Massive Gravitation: Geisterjägerin knackt das größte Rätsel der Kosmologie

Claudia de Rhams Lebenstraum löste sich in Luft auf, kurz bevor sie im Jahr 2009 einen Flug nach Kanada antrat. Seit ihrem zehnten Lebensjahr hatte sie alles dafür gegeben, um Astronautin zu werden. Nun erhielt sie mit einer kurzen Nachricht auf ihrem Handy eine niederschmetternde medizinische Diagnose. Ihr wurde klar, dass sie dem All niemals näher kommen würde als in diesem Flugzeug.
16 Jahre nachdem ihr Kindheitstraum geplatzt ist, funkeln ihre Augen in der Weite eines riesigen Vortragssaals. Während sie auf dem Parkett hin und her schreitet, hallt ihre Stimme durch die Reihen der Schülerinnen der North London Collegiate School, einer privaten Mädchenschule in England. Heute begeistert de Rham andere für das Weltall. Und für sich selbst hat sie einen neuen Weg gefunden, dorthin vorzustoßen.
»Wie fühlt sich Gravitation eigentlich an?«, fragt sie die Jugendlichen der britischen Privatschule, die ihrem Vortrag gebannt lauschen. Etwa 400 Personen sitzen im pompösen Saal eines Gebäudes, das früher einem Duke gehörte. Der hatte wohl einen erlesenen Geschmack: hohe Decken, auf dem Parkett steht ein Flügel in der Mitte des Raums, riesige Fenster eröffnen den Blick auf eine Teichanlage. Die Lehrer tragen Hemd und Anzugshose. Dagegen wirkt die 46-jährige de Rham in kurzem Rock und blauem T-Shirt mit der pinken Aufschrift »Girls just wanna have funding for scientific research« fast schon fehl am Platz. Doch das scheint weder sie noch die Zuhörer zu stören. »Viele verbinden die Wirkung der Schwerkraft mit Schmerz, etwa, wenn man hinfällt«, sagt de Rham. Doch eigentlich sei das Fallen selbst völlig schmerzlos. Während des Falls sei man schwerelos; man spürt keine Kräfte, keinen Druck – man ist vollkommen frei.
Etwa einmal im Monat macht sie das: Mit der U-Bahn fährt de Rham hinaus in die Vororte von London und hält dort Vorträge über Physik. Meist seien es nicht so wohlhabende Schulen, berichtet de Rham, während wir in einem klappernden Waggon der Londoner Tube sitzen. Manchmal sei sie in ärmeren Gegenden unterwegs, wo es an Lehrkräften mangele. »Es kommt vor, dass es an der ganzen Schule keinen Physiklehrer gibt«, erzählt sie, »und dann muss ein Biologielehrer den Unterricht übernehmen.« Einmal sei die Anfrage für einen Vortrag sogar von einem Schüler gekommen. »Wie könnte ich da ›nein‹ sagen?«, fragt die dreifache Mutter.
De Rham ist im Jahr 2024 zu einem regelrechten Star geworden – sofern man in der Wissenschaft von so etwas sprechen kann. Es begann mit der Veröffentlichung ihres autobiografischen Sachbuchs »Die Schönheit des Fallens«. Plötzlich meldeten sich zahlreiche Journalisten bei ihr, sie wurde in Fernsehsendungen eingeladen, ins Radio, zu Podcasts – und es erschienen jede Menge Zeitungsartikel über sie. »Ich habe überhaupt nicht damit gerechnet«, sagt sie. Inzwischen sei sie ganz froh, dass sich die Aufmerksamkeit wieder gelegt habe.
Anders als viele andere Sachbücher in dem Bereich ist de Rhams Geschichte keine reine Erfolgsstory. Sie spricht unverblümt über die Misserfolge und die herben Rückschläge, die sie im Lauf ihres Lebens einstecken musste. Zum Beispiel die Diagnose kurz vor ihrem Heimflug, die sie für die Raumfahrt untauglich machte – und das, nachdem ihr Traum zum Greifen nah war: Sie hatte es in die engste Auswahl für das Raumfahrtprogramm der ESA geschafft.
Aber Rückschläge gehören zum Leben, weiß de Rham. Sie behielt ihre Begeisterung für das Universum. Sie verlagerte nur den Fokus ihrer Anstrengungen ein wenig. Anstatt jede freie Minute der Raumfahrt zu widmen, stürzte sie sich nun mehr denn je in ihre Forschung als Physikerin. Mit Erfolg. Sie entwickelte eine Theorie, welche die Fachwelt für unmöglich hielt: eine Version der Schwerkraft, die von Einsteins Vorstellungen abweicht – und die könnte einige der hartnäckigsten Probleme der modernen Physik lösen.
