Corona: Ist ein Virusreservoir der Schlüssel zur Behandlung von Long Covid?

Millionen Menschen weltweit leiden an Langzeitschäden nach einer Corona-Infektion. Doch bisher gibt es keine wirkungsvollen Therapien gegen Long Covid. Nach Zahlen der US-amerikanischen Centers for Disease Control and Prevention sind rund sechs Prozent der US-Bürger, die eine akute Infektion mit Sars-CoV-2 hinter sich haben, von chronischen Folgen betroffen. Ähnliche Häufigkeiten finden Studien weltweit.
Warum manche Menschen nach einer Corona-Infektion an Long Covid erkranken, hat sicherlich verschiedene Gründe. Die Fachwelt diskutiert mehrere Ursachen für die vielfältigen Symptome: Es finden sich Anzeichen für anhaltend entgleiste Reaktionen der Immunabwehr und für durch die Infektion ausgelöste autoaggressive Prozesse, bei denen das Immunsystem den eigenen Körper angreift.
Außerdem gibt es Hinweise auf eine andauernde Präsenz von Sars-CoV-2 in Form eines Virusreservoirs im Körper. Das sind entweder vermehrungsfähige Coronaviren oder Teile davon, also RNA oder Virusproteine, die sich dauerhaft im Körper »versteckt« haben. Ihre Anwesenheit soll nach dieser Theorie mitverantwortlich sein für die anhaltenden, zum Teil schweren Symptome.
Renommierte Long-Covid-Experten wie Petter Brodin (Karolinska-Institut in Stockholm) und Akiko Iwasaki (Yale University, New Haven) haben jetzt in »The Lancet Infectious Diseases« zusammengetragen, was über ein mögliches Coronavirus-Reservoir bekannt ist, wie man dagegen medikamentös vorgehen könnte und welche Studien weltweit bereits laufen, um Long-Covid-Patienten behandeln zu können.
Eine interessante Hypothese mit vielen Fragezeichen
Normalerweise ist es bei Atemwegserregern so: Viren wie Influenza oder Sars-CoV-2 erobern den Körper über die Schleimhäute in den Atemwegen und lösen akute Symptome aus. Nach einigen Tagen und spätestens Wochen verschwinden sie wieder, wenn das Immunsystem die Vermehrung der Viren im Körper gestoppt und die Überreste beseitigt hat.
Einige Untersuchungen sprechen jedoch dafür, dass dies der Immunabwehr beim Coronavirus nicht immer perfekt gelingt. Mehrere internationale Teams konnten Proteine oder auch Proteinbestandteile von Sars-CoV-2 zum Beispiel im Darm oder im Knochenmark oder bis zu 14 Monate nach der akuten Infektion im Blut von Testpersonen nachweisen. Möglicherweise stammen diese Virusbestandteile aus einem Reservoir im Körper, wo die virale RNA zumindest in geringem Umfang immer noch in Virusproteine umgeschrieben wird.
Der Nachweis einer solchen »Viruspersistenz« gelingt auch bei etwa einer von fünf Personen, die nicht unter Long Covid leiden. Dennoch mehrten sich die Hinweise, so die Fachleute in »The Lancet Infectious Diseases«, dass es eine Verbindung zwischen der andauernden Gegenwart des Virus – beziehungsweise seiner Bestandteile – und Long Covid gibt.
»Die Daten sind nach wie vor nicht überzeugend und auch nicht so reproduziert«Winfried Kern, Infektiologe
In einer Studie der US-amerikanischen National Institutes of Health (NIH) beispielsweise fanden die Forschenden bei Patientinnen und Patienten mit Long-Covid-Symptomen Monate nach der akuten Infektion rund doppelt so häufig Bestandteile des Coronavirus im Blut wie bei Teilnehmenden, die zwar eine Corona-Infektion hinter sich hatten, aber nicht unter langfristigen Beschwerden litten.
