Unendliche Graphen: Überraschende Verbindung zwischen Unendlichkeiten und Informatik

Die gesamte moderne Mathematik baut auf der Mengenlehre auf, der abstrakten Lehre von Sammlungen beliebiger Objekte. Glücklicherweise müssen sich Mathematikerinnen und Mathematiker während ihrer Forschung aber nicht mit dem Thema beschäftigen – sie können einfach davon ausgehen, dass sich Mengen so verhalten, wie sie es erwarten. Dennoch gibt es eine kleine Gemeinschaft von Forschenden, die nie aufgehört hat, die grundlegende Natur von Mengen zu untersuchen, besonders die unendlich großen Mengen, die andere Fachleute gerne ignorieren.
Wie sich herausstellt, ist die Mengenlehre in der Forschungslandschaft gar nicht so isoliert, wie es bisher den Anschein gemacht hat. Denn im Jahr 2023 entdeckte der Mathematiker Anton Bernshteyn eine überraschende Verbindung zwischen dem entlegenen mathematischen Gebiet der deskriptiven Mengenlehre und der Informatik. Bernshteyn zeigte, dass sich Fragestellungen rund um unendliche Mengen in Probleme übersetzen lassen, die sich um die Vernetzung von Computern drehen.
Diese Brücke zwischen diesen so unterschiedlich anmutenden Disziplinen hat auf beiden Seiten für Staunen gesorgt. Mengentheoretiker verwenden die Gesetze der Logik, Informatiker die Sprache der Algorithmen. Die Mengenlehre beschäftigt sich mit dem Unendlichen, die Informatik mit dem Endlichen. Es gibt keinen Grund, warum die Probleme beider Fachbereiche zusammenhängen – geschweige denn übereinstimmen – sollten. »Das ist wirklich seltsam«, sagt der Informatiker Václav Rozhoň von der Karls-Universität in Prag. »So etwas sollte es eigentlich nicht geben.«
Seit Bernshteyns Ergebnis untersuchen Fachleute, wie man sich auf dieser unerwarteten Brücke hin- und herbewegen kann, um neue Theoreme auf beiden Seiten zu beweisen. Einige Mathematiker nutzen sogar Erkenntnisse aus der Informatik, um die Mengenlehre umzugestalten – und dabei die Art und Weise, wie sie die Unendlichkeit verstehen, zu überdenken. »Wir haben immerzu an sehr ähnlichen Problemen gearbeitet, ohne miteinander zu sprechen«, stellt Clinton Conley fest, ein Mengentheoretiker von der Carnegie Mellon University in Pittsburgh.
Ein kaum noch relevantes Fachgebiet
Als Student hörte Bernshteyn erstmals von der deskriptiven Mengenlehre. Sein Professor stellte es als Beispiel für ein Gebiet vor, das einst bedeutend war und inzwischen von der Bildfläche verschwunden sei. Etwas mehr als ein Jahr später fand Bernshteyn jedoch heraus, dass sich sein Professor geirrt hatte.
Zu Beginn seiner Promotion an der University of Illinois im Jahr 2014 belegte Bernshteyn einen Logikkurs bei Anush Tserunyan, die später eine seiner Betreuerinnen wurde. »Ihr habe ich es zu verdanken, dass ich in diesem Bereich tätig bin«, erinnert er sich. »Sie vermittelte mir den Eindruck, dass Logik und Mengenlehre der Klebstoff sind, der die verschiedenen Bereiche der Mathematik miteinander verbindet.«
Die deskriptive Mengenlehre geht auf Georg Cantor zurück, der 1874 bewies, dass es verschiedene Unendlichkeiten gibt. Die Menge der natürlichen Zahlen (0, 1, 2, 3, …) zum Beispiel ist genauso groß wie die Menge aller Brüche (die rationalen Zahlen), aber kleiner als die Menge aller reellen Zahlen, die auch irrationale Werte wie Wurzel 2 oder Pi enthält. Dieser Zoo an verschiedenen Unendlichkeiten bereitete Fachleuten seinerzeit großes Unbehagen.
»Nichtmessbare Mengen sind wirklich übel. Sie sind komplett kontraintuitiv«Anton Bernshteyn, Mathematiker
Als Reaktion darauf entwickelten sie einen anderen Größenbegriff, das sogenannte Maß. Es beschreibt die Länge, die Fläche oder das Volumen einer Menge – und nicht die Anzahl ihrer Elemente, die Cantor betrachtete. Eine der einfachsten Arten von Maßen, das Lebesgue-Maß, entspricht zum Beispiel der Länge einer Menge. So hat die Menge aller reellen Zahlen zwischen 0 und 1 das Lebesgue-Maß von 1 und die der reellen Zahlen zwischen 0 und 10 das Lebesgue-Maß von 10. Im Sinne von Cantor enthalten beide Mengen jedoch die gleiche, überabzählbar unendliche Anzahl an Elementen.