Ordnung und Terror
Als Zehnjährige hatte de Rham schon auf drei verschiedenen Kontinenten gelebt. Ihre Eltern waren in der Entwicklungshilfe tätig und zogen daher häufig um: von der Schweiz in kleine peruanische Bergdörfer, zurück in die Schweiz und dann nach Madagaskar. De Rham und ihre Geschwister lernten so bereits von klein auf viele Kulturen, Sprachen und Orte kennen. Das hört man auch heute noch. Wenn die Physikerin Englisch spricht, macht es die ungewöhnliche Mischung aus Dialekten schwer, auf ihre Herkunft zu schließen.
Jeder einzelne Ort habe ihr eine Heimat geboten, sagt de Rham beim Interview. Richtig verzaubert habe sie aber der nördliche Amazonas, wo sie von der wilden Natur umgeben war. Doch nicht alles war idyllisch. In den Bergdörfern in Peru terrorisierte eine linksextremistische Organisation namens Sendero Luminoso die dortigen Ortschaften immer wieder mit Anschlägen. De Rhams Strategie, um der Angst damals zu entfliehen: Sie besann sich auf die klaren Regeln, denen die Dinge auf der Welt zu folgen scheinen. »Wenn man rational auf Ereignisse blickt und seine Umwelt versteht, sorgt das für Ruhe«, erklärt de Rham. So haben sie und ihr Bruder nach nächtlichen Schusswechseln im Dorf die Patronenhülsen in ihrem Garten aufgesammelt und gezählt. »Das machte uns keine Angst; wir analysierten das ganz sachlich und stellten fest: Aha, heute sind es 11, letztes Mal waren es 16«, erinnert sie sich.
Damals entdeckte sie ihr Interesse an Wissenschaft. »Ich denke, das steckt in jedem von uns«, glaubt de Rham. »Jeder versucht doch irgendwie zu verstehen, woher wir kommen und was um uns herum passiert.« Ihre Eltern konnten nur wenig mit Naturwissenschaften anfangen. Ihre Mutter hoffte, dass sich de Rham für einen Beruf entscheiden würde, der anderen unmittelbar hilft. »Sie wollte, dass ich als Clown in Krankenhäusern arbeite, um die Menschen dort aufzumuntern«, sagt de Rham. »Ich glaube, es hat sie irgendwie enttäuscht, dass ich mich für Physik entschieden habe.« Als Physikerin tue man auch Gutes, davon ist sie überzeugt. Nur eben über einen etwas längeren Zeitraum betrachtet.
Doch de Rhams Arbeit wirkt sich durchaus unmittelbar aus. Das wird klar, wenn man in die begeisterten Gesichter der Schülerinnen der North London Collegiate School blickt. »Das war echt cool«, sagen die Jugendlichen nach dem Vortrag auf dem Weg zur Kantine.
Als sie selbst in diesem Alter war, hatte de Rham keine solchen Vorbilder. Trotzdem fasste sie während ihrer Schulzeit auf Madagaskar den Entschluss, Astronomie zu studieren. Für sie stand schnell fest, dafür in die Schweiz zu gehen, wo auch ihre Geschwister studierten. In den Hörsälen der École polytechnique fédérale de Lausanne lernte sie erstmals die erstaunlichen Erkenntnisse von Albert Einstein kennen, die sie Jahre später auf den Kopf stellen sollte.
Eine gekrümmte Raumzeit
Zunächst war es Einstein selbst, der im Jahr 1915 das Weltbild der Menschheit umkrempelte. Er interpretierte die Schwerkraft völlig neu. Demnach ziehen sich Massen nicht einfach nur an, sondern folgen dem kürzesten Weg in einem gekrümmten Raum. Um das für die Schülerinnen an der Londoner Mädchenschule zu veranschaulichen, zeigt de Rham ein Bild, in dem Raum und Zeit einem gespannten Gummituch ähneln. Platziert man darauf Gewichte, die etwa die Sonne oder die Erde symbolisieren, dann verformt sich das Tuch, und die Objekte fangen an, sich zu bewegen. Ähnlich verhält es sich mit der Raumzeit – nur dass diese vierdimensional ist.
