Colibactin: Das Schlüsselmolekül hinter dem Darmkrebs-Anstieg

Immer mehr Menschen unter 50 erkranken an Darmkrebs – und lange gab es für dieses Rätsel nicht einmal einen Lösungsansatz. Doch eine neue Entdeckung erklärt möglicherweise nicht nur den Anstieg bei jüngeren, sondern verändert auch die Sicht der Medizin auf Darmkrebs. Denn zuletzt haben sich überraschend Hinweise ergeben, dass ein Bakterium die Ursache sein könnte. Dahinter steckt eine Analyse von 981 Darmkrebsgenomen aus elf Ländern, in der besonders bei jüngeren immer wieder charakteristische Mutationen auftauchten. Und zwar solche, die durch das bakterielle Molekül Colibactin entstehen.
Gebildet wird Colibactin von einigen Stämmen des weitverbreiteten Bakteriums Escherichia coli (E. coli), und es schädigt die DNA. Die Mikroben-induzierten Erbgutschäden hängen womöglich mit anderen Einflüssen zusammen, die ebenfalls die Tumorerkrankung bei jüngeren Menschen begünstigen. Auch Umwelteinflüsse gelten als wichtiger Faktor, erklärt Jens Puschhof, der am Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg eine Forschungsgruppe zu Mikrobiom und Krebsentstehung leitet. »Ernährung, Bewegung, Übergewicht werden diskutiert – und es würde mich überraschen, wenn diese Faktoren nichts mit der Zunahme jener Darmkrebsfälle zu tun hätten.« Womöglich allerdings hängt beides zusammen: veränderte Umwelteinflüsse könnten die Bakterien nun häufiger anregen, das Colibactin herzustellen.
Entdeckt hat den überraschenden Zusammenhang ein internationales Forscherteam unter der Leitung von Ludmil B. Alexandrov von der University of California in San Diego. Bei der Analyse der fast 1000 Darmkrebsproben stellten die Fachleute fest, dass die typischen Mutationen bei Patienten, die ihre Diagnose bis zum 40. Lebensjahr erhalten hatten, mehr als dreimal häufiger waren als bei Patienten jenseits des 70. Lebensjahrs. »Es zeichnet sich ein Paradigmenwechsel in unserem Verständnis der Entstehung von Darmkrebs ab«, sagt Thomas F. Meyer, Seniorprofessor für Infektionsonkologie der Universität Kiel. »Ähnlich wie das beim Helicobacter pylori und dem Magenkrebs war.«
Darmkrebs im Licht der Genetik
Das neue Bild des Darmkrebs basiert auf Fortschritten in verschiedenen Disziplinen der Lifesciences. Meyer lieferte mit seinem früheren Team am Max-Planck-Institut für Infektionsbiologie in Berlin (MPIIB) die Grundlagen für das molekulare Verständnis des Colibactins. Die Forscher konnten klären, wie genau dieses von E.coli gebildete Toxin die DNA schädigt. Demnach bindet das Molekül an die DNA – und zwar, indem es eine Querverbindung herstellt. »Das Protein ist hantelförmig und bindet ein Adenin auf dem einen Strang – sowie drei Buchstaben entfernt auf dem komplementären DNA-Strang wiederum ein Adenin«, erklärt Meyer. »Beide werden wohl durch Reparaturmechanismen des Körpers ersetzt. Dabei kann mindestens eine falsche Base eingebaut werden.«
So entsteht eine charakteristische Signatur. An allen Stellen, an denen die entsprechende Basenabfolge in der DNA auftritt, tauchen unter Colibactin-Einfluss vermehrt Mutationen auf. Denn die von dem bakteriellen Molekül hergestellte Querverbindung ist stabil und stellt die Zelle deshalb vor Probleme. Sowohl, wenn ein Gen abgelesen wird, als auch wenn die Zelle sich teilt, müssen die Stränge getrennt werden. Mit gebundenem Colibactin ist das unmöglich. Die Zelle registriert das Problem und schneidet die querverbundenen Basen aus der DNA. An diesen Stellen kann eine Punktmutation entstehen, wenn zufällig eine neue Base eingefügt wird. Oder es gehen sogar einer oder mehrere DNA-Buchstaben verloren. Die Auswirkungen sind groß, weil die Erbsubstanz aus Dreibuchstaben-Wörtern besteht. Wenn etwa eine Base entfernt wird, sind deshalb alle nachfolgenden »Wörter« verschoben und die enthaltenen Informationen verfälscht.