Um kompliziertere Mengen zu untersuchen, verwenden Mathematiker und Mathematikerinnen andere Maße. Je komplexer eine Menge, desto weniger Möglichkeiten gibt es, sie zu messen. Deskriptive Mengentheoretiker erforschen, welche Mengen sich nach verschiedenen Maß-Definitionen vermessen lassen. Das erlaubt ihnen, die Mengen hierarchisch zu ordnen.
Ganz oben in der Hierarchie stehen Mengen, die sich leicht konstruieren und mit jedem beliebigen Maßbegriff untersuchen lassen. Ganz unten finden sich »nicht messbare« Mengen, die so kompliziert sind, dass sie sich überhaupt nicht vermessen lassen. »Nicht messbare Mengen sind wirklich übel«, sagt Bernshteyn. »Sie sind komplett kontraintuitiv.«
Diese Hierarchie hilft Mengentheoretikern nicht nur dabei, ihr Fachgebiet zu ordnen – sie gibt auch Aufschluss darüber, welche Werkzeuge sie verwenden können, um Probleme aus anderen mathematischen Bereichen zu lösen. So spielt zum Beispiel in den Gebieten der dynamischen Systeme, der Gruppentheorie und der Wahrscheinlichkeitstheorie das Maß der verwendeten Mengen eine Rolle: Die Position einer Menge in der Hierarchie bestimmt, welche Werkzeuge zur Lösung eines Problems nötig sind.
Deskriptive Mengentheoretiker sind also wie Bibliothekare, die ein riesiges Bücherregal mit verschiedenen unendlichen Mengen sortieren. Ihre Aufgabe ist es, für jedes Problem zu bestimmen, wie kompliziert die dazugehörige Menge ist, und diese in das richtige Regal einzuräumen, damit andere Fachleute darauf aufbauend weiterarbeiten können.
Bibliothekare schaffen Ordnung in den Mengen
Bernshteyn gehört zu jenen Bibliothekaren, die Probleme mit unendlichen Netzwerken sortieren, sogenannten Graphen. Diese bestehen aus Punkten, die durch Kanten verbunden sind. Insbesondere untersucht er Graphen aus unendlich vielen separaten Teilgraphen, von denen jeder unendlich viele Punkte enthält. Das an sich ist schon ungewöhnlich – denn in der Graphentheorie geht es meist um endliche Netzwerke. Unendliche Graphen können jedoch dynamische Systeme und wichtige Arten von Mengen darstellen.
Um die Art von unendlichen Graphen zu veranschaulichen, die Bernshteyn und seine Kollegen untersuchen, hilft folgendes Beispiel. Stellen Sie sich einen Kreis vor und wählen Sie einen Punkt darauf aus. Das ist der erste Knoten. Bewegen Sie sich dann um eine bestimmte Strecke entlang des Kreisumfangs – so landen Sie beim zweiten Knotenpunkt. Nun verbinden Sie diese beiden Punkte durch eine Kante und bewegen sich anschließend um die gleiche Strecke zu einem dritten Knoten weiter, den Sie mit dem vorherigen verbinden, und so weiter.
Wenn Sie sich jedes Mal um ein Fünftel des Kreisumfangs bewegen, brauchen Sie fünf Schritte, bis Sie wieder am Ausgangspunkt landen. Wenn die gewählte Entfernung jedoch einem irrationalen Faktor entspricht, wird der Prozess ewig weitergehen: Sie erhalten eine unendliche Anzahl von miteinander verbundenen Punkten.
Aber das ist noch nicht alles. Diese unendlich lange Folge bildet nur den ersten Teil des Graphen. Denn auch wenn er unendlich viele Knoten enthält, umfasst er nicht alle Punkte des Kreises. Um die anderen Teile des Kreises abzudecken, müssen Sie an einem der übergangenen Punkte erneut den Vorgang starten. Bewegen Sie sich bei jedem Schritt um die gleiche Strecke wie zuvor. Am Ende entsteht eine zweite unendliche Folge von miteinander verbundenen Punkten, die von der ersten völlig unabhängig ist.