Eine der beeindruckendsten Vorhersagen der allgemeinen Relativitätstheorie konnte genau 100 Jahre nach Albert Einsteins Veröffentlichung bestätigt werden: die winzigen Schwingungen der Raumzeit, die als Gravitationswellen bekannt sind. Als dieses bahnbrechende Ergebnis bekannt gegeben wurde, war de Rham bereits Professorin am Imperial College und sollte mit ihren Kollegen eigentlich ein Vorstellungsgespräch führen. Aber sie alle fieberten der erwarteten Ankündigung so freudig entgegen, dass sie die Sitzung abbrachen, erzählt sie in ihrem Buch: »Aufgeregt stürzten wir in den Gemeinschaftsraum, um den Durchbruch mit unseren Studenten und Postdocs zu feiern. Das war der Beginn einer neuen Ära!«
Die Entdeckung der Gravitationswellen zeigt, dass die Schwerkraft der elektromagnetischen Kraft ähnelt. Bewegt man zum Beispiel eine elektrische Ladung durch den Raum, dann strahlt sie Wellen ab, etwa Licht. Bei Massen ist das genauso – nur dass sie Gravitationswellen aussenden. Die Objekte bringen durch ihre Bewegung die Raumzeit zum Schwingen. Weil die Schwingungen winzig sind, sind für ihren Nachweis hochempfindliche Messinstrumente nötig, die erst Mitte der 2010er Jahre zur Verfügung standen.
Mit diesen Gravitationswellendetektoren haben Physikerinnen und Physiker ein völlig neues Instrument zur Hand, um den Kosmos zu erkunden. Denn auch wenn die allgemeine Relativitätstheorie bisher allen experimentellen Tests standhielt, wirft sie einige Fragen auf. Will man zum Beispiel den Anfang des Universums oder das Innere Schwarzer Löcher beschreiben, stößt man auf unendliche Werte, die keine physikalische Entsprechung haben. »Aber genau diese Fälle interessieren uns«, sagt de Rham. »Um zu begreifen, wo wir herkommen und wie das Universum überhaupt entstehen konnte, müssen wir diese Situationen verstehen.«
Eine Faszination für den Kosmos
Als de Rham im Alter von zehn Jahren nachts von Zürich nach Antananarivo flog, blickte sie in den Sternenhimmel. Wieder ein Umzug, wieder eine neue Schule, wieder neue Freundschaften, die sie schließen musste. »Als ich fast alle Dinge und Menschen zurückließ, die ich während der vergangenen Jahre gekannt hatte, begleitete uns der Mond auf der Reise«, schreibt de Rham in ihrem Buch. Der Mond und mit ihm der ganze Himmel wären ihre Gefährten geblieben. »Egal wo ich war, ich wusste immer, dass ich auf sie zählen konnte wie auf eine Familie.« Und so fasste sie einen Entschluss: Sie würde fortan alles dafür geben, um dem Himmel nahe zu kommen und ihn in seinem Wesen zu verstehen.
Ab diesem Zeitpunkt richtete de Rham ihr Leben nach dem Ziel aus, Astronautin zu werden. Als Zehnjährige waren ihre Möglichkeiten begrenzt. Deswegen begann sie damit, Tauchunterricht zu nehmen, um sich an das Gefühl der Schwerelosigkeit zu gewöhnen. Sobald sie alt genug war und Geld verdiente, machte sie einen Flugschein. Als ihre Sehkraft anfing nachzulassen, trainierte sie jeden Tag die Muskeln ihrer Augen, um der Kurzsichtigkeit entgegenzuwirken. Und schließlich entwickelte sie ein eigenes Computerprogramm, um sich auf die anspruchsvollen Tests vorzubereiten, die bei einer Eignungsprüfung Astronauten erwarten.
Auch ihr Astronomiestudium passte zu ihrer Leidenschaft. Sie bekam in den ersten Semestern die Gelegenheit zu einem Praktikum beim Jet Propulsion Laboratory der NASA in Kalifornien. »Es klang wie ein Traum«, erinnert sich de Rham, während sie in ihrem Büro am Imperial College London sitzt. Die engen, blauen Gänge des Gebäudes erinnern zwar an eine Turnhalle, doch ihr Arbeitsbereich ist geschmackvoll. Eine grüne Pflanze in der Ecke, ein gelber Sessel mit dazu passendem Tisch, selbst gemalte Bilder ihrer Töchter und etliche Bücher. Eine Wand ist vollständig von einer Tafel bedeckt, die viele physikalische Gleichungen zieren. »Am JPL sollte ich Messungen des Magnetfelds auf dem Mars auswerten. Das waren völlig neue Informationen über unseren Nachbarplaneten«, sagt de Rham. Doch die Aufgabe erwies sich als nicht allzu spektakulär. »Letztlich war es einfach nur Datenverarbeitung. Ich wollte aber etwas Grundlegenderes tun – ich wollte wirklich die Funktionsweise des Universums verstehen.«
Das war der Zeitpunkt, an dem sie beschloss, die Astronomie sausen zu lassen und sich stattdessen der theoretischen Physik zu widmen. So könnte sie an den fundamentalen Theorien mitwirken, die unsere Welt beschreiben sollen.
Und schnell wurde klar, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. Denn im Jahr 1998 veröffentlichte das Team um den Kosmologen Adam Riess ein Ergebnis, das allen bisherigen Erwartungen widersprach und das die etablierten physikalischen Theorien bis heute nicht richtig erklären können.
