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Biodiversitätskonferenz COP15: Das beinah perfekte Naturschutzabkommen

Im kanadischen Montreal wird am Dienstagabend die 15. Biodiversitätskonferenz eröffnet. Im Mittelpunkt der Gespräche steht das Ziel, 30 Prozent der Land- und Meeresfläche unter Schutz zu stellen. Regierungen, Umweltverbände und die Wissenschaft unterstützen das Vorhaben – doch der Teufel steckt im Detail.
Bunte Fische schwimmen an einem Korallenriff im Roten Meer in Ägypten
Weltweit nimmt die Biodiversität ab. Betroffen vom Artensterben sind auch die Korallenriffe in den Ozeanen. Sie würden ebenfalls von dem geplanten Naturschutzabkommen profitieren, bei dem 30 Prozent der Land- und Meeresflächen unter Schutz gestellt werden sollen.

Ein Leben im Einklang mit der Natur – das ist die offizielle Vision des 2010 im japanischen Nagoya beschlossenen Übereinkommens der biologischen Vielfalt (Convention on Biological Diversity, kurz CBD). Bis 2050 soll dieses Szenario Wirklichkeit werden. Noch geht die Entwicklung aber in eine völlig andere Richtung: Weltweit nimmt die Artenvielfalt dramatisch ab. Damit sich das bald ändert, hofft man beim 15. Biodiversitätskongress der Vereinten Nationen (COP15), der am Abend des 6. Dezember 2022 eröffnet wird, auf ein neues weltweites Naturschutzabkommen. Im kanadischen Montreal soll unter anderem vereinbart werden, dass künftig 30 Prozent der Land- und der Meeresfläche auf der Erde bis zum Jahr 2030 unter Schutz stehen. Im Kampf gegen das sechste große Massenaussterben wird diesem 30x30-Ziel eine ähnliche Bedeutung zugeschrieben wie dem 2015 in Paris ausgerufenen historischen Klimaziel, die Erderwärmung auf möglichst 1,5 Grad zu begrenzen.

Entsprechend wurde für kein anderes der 22 einzelnen Ziele im Entwurf des neuen Abkommens mehr Lobbyarbeit geleistet als für 30x30. Deutlich mehr als 100 Staaten der Erde haben sich einer von Frankreich und Costa Rica ausgerufenen »Koalition der Hochambitionierten für Natur und Menschen« angeschlossen, um das 30-Prozent-Ziel in einem Abkommen zu verankern. Von den USA bis Burkina Faso, von Sri Lanka bis Norwegen haben sich Regierungen diesem Ziel verschrieben – einige haben seine Annahme sogar als rote Linie für ihre Zustimmung zu einem Abkommen insgesamt erklärt.

Denn bei den Verhandlungen wird nicht einzeln über die Ziele abgestimmt, sondern die Entscheidung fällt am Schluss im Paket. Es gilt das Konsensprinzip. Kommt ein neues Weltnaturabkommen zu Stande, wird das 30-Prozent-Ziel mit Sicherheit darin enthalten sein. Die große Frage ist aller Voraussicht nach also nicht, ob künftig fast ein Drittel der Natur auf dem Planeten gesetzlich geschützt wird, sondern, wie effektiv dieser Schutz ausfällt. Denn ob das 30-Prozent-Ziel den Erwartungen gerecht werden kann, liegt entscheidend an seiner konkreten Ausgestaltung.

Ist das 30-Prozent-Ziel genug?

»30x30 allein löst die Biodiversitätskrise nicht, aber es würde den Artenschutz enorm voranbringen und gleichzeitig noch einen großen Beitrag zum Klimaschutz leisten«, sagt Georg Schwede, der Europachef des Bündnisses Campaign for Nature. Seine Organisation hat in den vergangenen Monaten hinter den Kulissen bei Regierungen und in Institutionen weltweit für die Aufnahme des 30-Prozent-Ziels geworben. »Wenn 30x30 effektiv wirksam und in den strategisch richtig ausgewählten Gebieten mit viel Biodiversität umgesetzt wird, kann es ein ganz großer Wurf werden – aber nur dann«, sagt Schwede.

»30x30 allein löst die Biodiversitätskrise nicht, aber es würde den Artenschutz enorm voranbringen und gleichzeitig noch einen großen Beitrag zum Klimaschutz leisten«Georg Schwede, Europachef des Bündnisses Campaign for Nature

Einige wissenschaftliche Untersuchungen kommen zu dem Schluss, dass 70 Prozent aller heute bedrohten Tier- und Pflanzenarten vor dem Aussterben bewahrt werden könnten, stellte man die besonders artenreichen Gebiete unter einen großflächigen Schutz. Auch der Klimaschutz würde von einem großen Schutzgebietsnetz profitieren. Berechnungen zufolge könnten Ökosysteme in dieser Größenordnung rund 500 Gigatonnen Kohlendioxid speichern – das entspricht dem 100-Fachen des jährlichen Ausstoßes der USA.