In einer bahnbrechenden Studie zeigte ein Team um Hans Clevers an der Uni Utrecht 2020: Colibactin-produzierende Bakterien, die ursprünglich aus der Stuhlprobe eines Darmkrebspatienten gewonnen worden waren, lösten in Organoiden aus menschlichen Darmschleimhauzellen innerhalb von fünf Monaten Mutationen aus. »Die Mutations-Signatur reicherte sich in den Organoiden an, wenn wir sie den Colibactin-produzierenden Bakterien aussetzten«, sagt Puschhof, der damals im Labor von Clevers an der Studie beteiligt war. »Später fanden wir heraus, dass diese Signatur bei etwa jedem achten Darmkreis-Patienten vorhanden ist.«
Auch Krebsforscher, die nicht direkt am Darmkrebs, sondern an übergeordneten Faktoren der Tumorentstehung forschen, sind ob der Belege für Colibactin als Karzinogen angetan. »Vor allem aufgrund der Gensignatur ist das sehr plausibel«, sagt Bernd Bodenmiller, Professor für Quantitative Biomedizin an der Uni und ETH Zürich.
Zerreißende Chromosomen
Vielleicht gehen sogar noch mehr Darmkrebsfälle auf Colibactin zurück, als dessen sichtbare Effekte vermuten lässt. »Wenn wir eine hohe Dosis Colibactin auf Darmzellen von Mäusen gaben, sahen wir neben der Signatur auch viele Doppelstrangbrüche in der DNA«, sagt Thomas F. Meyer. Der Infektionsonkologe vermutet, dass dies durch eine Überlastung des Mismatch-Reparatur-Systems zustande kommt, jenem System der Zelle, das fehlerhafte Basenpaarungen korrigiert.
Demnach kommt es mit der Reparatur nicht hinterher, bevor sich die Zelle teilt. »Bei der Zellteilung ziehen die Spindelfasern aber die Chromosomen auseinander«, sagt Meyer. »Wenn aber Quervernetzungen noch bestehen, dann können so Doppelstrangbrüche entstehen.« Die Chromosomen könnten quasi zerreißen, und auf diese Weise sogenannte chromosomale Aberrationen, also Strukturveränderungen der Chromosomen, erzeugen, die bei Darmkrebspatienten häufig zu beobachten sind.
Bei den meisten Menschen dürfte die Mehrzahl der durch Colibactin verursachten Mutationen durch DNA-Reparaturmechanismen behoben werden. Aber nicht alle. Eine Studie zeigte, dass die Colibactin-Signatur bereits in Darmzellen gesunder Menschen vorhanden ist. Gefährlich werden diese Erbgutschäden besonders dann, wenn bestimmte Schlüsselgene betroffen sind.
Etwa das APC-Gen (Adenomatous-polyposis-coli). »Das ist das häufigste Gen, das bei Darmkrebs verändert ist«, sagt Jens Puschhof. »Wenn APC ausgeschaltet ist, teilen sich die Zellen der Darmschleimhaut immer weiter.« Denn APC ist ein sogenannter Tumorsuppressor, ein Protein also, das die Zellteilung normalerweise verhindert. »Das APC-Gen geht normalerweise ganz früh in der Darmkrebsentstehung verloren«, sagt Puschhof. »Das führt zunächst dazu, dass Polypen wachsen, die noch gutartig sind.«
Mutationen im APC-Gen sind deshalb häufig, weil dieses sehr groß ist und es häufig das DNA-Motiv für den Angriff von Colibactin enthält. Beides erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass Mutationen durch das Bakterientoxin entstehen. Über eine Klonalitätsanalyse kann abgeschätzt werden, wann die Mutationen aufgetreten sind – und das ergibt ein überraschendes Ergebnis.
Die Rolle der Ernährung
Die Klonalitätsanalyse funktioniert, indem man das Genom vieler Tumorzellen sequenziert. »Ein Tumor mutiert immer weiter«, erklärt Puschhof. »Die Mutation, die als allererstes aufgetreten ist, ist in praktisch allen seinen Zellen vorhanden.« Analysen verschiedener Arbeitsgruppen zeigen: Die Colibactin-Mutationen entstehen sehr früh im Leben, wohl im ersten Lebensjahrzehnt. Während Darmkrebs erst Jahrzehnte später auftritt. Es braucht also etliche weitere Mutationen, damit daraus Krebs entsteht.