Das Problem mit der kosmologischen Konstante
Als de Rham ihr Studium begann, wussten Physikerinnen und Physiker bereits, dass sich das Universum ausdehnt. Denn die Distanz zu allen weit entfernten Galaxien – egal, in welche Richtung des Nachthimmels man blickt – nimmt mit der Zeit zu. Das ist ein Trend, der seit dem Urknall anhält, als Raum und Zeit und alle darin enthaltene Materie unvorstellbar dicht zusammengequetscht waren und sich plötzlich schlagartig ausdehnten. Die Gravitationskraft wirkt dieser Expansion allerdings entgegen. Deshalb gingen Fachleute davon aus, dass das All mit der Zeit immer langsamer auseinanderstreben würde.
Genau das wollten Riess und seine Kollegen nachweisen, als sie weit entfernte Sternenexplosionen beobachteten. Doch sie fanden das Gegenteil vor: Das All dehnt sich immer schneller aus. Es gibt also keine Verlangsamung, sondern eine Beschleunigung! Das brachte die Fachwelt in Erklärungsnot – und führte zur größten Unstimmigkeit in der Geschichte der Wissenschaft.
»Um die beschleunigte Expansion zu erklären, braucht man eine neue Art von Energie«, erklärt de Rham den Schülerinnen während ihres Vortrags. Diese lässt sich ganz harmlos als »kosmologische Konstante« Λ in die Gleichungen der allgemeinen Relativitätstheorie einfügen. Das hatte bereits Albert Einstein erkannt; doch dann entfernte er die Konstante wieder und betitelte sie angeblich als größte Eselei seines Lebens. Wie sich im Jahr 1998 zeigte, anscheinend zu Unrecht.
Dieses Λ symbolisiert eine seltsame Energie, die gewissermaßen negativen Druck ausübt und mit zunehmendem Raum anwächst. »Wenn wir eine Kiste voll Dunkler Energie haben und ihre Größe verdoppeln, nimmt die Gesamtenergie in der Kiste zu«, sagt de Rham zu den aufmerksamen Schülerinnen. Schnell schien eine Erklärung für diese mysteriöse Kraft parat, die alles auseinandertreibt. Denn tatsächlich sagt ein völlig anderer Zweig der Physik eine Energie voraus, die Raum und Zeit immer und überall ausfüllt.
Dabei handelt es sich um den zweiten großen Grundpfeiler der modernen Physik, die Quantentheorie. Auch diese erschütterte zu Beginn des 20. Jahrhunderts unser Weltbild. Einerseits festigt die Quantenphysik die Sichtweise, dass alles in unserer Welt aus winzigen Elementarteilchen besteht; andererseits entsprechen diese nicht bloß punktförmigen Objekten, sondern besitzen auch wellenartige Eigenschaften. So lässt sich beispielsweise einem Elektron keine eindeutige Position zuordnen; man kann nur Wahrscheinlichkeiten für dessen Aufenthaltsort angeben.
Die Quantentheorie eröffnet auch einen neuen Blick auf das Nichts. Demnach gibt es keinen völlig leeren Raum. Immerzu zündet ein regelrechtes Feuerwerk aus kurzlebigen Teilchen und Antiteilchen, die aus dem Nichts entstehen und sich sogleich wieder vernichten. Das Vakuum ist daher nicht leer – und besitzt laut Quantentheorie somit keine Energie von null, sondern es hat im Mittel einen größeren Wert. »Die Vakuumenergie füllt auch noch die innerste Schicht des Universums; sie wirkt genau wie eine kosmologische Konstante«, erklärt de Rham.
Es gibt nur ein Problem: Die Größe von Λ, die Kosmologen aus ihren Beobachtungen ableiten, und jene, welche die Quantentheorie vorhersagt, passen nicht zusammen. Und zwar so gar nicht. Um genau zu sein, ist der von der Quantentheorie vorhergesagte Wert um 120 Größenordnungen zu riesig. Das heißt, man müsste ihn durch eine Eins gefolgt von 120 Nullen teilen, um in etwa auf den von der Kosmologie vorhergesagten Betrag zu kommen. Eine so hohe Vakuumenergie würde laut Albert Einsteins Theorie das Universum so stark krümmen, dass wir kaum bis zum Mond blicken könnten.
Eine so große Diskrepanz gab es in der Wissenschaft noch nie – und das, obwohl die allgemeine Relativitätstheorie und die Quantentheorie die am besten getesteten Theorien sind!
Daher ist klar: Eine neue Theorie muss her, um das Problem der kosmologischen Konstante zu lösen. Eine solche könnte de Rham gefunden haben. Doch nicht jeder ist davon begeistert.
