Direkt zum Inhalt

Leipzig: Zwei Orgelwerke erklingen zum ersten Mal unter dem Namen »Bach«

Durch jahrelange Detektivarbeit gelang es, zwei anonyme Orgelwerke dem frühen Johann Sebastian Bach zuzuschreiben. So klingen die Stücke, die erste Genialität aufblitzen lassen.
Ein älterer Mann spielt konzentriert auf einer großen Kirchenorgel. Die Orgel hat mehrere Manuale und zahlreiche Registerzüge. Notenblätter sind auf dem Notenständer platziert. Der Raum ist in violettes Licht getaucht, und im Hintergrund sind Kirchenbänke zu sehen.
Die beiden neuen Frühwerke Bachs wurden am 17.11.2025 von Ton Koopman, dem Präsidenten des Bach-Archivs, an der Orgel aufgeführt.

Dank jahrzehntelanger Forschung konnten in der Leipziger Thomaskirche nun zwei Orgelwerke Johann Sebastian Bachs wiederaufgeführt werden, die mehr als 300 Jahre lang nur anonym überliefert worden waren. Beide Musikstücke wurden inzwischen auch in das Bach-Werke-Verzeichnis aufgenommen: als »Ciacona in d-Moll« (BWV 1178) und »Ciacona in g-Moll« (BWV 1179).

Die Zuschreibung der Werke gelang dem Direktor des Bach-Archivs Leipzig Peter Wollny, wie die Sächsische Akademie der Wissenschaften mitteilte. Er war vor mehr als 30 Jahren in der Königlichen Bibliothek Belgiens auf Abschriften der Orgelwerke gestoßen. Auf den Blättern waren weder der Autor der Abschrift noch der Komponist noch das Datum vermerkt. Durch langwierige Archivstudien gelang es Wollny schließlich, sie dem 1685 in Eisenach geborenen Musiker zuzuschreiben.

Komponiert habe sie Bach demnach im Alter von 18 Jahren während seiner Zeit im thüringischen Arnstadt, wo er seine erste Stelle als Organist innehatte. Sie stammen folglich aus dem Frühwerk des Komponisten und zeigen typische Stilmittel seines damaligen Schaffens, die man bei keinem anderen Komponisten der Zeit antreffe, erläutert Wollny.

Aufführung in der Leipziger Thomaskirche
Die Musik beginnt mit Ciacona in d-Moll ab Minute 15:00 (Wiederholung 59:00). Die Ciacona in g-Moll beginnt Minute 22:00 (Wiederholung 1:07:00).

»Wenn man an den jungen Bach oder auch an Mozart denkt, wird oft gemutmaßt, die Genialität käme später – dem ist aber nicht so!«, kommentiert Ton Koopman, der Präsident des Leipziger Bach-Archivs, die Wiederentdeckung. »Diese beiden Werke haben eine sehr hohe Qualität, die kaum erwartbar ist für einen so jungen Menschen.« 

Den entscheidenden Hinweis auf die Urheberschaft der Stücke fanden die Experten des Bach-Archivs Leipzig, als sie in einem thüringischen Kirchenarchiv auf das Bewerbungsschreiben eines bislang unbekannten Organisten namens Salomon Günther John stießen. Der behauptet in dem Schreiben, ein Schüler Bachs in Arnstadt gewesen zu sein. Der Name führte Peter Wollny zunächst zur Lebensgeschichte des Mannes und von dort zu weiteren Schriftzeugnissen Johns, anhand derer er schließlich als der Kopist der beiden Orgelwerke in der belgischen Bibliothek identifiziert werden konnte. Die beiden Abschriften seien um 1705 entstanden.

Ciacona in d-Moll (links) und Ciacona in g-Moll (rechts) | Der Bach-Schüler Salomon Günther John schrieb die beiden Werke seines Lehrers ab. Sie landeten – unsigniert und unbenannt – in der Königlichen Bibliothek Belgiens.

In den Stücken erkennen die Fachleute Kompositionstechniken, die auf Bachs Lehrer, den Lüneburger Organisten Georg Böhm, zurückgehen, sowie eine eigene stilistische »Handschrift« des jungen Komponisten: etwa »die Verbindung von Variation und Ostinato mit einer ausgedehnten Fuge«, heißt es in der Pressemitteilung. Ostinato, ein wiederkehrendes Bassmotiv, ist eines der zentralen Gestaltungselemente einer »Ciacona«, heute zumeist Chaconne genannt – ursprünglich ein Tanz im Dreiertakt. Die beiden Werke wurden nun im Verlag Breitkopf & Härtel publiziert.

Nach der Aufführung meldete sich im Internet der Organist Thorsten Pirkl zu Wort und verwies auf den Umstand, dass die beiden Musikstücke bislang dem Komponisten Johann Graff (gestorben 1707) zugesprochen worden seien. Dessen Werke befinden sich in derselben belgischen Sammlung wie die beiden Chaconnen. Unter dem Namen Graff wurden sie tatsächlich bereits mehrfach aufgeführt und auch aufgenommen. Insofern trifft die Aussage der Veranstalter, dass die beiden Werke mehr als 300 Jahre nicht gehört wurden, nicht zu. 

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.