Thomas F. Meyer vermutet, dass die Colibactin-produzierenden Bakterien bereits bei der Geburt von der Mutter aufs Kind übertragen werden. »Jeder fünfte Gesunde hat Colibactin produzierende Bakterien im Darm«, sagt Puschhof. Dagegen erkranken viel weniger Menschen an Darmkrebs, in Deutschland, etwa fünf Prozent der Bevölkerung. Damit Krebs entsteht, müssen also weitere Faktoren hinzukommen: ebenjene Lebensstil-Faktoren, die den überraschenden Darmkrebs-Anstieg bei jungen Menschen erklären sollen.
»Jeder fünfte Gesunde hat Colibactin produzierende Bakterien im Darm.«Jens Puschhof, Deutsches Krebsforschungszentrum
Es könnte sein, dass Colibactin erst dann Mutationen verursachen kann, wenn die Schleimschicht, die normalerweise das Darmepithel schützt, angegriffen wird. »Das Molekül Colibactin ist sehr instabil und hat nur eine Chance, überhaupt an die Zellen heranzukommen, wenn diese Pufferschicht durch Entzündungen im Darm bereits geschädigt ist oder diese etwa durch Bakterien enzymatisch abgebaut wird«, sagt Thomas Meyer. »Tatsächlich gibt es Mikroben, die schleimabbauende Mucinasen bilden und Colibactin-produzierenden Bakterien so den Kontakt mit der Schleimhaut überhaupt erst ermöglichen.« Entscheidend für diese Art von Darmkrebs wäre demnach, welche Bakterien außer denjenigen, die Colibactin bilden, im Darm vorhanden sind.
Colibactin + X
So gerät bei der Suche nach den Ursachen von Darmkrebs das Mikrobiom in den Fokus. Mittlerweile gibt es auch deutliche Hinweise, dass die von Colibactin verursachten Schäden mit einer schon lange gemachten Beobachtung in direktem Zusammenhang stehen könnten: Eine einseitige, westlich geprägte Ernährung steigert das Risiko für Darmkrebs. In Versuchen an Mäusen zeigten Fachleute der University of Toronto in Kanada, dass eine Kost mit wenig Ballaststoffen Krebsvorstufen stärker wachsen lässt, wenn Colibactin-produzierende Bakterien vorhanden sind. Außerdem wiesen die Forscher auch mehr Mutationen durch das Toxin sowie eine stärkere Entzündungsreaktion nach.
Es ist bekannt, dass Ballaststoffe die Diversität im Mikrobiom erhöhen. Auch das konnten die kanadischen Forscher abermals belegen. Andererseits zeigten sie, dass die Konzentrationen von Sauerstoff und Nitrat im Darm der Mäuse bei Ballaststoffmangel steigen: ein Milieu, das Colibactin-produzierende Bakterien mögen. So kristallisiert sich das bakterielle Molekül als entscheidender Schalter heraus, der eine ganze Bandbreite von Veränderungen in Ernährung und Lebensstil in den bisher rätselhaften Barmkrebs-Anstieg münden lässt. »Das Vorhandensein Colibactin-produzierender Bakterien allein kann wohl nur schwerlich Darmkrebs auslösen«, sagt Thomas F. Meyer. »Aber die Art der Ernährung könnte über ihren Einfluss auf die Zusammensetzung des Mikrobioms und Entzündungsreaktionen die toxische Wirkung von Colibactin verstärken oder auch mildern.«
Was Mediziner schon lange raten, um Darmkrebs zu vermeiden, gilt also weiterhin: abwechslungsreiche Kost mit viel Obst, Gemüse und Vollkornprodukten – allesamt ballaststoffhaltig. Zudem empfiehlt der Krebsinformationsdienst regelmäßige Bewegung und möglichst kein Übergewicht. Zusätzlich übernehmen die Krankenkassen ab 50 Jahren die Kosten der Darmspiegelung als Vorsorgeuntersuchung. Auch ein Stuhltest ist möglich. Die Darmspiegelung hat allerdings den Vorteil, dass verdächtige Polypen sofort entfernt werden können.
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