Ein harter Kampf
Für de Rham ist es nicht ungewöhnlich, eine Außenseiterin zu sein. Auf Madagaskar fiel sie zwar durch ihre helle Hautfarbe auf, fühlte sich aber nicht ausgeschlossen. Schwieriger war es für sie in den Hörsälen in Lausanne. Sie hatte angenommen, dort eine von vielen zu sein, sich in das Gesamtbild einzufügen. »Ich war aber nur eine von sehr wenigen Frauen, damit hatte ich nicht gerechnet«, erzählt sie, als wir in ihrem Büro sitzen. Auf Madagaskar sei das anders gewesen, ebenso wie in Südamerika oder Asien. »Dort sind Naturwissenschaften nichts typisch Männliches.«
Oft habe keine böswillige Absicht dahintergesteckt, sagt de Rham. Dennoch behandelten ihre Kommilitonen sie anders. Es seien die subtilen Kleinigkeiten gewesen, die ihr das Gefühl gaben, fehl am Platz zu sein. Oft wurde sie belächelt oder in andere Räume geschickt, weil man dachte, sie habe sich verlaufen. Manchmal ging es weiter: Sie wurde nicht ernst genommen oder musste sich abfällige Witze von Professoren anhören. Doch sie kämpfte sich durch ihr Studium. Die gleiche Beharrlichkeit legte sie an den Tag, als es um ihren eigentlichen Lebenstraum ging.
Im Jahr 2008, inzwischen hatte sie einen Doktortitel und arbeitete in Kanada, war es endlich so weit: Die ESA startete die lange ersehnte Auswahlrunde für Astronautinnen und Astronauten. Und es schien, als hätten sich die vielen Vorbereitungen für de Rham ausgezahlt. Die Physikerin setzte sich gegen knapp 20 000 Personen durch und landete mit 41 anderen in der engsten Auswahl. Sie ließ etliche medizinische Untersuchungen über sich ergehen, die alle reibungslos verliefen. Nur die Resultate des Tuberkulose-Tests fehlten noch, um weiterzukommen.
Als de Rham nach den medizinischen Check-ups gerade in das Flugzeug stieg, das sie aus Europa zu ihrem Wohnort in Kanada bringen sollte, erreichte sie eine Nachricht auf ihrem Handy: Sie war positiv auf latente Tuberkulose getestet worden. Sie würde niemals Astronautin werden.
Eine schwere Schwerkraft
»Statt diesen Lebensabschnitt als das Ende meines Abenteuers mit der Gravitation zu betrachten, sah ich in ihm die Gelegenheit eines Neuanfangs«, schreibt de Rham in ihrem Buch. Und so stürzte sie sich noch tiefer in ihre Forschung – in der Hoffnung, dem Universum durch ein besseres Verständnis möglichst nah zu kommen.
Dafür untersuchte sie, wie sich die Schwerkraft auf der Quantenebene verhält. »Warum leben wir in drei Raumdimensionen?«, fragt mich die Physikerin. Und antwortet gleich selbst: »Viele gehen davon aus, dass es einen Mechanismus auf kleinster Ebene gibt, der das erklärt.« Diesen suchte de Rham in Schwerkraftmodellen mit höheren Raumdimensionen. Denn eventuell ist die Anzahl der uns vertrauten Dimensionen nicht alles, was es gibt. »Die zusätzlichen Raumdimensionen könnten winzig klein aufgerollt oder aber extrem groß sein – in beiden Fällen würden wir sie nicht wahrnehmen.«
Solche Möglichkeiten erforschte sie bereits während ihrer Doktorarbeit sowie in den darauf folgenden Jahren als wissenschaftliche Mitarbeiterin. »Der Trick besteht darin, anzunehmen, dass die Schwerkraft eine eingeschränkte Reichweite hat«, sagt sie. So lasse sich besser mit den überschüssigen Dimensionen arbeiten. In der allgemeinen Relativitätstheorie von Albert Einstein gibt es keine solche Begrenzung – egal, wie weit Massen voneinander entfernt sind, sie ziehen einander an.
Um das in einer alternativen Version der Schwerkraft zu ändern, muss man die Eigenschaften der Gravitationswellen modifizieren. Diese dürfen sich dann nicht mehr, wie in Einsteins Formulierung, mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiten, sondern langsamer. Diese Veränderung bringt extreme Folgen mit sich.
Was das genau bedeutet, verrät ein Blick auf die Schwerkraft aus Sicht der Quantenphysik. Fachleute gehen davon aus, dass Gravitationswellen – ähnlich wie Licht – auf kleinster Skala aus winzigen Häppchen bestehen. Demnach gibt es also ein Gravitations-Quantenteilchen, ein so genanntes Graviton. In der einsteinschen Version der Schwerkraft mit lichtschnellen Gravitationswellen ist das Graviton masselos. Sollten sich Gravitationswellen aber langsamer ausbreiten, besäße das Graviton eine Masse. Deshalb bezeichnen Fachleute die Modelle mit begrenzter Schwerkraft als »massive Gravitation«. Und erstaunlicherweise könnten diese Theorien das Problem der kosmologischen Konstante lösen.
