das ist, haben zahlreiche Studien mit Schichtarbeitern gezeigt. Diese leiden oft unter Schlafstörungen und einer Art innerer Unruhe, sagt Riemann, außerdem sei bei ihnen das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Depressionen erhöht. »Hier sollten Arbeitgeber genau hinschauen, wie man die Schichten gestaltet und vielleicht Licht so einsetzen kann, dass es der Gesundheit der Mitarbeiter förderlich ist.«

»Ein Organismus, der 24 Stunden am Tag aus allen Rohren feuert, wird nicht alt«Dieter Riemann, Psychologe

Der Münchner Chronobiologe Till Roenneberg hat den Begriff des sozialen Jetlags geprägt. Dieser entsteht durch die Diskrepanz zwischen unserer Innenzeit und der äußeren sozialen Zeit. Bekanntestes Beispiel ist der frühe Schul- oder Arbeitsbeginn, der täglich den individuellen Schlafrhythmus vieler Jugendlicher und Erwachsener stört. Auch, wer unter der Woche deutlich früher aufsteht als am Wochenende, handelt gegen seine innere Uhr und bringt sie aus dem gesunden Takt – der sich im Laufe eines Lebens durchaus ändert. Vor allem bei Jugendlichen sieht man, dass sich ihr Chronotyp von Lerche zu Eule verschiebt. »Als Kinder sind die allermeisten Menschen Lerchen, das wissen wir alle nur zu gut«, sagt die Entwicklungspädiaterin Joëlle Albrecht vom Kinderspital Zürich, »aber selbst, wenn ein Jugendlicher noch eher Typ Lerche ist, sind Jugendlerchen dennoch meist später dran als Kinderlerchen. Die Verschiebung in diesem Alter ist sehr drastisch.«

Eine Herausforderung der Chronomedizin besteht ebenfalls darin, die möglichen Auswirkungen einer gestörten inneren Uhr von anderen Faktoren abzugrenzen. Schlafmangel zum Beispiel, sagt Achim Kramer, könne sich ähnlich auswirken. »Auch rauchen, Alkohol trinken, eine schlechte Ernährung oder Übergewicht sind Risikofaktoren für Krankheiten, die oft bei Störungen des biologischen Rhythmus beobachtet werden. Da müssen wir sehr genau hinschauen, um direkte von indirekten Effekten zu unterscheiden.«

Was kann man tun, wenn die Uhr tatsächlich aus dem Takt geraten ist? Hier kommt wieder das Licht als Zeitgeber ins Spiel. An der Charité haben Forschende auf einer Intensivstation riesige Bildschirme über den Betten installiert, die den Sonnenaufgang simulieren und nachts für mehr Dunkelheit sorgen, als es normalerweise auf einer ständig hell erleuchteten Intensivstation der Fall ist. Auch die Geräte wurden, wo es möglich war, nachts leiser gestellt. Mit beeindruckendem Ergebnis: Die Rate an Delir, eine Art geistiger Verwirrung, die Intensivpatienten häufig erleben, ging zurück. Aber auch bei solchen Formen der Lichttherapie fragen die Forscher: Liegt das daran, dass die Patienten besser schlafen? Oder an einer wieder gut kalibrierten inneren Uhr?

Perspektivisch wollen Chronomediziner die innere Uhr eines jeden Menschen lesen können und Therapien individuell anpassen. »Dann könnten wir jedem genaue Anweisungen geben, nach dem Motto: Sie sind dieser Chronotyp? Sie nehmen die Tablette am besten mittags zwischen 13 und 15 Uhr«, sagt Kramer. Unabhängig davon sei zu empfehlen, herauszufinden, wie die eigene innere Uhr tickt (siehe »Wie ticke ich eigentlich?«). »Sich das bewusst zu machen, kann oft schon sehr hilfreich sein«, sagt Kramer. »Ich habe hier schon Leute sitzen gehabt, die sehr erleichtert waren, als sie ihren Chronotyp kannten, und sagten: Endlich darf ich aus biologischen Gründen früher ins Bett.

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