Die Hypothese sei sehr interessant und es gebe auch einzelne Hinweise auf eine Viruspersistenz sowie einen möglichen Zusammenhang mit Long Covid, sagt Winfried Kern, Infektiologe vom Universitätsklinikum Freiburg. »Aber die Daten sind nach wie vor nicht überzeugend und auch nicht so reproduziert.« Wenn überhaupt, dann sei womöglich eine Untergruppe der Long-Covid-Patienten betroffen, sicherlich nicht die Mehrheit. Und selbst wenn es gelänge, das Virusreservoir ausfindig zu machen und medikamentös zu beseitigen, werde das nicht der große Forschungsdurchbruch sein, zeigt sich Kern kritisch.
Warum sich das Virus im Körper halten könnte
Je schwerer die ursprüngliche Covid-19-Erkrankung war, desto wahrscheinlicher zirkulieren Virusbestandteile noch lange im Körper. Bei Menschen, die an Covid-19 starben, fanden Forschende bei der Autopsie bis zu 230 Tage nach Beginn der Erkrankung Proteine oder RNA von Sars-CoV-2 in dutzenden Geweben, inklusive Gehirn, Nerven und Augen.
Die Augen und das Gehirn gehören – wie etwa auch die Hoden – zu den so genannten immunprivilegierten Regionen des Körpers: Weil überbordende Aktivitäten der körpereigenen Abwehr diese Organe zu sehr schädigen würden, sind sie gegenüber Krankheitserregern, aber auch gegenüber Immunzellen besonders stark abgeriegelt – im Fall des Gehirns über die Blut-Hirn-Schranke. Warum es dem Immunsystem nicht gelingt, das Virus komplett zu beseitigen, könnte damit zusammenhängen. Aber auch mit einer dauerhaften oder vorübergehenden Immunschwäche des Infizierten oder dem Vermögen von Sars-CoV-2, sich aktiv der Immunabwehr zu entziehen.
Ulf Dittmer, Virologe am Universitätsklinikum Essen, hält es für ziemlich wahrscheinlich, dass das Coronavirus über Monate, wenn nicht gar Jahre im Organismus mancher infizierten Personen überdauern kann. »Sars-CoV-2 kann eine Vielzahl verschiedener Zelltypen infizieren«, sagt Dittmer. Darin unterscheide sich das Coronavirus von anderen respiratorischen Viren, die nicht so viele verschiedene Zellarten infizieren können.
Herausforderungen für klinische Studien zu Long Covid
Ob es tatsächlich ein Virusreservoir gibt, ist nicht gesichert, auch wenn einiges dafür spricht. Unklar ist ebenso, wie man sich dieses Virusversteck vorzustellen hat: Überdauert allein die RNA des Virus und werden vereinzelt Proteine daraus abgelesen, oder verbleiben komplette Viruspartikel – oder nichts von beidem? Halten sich irgendwo im Körper vermehrungsfähige Viren auf, die hin und wieder ein paar Vermehrungszyklen hinlegen oder die sich permanent auf niedrigem Niveau vermehren?
Trotz der vielen Unsicherheiten laufen aktuell schon klinische Studien, die auf das Virusreservoir abzielen, zahlreiche weitere sind in Planung. Zum Einsatz kommen dabei entweder antivirale Medikamente, die eine Vermehrung des Coronavirus hemmen, oder monoklonale Antikörper, die einzelne Virusbestandteile erkennen und blockieren. Zudem sind Therapieformen geplant, die das Immunsystem mit Hilfe von therapeutischen Impfungen oder immunologischen Botenstoffen antreiben wollen, auch die letzten Reste des Virus zu beseitigen.
Die bereits laufenden oder geplanten klinischen Studien stehen dabei vor diversen Herausforderungen. Wie will man etwa überprüfen, ob das Virusreservoir infolge der Therapie tatsächlich ausgeräumt ist? Dazu müsste man wissen, wo es genau lokalisiert ist. Oder zumindest Biomarker zur Verfügung haben, die die Existenz eines Reservoirs anzeigen. Doch Gewebeproben zu nehmen, ist ein invasiver Eingriff – teuer, technisch herausfordernd und in einigen Organen wie Herz oder Gehirn nicht durchführbar. Die Entwicklung von Tests zum Nachweis der Corona-Persistenz gehöre jetzt zu den vorrangigen Zielen, schreiben Akiko Iwasaki und seine Kollegen in ihrer aktuellen Arbeit.