Eine geisterhafte Theorie
In massiven Gravitationstheorien hat die Schwerkraft keine unbegrenzte Reichweite. Deshalb würde die riesige von der Quantenphysik vorhergesagte Vakuumenergie den Raum nicht so stark krümmen, wie es Einsteins Formulierung vorhersagt. Die starke Vakuumenergie könnte in der massiven Gravitationstheorie also tatsächlich mit den kosmologischen Beobachtungen zusammenpassen und somit die beschleunigte Ausdehnung des Universums erklären.
Allerdings erkannten Forschende in den 1970er Jahren, dass die massive Gravitation erhebliche Probleme mit sich bringt: Sie enthält Geister. Dabei handelt es sich nicht um übernatürliche Erscheinungen, sondern um Zustände mit negativer Energie. Für Fachleute sind solche Zustände nicht weniger beängstigend. Sie dürften ebenso wenig existieren wie die Geister in Gruselgeschichten.
»Sobald wir in unserem Bild vom Universum Geistern Zutritt gewähren, kann ein gesundes, normales Teilchen sich dadurch Energie verschaffen, dass es sich einfach die erforderliche Menge aus dem unerschöpflichen Vorrat an Geistern mit negativer Energie borgt«, erklärt de Rham in ihrem Buch. Ein Atom könnte sich beispielsweise in beliebig angeregte Zustände bringen, wenn die Elektronen dank der Geister in immer höhere Schalen hüpfen – was in der Realität niemals vorkommt. Das Auftreten dieser Geister verurteilte die massive Gravitation zum Scheitern.
Das war der Wissensstand, den de Rham hatte, als sie an erweiterten Gravitationsmodellen forschte. Wie jeder ernst zu nehmende Wissenschaftler zog sie daher die massive Schwerkraft nicht in Betracht. Sie nutzte zwar Modelle mit massiven Gravitonen, aber nur, um die überschüssigen Raumdimensionen zu untersuchen – und nicht, um damit unsere Welt zu beschreiben.
Damals arbeitete sie eng mit dem Physiker Gregory Gabadadze von der New York University zusammen. »Er ist ein wahnsinnig inspirierender Mensch«, sagt de Rham, die sich noch heute mit ihm wissenschaftlich austauscht. Und auch der Physiker georgischer Herkunft schätzt de Rham: »Claudia war eine der besten Mitarbeiterinnen, die ich je hatte. Es war eine große Freude und ein Privileg, mit Claudia zu arbeiten«, lobt Gabadadze. Während der fruchtbaren Zusammenarbeit stieß de Rham im Jahr 2010 auf ein Ergebnis, mit dem niemand gerechnet hatte.
In einem ihrer Modelle konnte das Graviton eine Masse besitzen, ohne dabei die lästigen Geister heraufzubeschwören. Und es kam noch besser: De Rham erkannte, dass sich diese Version der Schwerkraft nicht auf hohe Raumzeitdimensionen beschränkte. Stattdessen schien es möglich, die massive Gravitation auch ohne Geister in den gewohnten vier Raumzeitdimensionen zu formulieren.
Große Skepsis gegen die Geisterjäger
Zunächst zweifelte de Rham an ihrem Ergebnis. Ständig hatte man ihr als Frau in einer männerdominierten Welt das Gefühl gegeben, nicht ganz dazuzugehören, ein Sonderling zu sein. Oft hatte man sie unterschätzt, ihr nichts zugetraut. Diese Gedanken hatte sie inzwischen verinnerlicht. Sie prüfte ihr Ergebnis; sie diskutierte mit Gabadadze und ihrem Mann, dem Physiker Andrew Tolley, der wichtige Ideen einbrachte. Alles schien korrekt zu sein. Die massive Gravitation war offenbar doch nicht dem Untergang geweiht.
»Ich war überrascht, dass dies von anderen vorher übersehen worden war«, erinnert sich Gabadadze. Hatten die Fachleute in der Vergangenheit allesamt Fehler gemacht? Nein, sie hatten nur ein Schlupfloch übersehen, sagt de Rham. Zwar treten in der massiven Gravitation von de Rham, Tolley und Gabadadze auch Geister auf, aber sie sind an andere Ereignisse gekoppelt. Und wie sich herausstellt, lassen sich die Modelle so gestalten, dass die Geister niemals wirklich in Erscheinung treten. Man legt sie gewissermaßen in Ketten. Diese Möglichkeit hatten alle zuvor übersehen. Und selbst de Rham hatte nicht damit gerechnet; sie war durch Zufall zur Geisterjägerin geworden.