Indem Sie das für jeden möglichen Startpunkt auf dem Kreis wiederholen, erhalten Sie einen Graphen, der aus unendlich vielen einzelnen Netzwerken besteht – und jedes davon umfasst eine unendliche Anzahl an Punkten.
Mathematikerinnen und Mathematiker gehen verschiedensten Fragen zu diesen unendlichen Graphen nach. Zum Beispiel, ob sich die Punkte so einfärben lassen, dass sie bestimmten Regeln gehorchen. Kann man etwa mit nur zwei Farben den Graphen so kolorieren, dass keine zwei verbundenen Punkte gleichfarbig sind?
Die Lösung scheint einfach: Man nimmt sich den ersten Teil des Graphen vor, wählt einen Punkt und färbt ihn blau. Die restlichen Knoten werden dann abwechselnd gefärbt: gelb, blau, gelb, blau und so weiter. Dasselbe wiederholt man für jedes Teilstück des Graphen. Man wählt einen Knoten, färbt ihn blau und wechselt dann die Farben. Zwei Farben genügen also, um die Aufgabe zu erfüllen.
Bei genauerer Betrachtung führt das jedoch zu einem Problem. Denn in diesem Fall hat man jeden Punkt separat eingefärbt, ohne zu verstehen, wie sie zueinander in Beziehung stehen, wenn sie aus verschiedenen Teilen des Graphen stammen. Das bedeutet: Sie können weder die Menge aller blauen Punkte noch die Menge aller gelben Knoten in Bezug auf ein Maß (etwa die Länge) beschreiben. Damit sind die derart konstruierten Mengen nicht messbar.
Grund dafür ist eine Annahme, die man – vermutlich ohne es zu merken – beim Einfärben getroffen hat: das Auswahlaxiom. Dies ist einer der neun Grundbausteine, auf denen die gesamte Mathematik aufbaut. Es besagt, dass man aus einer Reihe von Mengen stets aus jeder ein Element auswählen kann, um eine neue Menge zu bilden. Das Auswahlaxiom ermöglicht es, alle möglichen interessanten mathematischen Aussagen zu beweisen. Aber es führt auch zu seltsamen Ergebnissen. Deswegen versuchen einige Mengentheoretiker, es in bestimmten Fällen zu vermeiden.
Der zuvor beschriebene Graph hat unendlich viele Teile, die jeweils einer unendlich großen Menge entsprechen. Um den Graphen mit zwei Farben zu kolorieren, haben Sie ein Element aus jeder dieser Mengen ausgewählt – den ersten Punkt, den Sie blau färben. Dabei haben Sie also das Auswahlaxiom benutzt. Und all diese Punkte bilden eine neue Menge, die allerdings nicht messbar ist.
Für viele Fachleute ist das unbefriedigend. Deshalb suchen Mengentheoretiker nach Möglichkeiten, den Graphen ohne Auswahlaxiom einzufärben und so eine messbare Menge zu erzeugen.
Wie man eine messbare Menge erzeugt
Dafür kann man ähnlich starten wie zuvor. Man wählt einen Punkt auf dem Kreis aus, der mit einem zweiten, etwas weiter entfernten Punkt verbunden ist. Der erste Punkt wird nun wieder blau gefärbt, der zweite gelb – und der gesamte Kreisbogen zwischen beiden Punkten wird blau. In ähnlicher Weise färbt man den Bogen zwischen dem zweiten und dem dritten Knotenpunkt gelb. Und so weiter.
Wenn man auf diese Weise den Kreis fast vollständig umrundet, bleibt nur ein kleines Segment übrig, das noch keine Farbe hat. Angenommen, der letzte Bogen, den Sie gefärbt haben, war gelb. Wie färben Sie dann dieses letzte, kleinere Segment? Blau geht nicht, weil diese Punkte mit den Punkten des ursprünglich blau gefärbten Bogens verbunden werden. Sie können aber auch nicht Gelb verwenden, weil sie mit den gelben Punkten des vorherigen Bogens verbunden sind. Sie müssen also eine dritte Farbe verwenden, zum Beispiel Grün.
Die Mengen der blauen, gelben und grünen Knoten sind nun Teile des Kreisumfangs – und somit messbar. Man kann problemlos ihre jeweilige Länge bestimmen. Die willkürlich verstreuten Punkte, die mit dem Auswahlaxiom konstruiert wurden, sind somit verschwunden.