Etliche Forschende sehen die 30 Prozent Flächenschutz allerdings als Untergrenze oder sogar als zu wenig an, um die größte Aussterbewelle in der Geschichte der Menschheit zu stoppen. In der wissenschaftlichen Literatur fänden sich Forderungen nach einem Schutz von mindestens 30 Prozent bis über 70 Prozent der Land- und Meeresfläche der Erde, schreibt Stephen Woodley, führender Schutzgebietsexperte bei der Internationalen Naturschutzunion IUCN. Daher sei ein 50-Prozent-Schutz der Erde ein Mittelwert, der in der Forschung viel Unterstützung erhalte.

Die Berater der französischen Regierung teilen diese Einschätzung. In einer Analyse für das Pariser Außenministerium kommen die Experten des Biodiversitäts-Forschungsinstituts FRB zu der Bewertung, dass 30 Prozent »eindeutig ein Mindestziel« sein müsste. Sie schlagen ihrer Regierung vor, in den Verhandlungen auf einen Zusatz zu dringen »mindestens 30 Prozent und langfristig 50 Prozent des Planeten unter Schutz zu stellen«. Zumindest müsse aber darauf hingewiesen werden, »dass es sich um ein Zwischenziel handelt, das auf ein ehrgeizigeres Ziel hinweist, das für das mittel- oder langfristige Überleben der Menschheit unerlässlich ist«.

Was bedeutet Schutzgebiet?

Ein über 30 Prozent hinausgehender Schutz ließe sich politisch nicht durchsetzen, räumen auch Naturschützer ein. Schon der angestrebte Flächenanteil entspräche weltweit etwa einer Verdopplung der Schutzfläche an Land und einer Vervierfachung im Meer gegenüber dem heutigen Stand. Statt in den Verhandlungen auf einen noch größeren geschützten Anteil zu drängen, halten es Naturschützer und Regierungsunterhändler deshalb für wichtiger, im Abkommen klare Kritierien für Schutzgebiete zu verankern. Diese müssten sicherstellen, dass in den Schutzgebieten wirklich die Biodiversität Vorrang vor allen anderen Interessen hat. Zudem müssten die geschützten Regionen wirklich die artenreichsten Lebensräume und Erdregionen umfassen, und darüber hinaus müsste ausreichend Geld zur Verfügung gestellt werden, um einen wirksamen Schutz zu garantieren. Wissenschaftler haben zum Beispiel errechnet, dass für eine Unterschutzstellung von 30 Prozent der Erdoberfläche insgesamt mehr als 1,5 Millionen Ranger nötig sind. Derzeit sind es weniger als 300 000. Im bisherigen Entwurf für das Abkommen findet sich jedoch bezüglich der Kriterien und deren Umsetzung nur wenig Konkretes.

In das 30-Prozent-Netz möchte man vor allem Gebiete mit »besonderer Bedeutung für die biologische Vielfalt« einbeziehen. Sie sollen zudem »ökologisch repräsentativ und gut vernetzt« sein. Bedenklich ist in diesem Zusammenhang, dass eine Formulierung, die einen strengen Schutz für zehn Prozent innerhalb der 30x30-Gebiete vorgesehen hat, mittlerweile aus dem Vertragsentwurf geflogen ist. Hineingekommen ist dagegen ein scheinbar harmloser Begriff, der Naturschützer alarmiert – nämlich »nachhaltige Nutzung«. »Das erschwert die Ausweisung nutzungsfreier Gebiete und öffnet naturschädlichen Aktivitäten im Sektor der Hochseefischerei und dem Tiefseebergbau Tür und Tor«, kritisiert Jannes Stoppel von Greenpeace. Auch für Bundesumweltministerin Steffi Lemke von den Grünen ist damit klar, dass Schutzgebiete auch künftig nicht frei von menschlicher Aktivität sein müssen. Es gelte nun in Montreal »Greenwashing und Paperparks« zu verhindern, also Pseudoschutzgebiete, die nur auf dem Papier stehen und keinen Schutzzweck erfüllen.

Paperparks in Deutschland

Die langjährige Naturschutzpolitikerin Lemke weiß, dass sich auch vor ihrer eigenen Haustüre solche »Paperparks« finden. Einer davon ist die Küste unseres Landes. Die deutsche Nord- und Ostsee müsste eigentlich auf dem Weg zum ökologischen Vorzeigegebiet sein. Das Gegenteil ist der Fall. »Wir sind ein Paradebeispiel dafür, dass 30x30-Prozent-Schutz allein nicht hilft«, sagt Kim Detloff, der beim NABU den Bereich Meeresschutz leitet. Das 30x30-Ziel wird an den beiden deutschen Küsten übererfüllt – 45 Prozent der deutschen Meeresgewässer von Nord- und Ostsee sind Teil des europäischen Naturschutznetzwerks Natura 2000. »Der Flächenschutz ist da und trotzdem geht es unserer Natur schlecht«, stellt Detloff fest.