»Manchmal gab es auch heftige persönliche Beleidigungen«Claudia de Rham, Physikerin
Man könnte meinen, die Fachwelt brach daraufhin in Jubel aus. Doch das Gegenteil war der Fall. Der Forscherin und ihren Kollegen schlug viel Widerstand und Skepsis entgegen. Zunächst lehnte ein Fachjournal ihre Arbeit ab, ohne sie überhaupt an Gutachter geschickt zu haben. Nachdem ihr Ergebnis bei einer anderen Zeitschrift erschien, versuchten Physiker, Fehler zu finden. »Das ist an sich legitim«, sagt de Rham, »aber ich hatte eine konstruktive Diskussion erwartet. Stattdessen blockten sie einfach ab.« Einige der Forschenden wehrten sich vehement gegen die neuen Argumente. Sie hatten 40 Jahre ihres Lebens damit verbracht, die Existenz von massiver Gravitation zu widerlegen. »Entsprechend waren da starke Emotionen im Spiel«, berichtet de Rham. Teilweise drohten ihr Kollegen ernsthafte berufliche Konsequenzen an, falls sie ihre Arbeiten nicht zurückzog. »Manchmal gab es auch heftige persönliche Beleidigungen.«
Zu diesem Zeitpunkt war sie bereits Rückschläge gewohnt. Sie hatte schon einen Lebenstraum fallen gelassen. Daher blieb de Rham wie immer beharrlich und arbeitete weiter an ihrem spekulativen Modell, an das niemand glaubte. Sie ging auf die Kritikpunkte ihrer Kollegen ein, entwickelte die Details weiter, räumte Hindernisse aus dem Weg.
»Das war eine anstrengende Zeit«, resümiert de Rham. Und auch die Arbeit mit Gabadadze sei fordernd gewesen. »Er ist ein toller Kollege, aber es ist kein Spaziergang«, erklärt sie mir und lächelt dabei. »Wenn wir gut vorankamen, wurde nicht gesagt: ›Super, dann lass uns jetzt Schluss machen.‹ Nein, dann knieten wir uns erst recht rein und arbeiteten unermüdlich weiter.« Gabadadze räumt ein, deswegen ein schlechtes Gewissen zu haben: »Als mich Claudia für unsere Zusammenarbeit in New York besuchte, arbeitete ich von frühmorgens bis spätabends mit ihr und ließ sie nicht in den Genuss der vielen kulturellen Angebote der Stadt kommen. Ich sollte sie wieder einladen!«
Es dauerte mehrere Jahre, bis die letzten Zweifel an ihrem erstaunlichen Ergebnis ausgeräumt waren. Inzwischen sind die Erkenntnisse von Tolley, Gabadadze und de Rham anerkannt: Es gibt zumindest aus mathematischer Sicht keinen Grund, warum das Graviton keine Masse besitzen sollte. Eine massive Gravitation scheint in der Theorie ebenso realistisch wie Einsteins allgemeine Relativitätstheorie.
Ein Test für die Theorie
Eine gute physikalische Theorie sollte allerdings nicht nur mathematischen Prinzipien genügen. Sie muss auch die Welt um uns herum korrekt beschreiben.
Da sich die massive Gravitation von der allgemeinen Relativitätstheorie unterscheidet, sagt sie auch andere Phänomene voraus. Noch haben Kosmologinnen und Kosmologen aber nichts ausmachen können, was Einsteins Theorie widerspricht. Daher muss die massive Gravitation – gemessen an der bisherigen Präzision – mit der allgemeinen Relativitätstheorie übereinstimmen. Das schränkt die Masse ein, die ein Graviton höchstens haben darf.
Die Masse eines Gravitons hat nämlich zur Folge, dass sich die Gravitationswellen nicht mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiten. Dabei beeinflusst die Masse die verschiedenen Frequenzen einer Welle unterschiedlich. Hochfrequente Gravitationswellen, wie sie gegen Ende eines Kollisionsereignisses entstehen, sollten kaum etwas von einer kleinen Gravitonmasse spüren. Niederfrequente Wellen, die sich am Anfang eines Ereignisses bilden, dürften stärker verlangsamt werden.
Sobald die Gravitationswellendetektoren die ersten Signale von kollidierenden Schwarzen Löchern aufnahmen, wurden die Daten auf solche Spuren hin untersucht: Gibt es eine unerwartete Verzögerung zwischen den hoch- und den niederfrequenten Teilen der Gravitationswellen? Bis jetzt konnten Fachleute keine Hinweise darauf ausmachen. Da die Messergebnisse aber nicht perfekt sind, sondern Unsicherheiten haben, lassen sie dennoch eine Gravitonmasse von höchstens 10–21 Elektronvolt zu – was etwa 1020-mal weniger ist als die Masse eines Neutrinos, des leichtesten bekannten Teilchens.