Die beiden Arten von gefärbten Graphen nehmen daher unterschiedliche Plätze im Hierarchie-Regal ein: Die zweifarbige Version des Problems fällt in das unterste Fach (für nicht messbare Mengen), während das dreifarbige Problem viel weiter oben einsortiert wird, wo sich viele Begriffe der Maßtheorie anwenden lassen.
Bernshteyn untersuchte während seiner Doktorarbeit zahlreiche verschiedene Färbungsprobleme und konnte eines nach dem anderen einordnen. Doch dann, kurz nach seinem Abschluss, stieß er auf eine Möglichkeit, sie alle auf einmal einzusortieren – und zu zeigen, dass diese Probleme eine viel tiefgründigere Struktur haben als erwartet.
Eine ungeahnte Verbindung
Bernshteyn besucht gerne Informatikvorträge. Hier sind Graphen stets endlich und stehen meist für Netzwerke aus Computern. Einer dieser Vorträge veränderte im Jahr 2019 den Verlauf seiner Karriere. Er handelte von »verteilten Algorithmen«: Sätzen von Anweisungen, die gleichzeitig auf mehreren Computern in einem Netzwerk ausgeführt werden, um eine Aufgabe ohne zentralen Koordinator zu erfüllen.
Verteilte Algorithmen braucht man zum Beispiel, um mehrere WLAN-Router in einem Gebäude zu koordinieren. Nahe gelegene Router können sich gegenseitig stören, wenn sie dieselbe Kommunikationsfrequenz verwenden. Daher muss jeder Router einen anderen Kanal wählen als seine unmittelbaren Nachbarn. Informatiker modellieren diese Aufgabe als Färbungsproblem von Graphen: Jeder Router entspricht einem Punkt; benachbarte Router werden durch Kanten verbunden. Nun gilt es herauszufinden, ob sich die Punkte mit nur zwei Farben (also zwei Frequenzkanälen) so einfärben lassen, dass keine zwei verbundenen Punkte die gleiche Farbe haben.
Die Frage mag einfach klingen, aber es gibt einen Haken: Die Knoten können bloß mit ihren unmittelbaren Nachbarn über lokale Algorithmen (daher der Name) kommunizieren. Zunächst führt jeder Punkt denselben Algorithmus aus und weist sich eine Farbe zu. Dann kommuniziert er mit seinen Nachbarn, um zu erfahren, wie andere Punkte um ihn herum gefärbt sind. Dann wird der Algorithmus erneut ausgeführt, um zu entscheiden, ob der betreffende Punkt seine Farbe behält oder sie wechselt. Das wird so lange wiederholt, bis das gesamte Netz die korrekte Farbgebung aufweist.
Informatiker möchten herausfinden, wie viele Schritte ein bestimmter Algorithmus dafür durchlaufen muss. Zum Beispiel ist jeder lokale Algorithmus, der das Routerproblem mit nur zwei Farben lösen kann, extrem ineffizient. Es ist jedoch möglich, einen effizienten lokalen Algorithmus zu finden, wenn man drei Farben (oder Kanäle) verwenden darf.
In dem Vortrag, den Bernshteyn hörte, diskutierte der Redner die Schwellenwerte für verschiedene Arten von Problemen. Einer dieser Werte erinnerte den Mathematiker an ein Ergebnis aus der deskriptiven Mengenlehre: Der genannte Schwellenwert entsprach der Anzahl der erforderlichen Farben, um bestimmte unendliche Graphen auf messbare Weise zu färben.
Für Bernshteyn war das mehr als ein Zufall. Nicht nur, dass Informatiker wie die Mengentheoretiker-Bibliothekare ihre Probleme danach ordnen, wie effizient ihre Algorithmen arbeiten. Es schien, als hätten die Bücherregale aus beiden Welten noch mehr Gemeinsamkeiten. Vielleicht ging die Verbindung zwischen den zwei Fachbereichen viel weiter. Womöglich waren die Bücher und ihre Regale identisch – bloß in verschiedenen Sprachen formuliert. Es bedurfte eines Übersetzers.
Wie man unendlich viele Punkte kennzeichnet
Bernshteyn wollte fortan beweisen, dass sich jeder effiziente lokale Algorithmus in eine Lebesgue-messbare Färbungsmethode eines unendlichen Graphen umwandeln lässt. Damit wäre eines der wichtigsten Regale der Informatik äquivalent zu einem bedeutenden Regal der Mengenlehre.