Das lässt sich beispielsweise an den Umweltzielen der Meeresstrategierahmenrichtlinie ablesen, die sämtlich gerissen wurden. Ein besonders eklatantes Beispiel für die Unwirksamkeit des Schutzes ist der Schweinswal. Dessen Population in der deutschen Nordsee hat sich in den letzten 20 Jahren halbiert. Dabei ist der bis zu 1,80 Meter lange Meeressäuger nicht irgendein Bewohner an der deutschen Küste. Er ist eine »Flaggschiffart«, an deren Bedürfnissen das Schutzgebietskonzept ausgerichtet wurde.

Die Lage an den Küsten ist derart desolat, dass gegen Deutschland sogar ein Vertragsverletzungsverfahren der Europäischen Kommission wegen unzureichender Umsetzung von Natura 2000 läuft. Der Grund für die verheerende Bilanz liegt auf der Hand. »In den Schutzgebieten gelten so gut wie keine Beschränkungen, mit Ausnahme des Anlagenbaus ist alles erlaubt«, sagt Detloff. Sprich: Man darf zum Beispiel keine Bohrplattformen oder Windkraftanlagen bauen, aber für Fischerei oder Schifffahrt gibt es bislang noch keine Einschränkungen.

Lemke kennt die Situation vor Ort gut. Sie hat mit dafür gesorgt, dass im Koalitionsvertrag festgeschrieben wurde, zehn Prozent der deutschen AWZ – der 200 Seemeilenzone vor der Küste – künftig von schädlicher Nutzung frei zu halten. »Das ist ein wichtiges Signal, das zeigt, dass die Naturschutzpolitik nun hoffentlich ernst genommen wird«, sagt Detloff, der den Zustand der deutschen Küsten als mahnendes Beispiel für die Verhandlungen in Kanada sieht: »Unsere Situation zeigt, dass es um die Qualität der Schutzgebiete geht.«

Artenvielfalt gibt es bereits in vielen Regionen nicht mehr

Im globalen Maßstab entscheiden aber weniger die reichen Länder des Nordens über den Erhalt der Biodiversität. Sie sind nach Jahrhunderten der industriellen und agrarindustriellen Ausbeutung ökologisch stark verarmt. 80 Prozent der weltweiten Biodiversität finden sich heute auf nur 20 Prozent der Fläche des Planeten – meist in den tropischen Regionen. Dort sind es vor allem die indigenen Gemeinschaften, die die Natur nutzen und mit ihr leben. Für den Erfolg eines globalen Naturschutzes wird es daher als zentral erachtet, ihre Interessen zu berücksichtigen und ihre Rolle als »Hüter der Natur« anzuerkennen und zu stärken.

Die von indigenen Gemeinschaften bewohnten Gebiete wie der Amazonas-Regenwald oder die verbliebenen intakten Wälder Papua-Neuguineas oder Indonesiens werden zu mehr als 30 Prozent geschützt werden müssen, um ihre ökologische Funktionsfähigkeit und ihre Biodiversität zu erhalten. Der Amazonas-Regenwald beispielsweise wäre bei einem 30-prozentigen Schutz verloren. »Er wäre nicht mehr in der Lage, sein Klima selbst zu regulieren und würde sich in einen Trockenwald umwandeln. Zur Klimaregulierung braucht er 60 bis 80 Prozent seiner Fläche«, sagt Hans Otto Pörtner vom Weltklimarat IPCC. Auch die indigenen Völker des Amazonas fordern ein Abkommen, das 80 Prozent des Amazonas schützt.

Es braucht mehr als nur 30x30

Selbst wenn das 30-Prozent-Ziel mit wirkungsvollen Detailregelungen versehen wird und in Partnerschaft mit den Hauptbetroffenen umgesetzt wird, dürfte es nicht ausreichen, um das Ziel des Abkommens zu erreichen, den Verlust von Arten und Lebensräumen in den nächsten Jahrzehnten zu stoppen und die Entwicklung umzukehren. »Wir müssen im Gesamtpaket der Ziele alle Treiber des Biodiversitätsverlustes adressieren«, sagt die Leiterin der deutschen Verhandlungsdelegation in Montreal, Inka Gnittke. »Wenn es in nur einem Bereich eine zu große Lücke gibt, hilft uns das insgesamt nicht weiter.« Neben dem 30x30-Ziel gehöre daher die Bestrebung, 20 Prozent der geschädigten Ökosysteme in den nächsten Jahren zu renaturieren, zu den Kernforderungen, mit denen Deutschland in die Verhandlungen gehe, betont Gnittke. Auch das Ziel, die Belastung der Umwelt mit Plastik, Pestiziden, Schadstoffen und Düngern deutlich zu verringern, sei wichtig. Rote Linien will Gnittke nicht ziehen: »Aber klar ist, dass wir als Europäische Union insgesamt mit einem ambitionierten Ergebnis aus den Verhandlungen kommen müssen«, sagt sie.

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