Wenn Neutronensterne zusammenstoßen, können die Detektoren auf der Erde sowohl elektromagnetische Signale als auch Gravitationswellen empfangen. Falls Gravitonen eine Masse besitzen, sollten sich die Gravitationswellen langsamer bewegen als das Licht; somit müssten die zwei Signale leicht versetzt ankommen. Doch auch in diesem Fall war bislang kein Unterschied messbar. Das schränkt die Masse des Gravitons weiter auf maximal 10–22 Elektronvolt ein.
Auch die Struktur des Universums setzt dem Graviton Grenzen. Denn mit wachsender Gravitonmasse nimmt die Reichweite der Schwerkraft ab. Beobachtungsdaten legen jedoch nahe, dass sich selbst extrem weit voneinander entfernte Galaxienhaufen gravitativ beeinflussen. Deshalb dürfte das Graviton höchstens eine Masse von 10–29 Elektronvolt haben.
Und letztlich lassen sich auch Präzisionsmessungen der gravitativen Anziehung zwischen Erde und Mond nutzen, um die massive Gravitation weiter einzukesseln. Auf diese Weise ergibt sich eine maximale Masse von 10–30 Elektronvolt – eine unvorstellbar winzige Größe, aber dennoch nicht verschwindend. »Die experimentellen Daten schließen eine massive Gravitation nicht aus«, stellt Gabadadze fest. Damit sind alle Möglichkeiten offen: »Die Natur könnte diese Option gewählt haben – oder auch nicht.«
Neugier und Offenheit
»Um das Problem der kosmologische Konstante zu lösen, brauchen wir bloß eine Masse von rund 10–32 Elektronvolt« sagt de Rham. Das sei einerseits sehr gut, da diese Prognose zu den bisher verfügbaren Daten passt. »Andererseits ist der Wert so winzig, dass wir wohl niemals eindeutig nachweisen können, ob Gravitonen eine Masse besitzen oder nicht.«
Inzwischen gibt es mehrere Forschungsgruppen auf der ganzen Welt, die sich mit dieser Version der Schwerkraft beschäftigen. Allerdings sei es hierbei deutlich schwieriger, Ergebnisse abzuleiten, als in der allgemeinen Relativitätstheorie – und diese ist für sich genommen schon alles andere als einfach. »Es steckt noch jede Menge Arbeit vor uns«, sagt de Rham lachend und blickt auf ihre vollgeschriebene Tafel.
Auf die Frage, ob sie daran glaubt, dass die Schwerkraft wirklich massiv sei, muss sie kurz nachdenken. »Um ehrlich zu sein, bin ich selbst nicht völlig davon überzeugt«, gesteht sie. »Aber wir können auf diese Weise sehr viel über die Gravitation an sich lernen – so eine Gelegenheit sollte man nicht verstreichen lassen.« So funktioniere nun einmal die Wissenschaft: Versuch und Scheitern gehören dazu. Wenn man fällt, steht man eben wieder auf. Damit hat de Rham Erfahrung.
Deshalb sei es so wichtig, immer neugierig zu sein. Genau das rät sie auch den Mädchen an der Londoner Privatschule am Ende ihres Vortrags. Nachdem sie das Problem mit der kosmologischen Konstante erklärt hat, bietet sie ihnen keine mögliche Lösung – kein Wort zu ihrer eigenen Arbeit. Stattdessen beschwört sie ihre Zuhörerinnen: »Wir brauchen euch und eure Ideen, um das zu schaffen.«
Im Gespräch mit de Rham kommt immer mehr der Eindruck auf, dass es nicht die massive Gravitation ist, der sie sich verschrieben hat. Vielleicht ist es nicht einmal die Schwerkraft, auch wenn sie das immer wieder sagt. Vielmehr scheint ihr daran gelegen, ihre Begeisterung zu teilen, jungen Menschen zu zeigen, was für Wunder in unserer Welt stecken – und sie zu motivieren, fest an sich selbst zu glauben und sich nicht einschüchtern zu lassen.
Das scheint ihr zu gelingen. Obwohl am Ende ihres Vortrags hungrige Mägen knurren, hebt immer wieder eines der Mädchen die Hand und fragt interessiert nach. Irgendwann müssen die Lehrer die Runde beenden, die angedachte Zeit wurde weit überschritten. Und doch bleiben etwa 20 Mädchen im Saal stehen, anstatt sich zur Kantine zu bewegen, und löchern de Rham mit weiteren Fragen rund um Physik. Und wer weiß: Vielleicht werden einige von ihnen in Zukunft dazu beitragen, die Schwerkraft weiter zu enträtseln.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.