Der Mathematiker konzentrierte sich zunächst auf jene Netzwerkprobleme, die im Vortrag vorgestellt wurden. Das heißt solche, bei denen der Algorithmus eines beliebigen Punkts lediglich Informationen über seine lokale Nachbarschaft nutzt – unabhängig davon, ob der gesamte Graph aus Tausenden oder Milliarden von Punkten besteht.
Damit der Algorithmus ordnungsgemäß funktioniert, muss er jeden Punkt in einer bestimmten Umgebung mit einer eindeutigen Nummer versehen. So lassen sich Informationen über nahe gelegene Punkte protokollieren und Anweisungen zu ihnen schicken. In einem endlichen Graphen ist das leicht zu bewerkstelligen, man muss dessen Punkte einfach nur durchnummerieren.
Wenn Bernshteyn denselben Algorithmus auf einem unendlichen Graphen ausführen könnte, dann wäre er in der Lage, ihn auf messbare Weise einzufärben. Damit hätte er eine Lösung für das mengentheoretische Färbeproblem gefunden. Allerdings enthalten die Graphen von Bernshteyn überabzählbar unendlich viele Punkte – eine Unendlichkeit, welche die Menge der natürlichen Zahlen übersteigt. Und somit gibt es keine Möglichkeit, alle Punkte zu nummerieren.
Bernshteyns Herausforderung bestand also darin, einen clevereren Weg zu finden, die Punkte im Graphen zu kennzeichnen.
»Es ist eine sehr interessante Erfahrung, Ergebnisse in einem Bereich zu beweisen, in dem ich nicht einmal die grundlegenden Definitionen verstehe«Václav Rozhoň, Informatiker
Er wusste, dass er die genutzten Beschriftungen wiederverwenden musste. Das ist in Ordnung, solange nahe gelegene Punkte unterschiedlich gekennzeichnet sind. Bernshteyn suchte also eine Möglichkeit, den Punkten wiederkehrende Zahlen zuzuweisen, ohne dass sie in der gleichen Umgebung doppelt vorkommen.
Wie Bernshteyn zeigte, gibt es immer einen Weg, das zu tun – unabhängig davon, wie viele unterschiedliche Zahlen man verwenden möchte und aus wie vielen Punkten die lokale Nachbarschaft besteht. Das heißt, ein lokaler Algorithmus lässt sich stets von dem Bereich der Informatik in die Mengenlehre übersetzen. »Jeder Algorithmus in unserem System entspricht einer Möglichkeit, einen unendlichen Graphen messbar einzufärben«, so Rozhoň.
Der Beweis überraschte die Mathematik-Community. Denn er zeigt eine tiefgreifende Verbindung zwischen Algorithmen und messbaren Mengen, die niemand erwartet hatte. Mengentheoretiker untersuchen nun, wie sie Bernshteyns Ergebnis nutzen können. In einer 2025 veröffentlichten Arbeit haben Rozhoň und seine Kollegen beispielsweise herausgefunden, dass man spezielle Graphen, sogenannte Bäume, messbar färben kann, wenn man das Problem im Kontext der Informatik betrachtet. Damit haben sie auch offengelegt, welche mathematischen Werkzeuge nötig sind, um die zu den Bäumen gehörigen dynamischen Systeme zu untersuchen. »Es ist eine sehr interessante Erfahrung, zu versuchen, Ergebnisse in einem Bereich zu beweisen, in dem ich nicht einmal die grundlegenden Definitionen verstehe«, sagt Rozhoň.
Mathematikerinnen und Mathematiker versuchen auch, Probleme in die andere Richtung zu übersetzen: In einem Fall nutzten sie die Mengenlehre, um abzuschätzen, wie schwer es ist, eine bestimmte Klasse von Problemen zu lösen.
»Ich möchte, dass sich die Leute daran gewöhnen, über Unendlichkeiten nachzudenken«Anton Bernshteyn, Mathematiker
Bei Bernshteyns Brücke geht es nicht nur darum, neue Werkzeuge für die Lösung einzelner Probleme zu haben. Die Verbindung ermöglicht es Mengentheoretikern auch, einen klareren Blick auf ihr eigenes Forschungsgebiet zu bekommen. Es gab viele Probleme, die sich nicht in die Hierarchien einordnen ließen. Das hat sich jetzt in vielen Fällen geändert – dank des bibliothekarischen Regelwerks der Informatik.
Bernshteyn hofft, dass solche Erkenntnisse den Ruf der Mengenlehre verändern. Dann würde diese nicht länger als realitätsfremd und völlig abstrakt gelten: »Ich möchte, dass sich die Leute daran gewöhnen, über Unendlichkeiten nachzudenken.«
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.