»Die Schäden im Gewebe lassen sich kaum wieder reparieren«Winfried Kern, Infektiologe
Offen ist auch: Wann und wie lange sollte eine Therapie erfolgen? Eine bereits abgeschlossene Studie, bei der 155 Long-Covid-Betroffene zwei Wochen lang mit den antiviralen Wirkstoffen Nirmatrelvir und Ritonavir (Paxlovid) behandelt wurden, erzielte jedenfalls keinen Effekt. Eine gerade laufende Studie testet eine solche Behandlung über 25 Tage, aber selbst das wird womöglich nicht ausreichen.
Anhalt bieten Strategien zur Bekämpfung anderer persistierender Viren, wie etwa des Hepatitis-C-Virus, mit antiviralen Medikamenten. Um sämtliche Viren aus dem Körper zu vertreiben, braucht es hier eine Behandlungsdauer von acht bis zwölf Wochen. Die Medikamente gegen das Coronavirus sind für die (kurze) Behandlung einer akuten Infektion zugelassen. Welche gesundheitlichen Auswirkungen sie haben, wenn sie wochenlang zum Einsatz kommen, ist unklar.
Die offene Frage nach dem richtigen Zeitpunkt der Behandlung führt auch Winfried Kern ins Feld: Möglicherweise hielten sich die Coronaviren bei manchen Betroffenen drei, vier oder gar fünf Monate im Organismus auf. Doch danach würde das Virus verschwinden. Aber der lange Aufenthalt im Körper hinterlasse Schäden, spürbar in Form der bekannten Long-Covid-Symptome: »Das sind Schäden im Gewebe, die sich kaum wieder reparieren lassen«, erklärt Kern. Wenn man Betroffene nach 18 oder gar 24 Monaten mit antiviralen Medikamenten behandle, könne die Therapie ins Leere laufen: »Einfach, weil gar kein Virus mehr da ist.«
Winfried Kern jedenfalls hat in einer Untersuchung von mehr als 100 Patientinnen und Patienten, die unter Langzeitfolgen nach einer Corona-Infektion leiden, keine Hinweise auf eine fortbestehende Virusinfektion, Viruspersistenz oder Virusproteine oder auf RNA im Blut der Betroffenen gefunden. Gewebeproben seien allerdings nicht genommen worden, so Kern.
Hürden für die wissenschaftliche Klärung
Seine Arbeitsgruppe am Uniklinikum Freiburg verfolgt eine andere Hypothese zur Entstehung von Long Covid: »Unserer Ansicht nach könnten die Symptome auf direkte Schädigungen des Nervensystems durch das Virus zurückgehen oder auf Schäden durch die Auseinandersetzung mit der Körperabwehr.« Das mitbetroffene autonome Nervensystem ist über zahlreiche Regelkreise unter anderem an der Steuerung lebenswichtiger Körperprozesse wie Blutdruck, Stoffwechsel, Verdauung und Atmung beteiligt. »Die Symptome von Long Covid, wie eine eingeschränkte Belastbarkeit, Probleme bei der Regulation von Atmung und Puls, aber auch der Konzentration könnten mit Läsionen im Bereich des Nervensystems zu tun haben, die auch ohne Anwesenheit des Virus fortbestehen«, so Kern.
Doch dem Freiburger Mediziner geht es mit seiner Hypothese ähnlich wie den Verfechtern der Virusreservoir-Idee: »Es ist sehr schwer, das wissenschaftlich einwandfrei zu bestätigen, und nicht einfach, klare Forschungsergebnisse zu erzielen«, räumt Kern ein.
Erschwerend kommt hinzu, dass sich einige pharmazeutische Partner vor einem Engagement im Long-Covid-Bereich scheuen – womöglich aus Sorge vor zu hohen Studienkosten oder einem negativen Image, weil ihre Medikamente keinen Erfolg erzielen könnten. Die Pharmabranche ist offenbar eher bereit, in die Prävention von Long Covid zu investieren. Also in Interventionen, die verhindern helfen sollen, dass sich zum Beispiel ein Virusreservoir bildet oder dass das Nervensystem Schaden nimmt. In verschiedenen Studien sank das Risiko für Long Covid, wenn Menschen mit Medikamenten behandelt wurden, kurz nachdem sie sich angesteckt hatten. Den Millionen bereits Betroffenen weltweit hilft das jedoch nicht.
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